Verrückter oder Genie? - Der Exzentriker Samson Francois

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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Dr. Holger Kaletha
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Verrückter oder Genie? - Der Exzentriker Samson Francois

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Ein Exzentriker ist jemand, der außerhalb der Mitte steht. Diese Außenseiterposition bringt es mit sich, dass sie allzu oft als befremdlich und irritierend empfunden wird: Das, was man zunächst nicht einordnen kann, stiftet immer auch einen Moment von Verwirrung, denn es fehlt der Bezugsrahmen, eine solche Erscheinung deuten zu können. Am Beispiel von Samson Francois habe ich selbst diese Erfahrung machen können in einer schwankenden Reaktion, die von spontan leidenschaftlicher Ablehnung in doch so etwas wie nachhaltiger Bewunderung umgeschlagen ist. Wie kann mir als doch gewiss nicht unerfahrenem Musikhörer so etwas passieren? Dem lohnt es sich auf den Grund zu gehen. Zunächst mein Verriß von Francois´ Darstellung von Chopins b-moll-Sonate - die mit dem berühmten "Trauermarsch" - der anschließenden ästhetischen Reflexion folgt dann eine zweite Kritik, welche diese erste korrigiert:

Kritik 1:

An dem französischen Pianisten Samson Francois scheiden sich die Geister. Die einen halten ihn für genialisch, die anderen für einen musikalischen Dilettanten. Die Studioaufnahme der b-moll-Sonate, die er in Paris 1964 für EMI machte, bleibt den Beweis eines Geniestreiches letztlich schuldig. Einen Vergleich mit Vladimir Horowitz vermag Francois auch nicht im entferntesten standzuhalten. Was diese Einspielung mit Horowitz früher Aufnahme bei RCA in der Tat vergleichbar macht, ist die Missachtung des guten Geschmacks. Doch Horowitz ist ein wahres Genie. Sein Vortrag ist dramaturgisch und emotional schlüssig, zudem versteht er es, die musikalische Linienführung, die bei Chopin so eminent wichtig ist, bei aller Theatralik prägnant nachzuzeichnen. Nichts davon findet sich bei Samson Francois. Die Grave-Einleitung poltert gewissermaßen herein, das ist einfach nur hart und unschön. Die Sforzato-Oktave des einsetzenden Hauptthemas wird oktaviert. Aber anders als ABM geht es Francois nicht darum, dem Sforzato seine Klobigkeit zu nehmen, sondern um den bloßen Effekt. Der Vortrag des Hauptthemas ist zwar dynamisch-bewegt, lässt jedoch jegliche rhythmische Präzision vermissen. Das Seitenthema setzt ein mit einer eigenwilligen Oktavierung: keine lyrische Innigkeit, die sich da entwickelt, kein Charaktergegensatz der Themen, ein wiederum sehr äußerlich theatralischer Vortrag. Chopins Seitenthema stellt eigentlich eine Insel der Ruhe im tobenden Chaos dar mit seiner zur Formgestalt verdichteten eher amorphen Struktur, die es mit dem Hauptthemenkomplex gemeinsam hat. Francois fehlt hier schlicht jeglicher musikalischer Sachverstand. Die Melodie wird zerfasert, löst sich auf ein Potpourri von Einzelereignissen. Ein Klavierspiel gänzlich ohne Linie: das ist die „Todsünde“ guten Chopin-Spiels! Die Expositionswiederholung lässt Francois ausfallen und stürzt sich gleich in die Durchführung, die wiederum klobig und bar jedem Anflug von musikalisch treffsicherem Geschmack einsetzt. Den musikalischen Fluss bringt der Franzose zum Stillstand – das Geschehen wird hoffnungslos zerdehnt. Eine schlüssige musikalisch-dramatische Entwicklung kann so gar nicht erst entstehen. Da staunt man und hält es eigentlich nicht für möglich: Was ist das nur für ein unbeherrscht-undiszipliniertes, kopfloses Klavierspiel! Das Scherzo bestätigt wiederum dieses Bild: Ein unschönes, hartes Forte, dass sich dem durchgängigen Eindruck eines geschmacklosen Vortrags ohne zündenden genialischen Funken einfügt. Das klingt einfach grob, ein Vortrag ohne jegliche an der Form orientierte Disziplin. Das Trio zeigt geradezu schlaglichtartig die Unfähigkeit des Interpreten auf, einen Chopin-Stil zu finden: Das Rubato-Spiel verlangt Individualität, zweifellos. Aber das Rubato muss letztlich unauffällig bleiben, den Melodiebögen zum Schwingen verhelfen. Francois dagegen verzögert wie ein musikalischer Tolpatsch: ein aufgesetzter Rubato-Gestus, der in seiner unorganischen Willkür einmal mehr jegliche musikalische Linie zerstört. Den Trauermarsch nimmt er zügig und er gewinnt durchaus einen schäbigen, abgenutzten Ausdruck. Doch die dynamischen Steigerungen bleiben flach. Das lyrische Intermezzo irritiert mit „durty play“, ungeschickt holprigem Rubato-Spiel, eigenwilligen Akzentuierungen, welche organisches Wachstum der Melodiezellen gar nicht erst zulassen. Die Wiederholungen spart sich Francois – wie später Ivo Pogorelich. Der Mittelteil bekommt durchaus expressive Züge. Die Reprise des Trauermarsches mit ihren Oktavierungen im Pianissimo zeugt von nichts anderem als pianistisch vordergründiger Effekthascherei, von Schauerromantik ohne wirklichen Schrecken: Das ist Kinomusik für Hörer, die bequem im Plüschsessel sitzen und ihre süßen Bonbons kauen. Der Schluss verdämmert wie bei Rachmaninow im Pianissimo. Es folgt ein Presto-Finale im gemächlichen Tempo, klaviertechnisch eindeutig in der hinteren Reihe. Hier bekommt die Konturlosigkeit von Francois Spiel schließlich doch einmal so etwas wie Sinn: Eine Aporie des Wissens, die Musik weiß nicht mehr, wohin die Reise geht. Aber auch hier wird der Hörer wieder einmal vor den Kopf gestoßen: Befremdlich geschmacklos die opulente Dramatisierung des Endes zum donnernden Forte-Schluß! Nein, nein, diese Aufnahme ist eine einzige musikalisch-ästhetische Verirrung – nicht Genie, sondern einfach Unvermögen!

