Guten Abend,
ich war überrascht, dass es hier im Forum keine Übersicht über empfehlenswerte Gesamteinspielungen zu Beethovens Symphonien gibt. Lediglich der 1977er Zyklus von Karajan mit den Berlinern, die Steinberg- und Leibowitz-Aufnahmen (bei den Vinyl-Fans in Einzelbesprechungen) und vor 10 Jahren die Thielemann-Alben mit den Wienern (
viewtopic.php?p=22714#p22714) sowie die technisch spektakuläre Rajski-Aufnahme habe ich gefunden.
Andererseits: braucht es heute noch eine weitere Gesamtaufnahme bei hunderten vorhandenen? Ich zumindest höre mir bislang noch jede Neuerscheinung an. So auch die aktuell komplettierte Gesamtaufnahme des 80jährigen katalanischen Gambisten und Dirigenten Jordi Savall. Anfang Juli 2020 erschien Teil 1 der Ausgabe mit den Symphonien 1-5 unter dem Titel "Revolution", jetzt ganz aktuell Teil 2 mit den Symphonien 6-9.
Von dem Untertitel „Revolution“ sollte man sich nicht verleiten lassen zu der Annahme, in dieser Aufnahme eine ebensolche vorzufinden. Das wird wohl kaum noch möglich sein (wenn man keine Extreme wie beispielweise Currentzis sucht) und erscheint mir auch nicht zielführend. Ich halte diesen Spruch für eine reine Marketingmaßnahme.
Savalls Sichtweise auf Beethoven gründet auf seinen ausgiebigen Erfahrungen mit Barockmusik und setzt sich als Ziel,
„den ursprünglichen organischen Klang des Orchesters wiederzufinden, den Beethoven sich vorgestellt hatte, und über den er auf der Grundlage der zu seiner Zeit im Orchester verwendeten Instrumente verfügen konnte“ (wie es im Booklet heißt).
So versucht er mit seinen Musikern die „Original“-Metronomangaben zu verwenden. Das macht Savall für mein Empfinden recht flexibel und nicht so starr wie beispielweise Currentzis oder Immerseel. Gespielt wird auf Instrumenten, die denen zur Beethovenzeit verwendeten entsprechen, und auch die Zahl der Musiker ist ähnlich der bei Beethovens ersten Aufführungen seiner Symphonien (insgesamt 55 bis 66 Musiker, je nach Symphonie). Insoweit nichts wirklich Neues gegenüber der historisch-informierten Aufführungspraxis. Was mir allerdings auffiel, ist das wirklich gute Zusammenspiel der Orchestermusiker, obwohl nur 35 der knapp 60 Instrumentalisten vom Ensemble Le Concert des Nations stammen. Der Rest wurde durch junge Musiker aus der ganzen Welt ergänzt. Das lässt auf intensives Proben schließen – was bei Savall recht häufig der Fall ist.
Auffallend ist weiterhin der schöne Farbreichtum und die ausgeglichene Klangbalance, zurückgenommenes Blech, warmer weicher Holzbläserklang. Dagegen habe ich die Pauke noch nie so präsent, so mittig, so vordergründig gehört wie in Savalls Zyklus – gewöhnungsbedürftig, oft tatsächlich auch sehr spannend.
Die 1. und 2. Symphonie werden mitreißend, agil und in flottem Tempo interpretiert. Recht schöne stimmige Interpretationen, in denen die Pauke sehr präsent aufgenommen ist. Gute Raumabbildung, klare Ortbarkeit der Instrumente.
Auf die "Eroica" war ich sehr gespannt, da Savall diese bereits 1994 (also vor fast 30 Jahren) einmal in einer berühmt-berüchtigten Nachtsession hat aufnehmen lassen – und diese Interpretation mag ich sehr!
Auch die Neuaufnahme der Dritten ist spektakulär, wenn auch nicht mehr ganz so schrill und kantig wie 1994. Der 3. und 4. Satz fallen gegenüber der 1994er-Aufnahme etwas ab (und sind dennoch auf sehr hohem Niveau), während die beiden ersten fulminant daherkommen. Insgesamt ist die 2020er etwas weniger „revolutionär“ als die alte, dafür vielleicht gefälliger, eingängiger. Auf jeden Fall sehr spannend und hörenswert!
Bei der Vierten scheiden sich die Geister. Freunde von mir empfanden sie stellenweise als gute Standardinterpretation, anderen (und auch mir) hingegen hat sie besser gefallen. Keine neuen Erkenntnisse, aber mit einem präsenten Klangbild (Pauke sehr im Vordergrund) und viel Spielfreude vorgetragen. Krivin ist sicherlich "revolutionärer" in seinem Ansatz, Adam Fischer "klangschöner" und Järvi oder auch Antonini spielen "stimmiger". Schön ist sie dennoch.
Bei der Fünften gibt es bereits Dutzende gelungener Einspielungen. Also war ich sehr gespannt, wie Savall diese angehen würde. Wunderbare Holzbläser, warmer sonorer Streicherklang, präzise Artikulation und im letzten Satz, wenn die Posaunen eindrucksvoll dazukommen, dürfen diese auch mal richtig schmettern – so hört man dies selten! Und natürlich die hier extrem präsente Pauke volltönend und mittig aufgenommen. Nun weiß ich auch, dass nicht nur Haydn eine Symphonie mit Paukenschlag geschrieben hat
). Ich habe mich schnell daran gewöhnt und bei wiederholtem Hören immer mehr Spaß daran gefunden. Eine aufregende Interpretation im besten Wortsinne!
Fazit: die erste Box ist uneingeschränkt eine Empfehlung wert - weil sie bei mir einen starken Eindruck hinterlässt und einfach Spaß macht!
Teil 2 folgt in Kürze …
Beste Grüße
Jörg