Reflexion:

Unsere Haltung zur Interpretation ist durch eine „neusachliche“ Einstellung geprägt: Wir verlangen von einem gewissenhaften Interpreten, dass er das „Werk“ respektiert, die Musik aus sich selbst sprechen lässt, statt sie mit seiner Subjektivität zu belasten. Interpretatorische Individualität schätzen wir, aber nur, wenn sie sich nicht in den Vordergrund spielt, der Interpret sich also in den Dienst der Werkdarstellung stellt wie ein Schauspieler, der eine Figur interpretiert, indem er nicht sich selbst, sondern die Rolle spielt. Genau diese Grenze scheint nun ein Exzentriker wie Samson Francois zu überschreiten. „Willkürlich“, „dilettantisch“, „theatralisch“, d.h. auf den bloßen Effekt zielend, das sind alles Beschreibungen, die zeigen, dass der Rezipient – in diesem Falle ich selbst – diese sich aufdrängende Subjektivität nicht die Bedeutungen einer Werkinterpretation zu geben mag. Das liegt natürlich zum nicht unerheblichen Teil am Interpreten: Die Hervorkehrung seiner ganz subjektiven Sicht bedeutet erst einmal, dass die Aufmerksamkeit des Hörers abgelenkt wird vom Werk auf die Art und Weise, wie er sich selbst darstellt und „inszeniert“. Aber genau da liegt das mögliche Missverständnis. Die subjektive Interpretationshaltung ist eine Gratwanderung, die zwischen einer Pointierung des Ausdrucks und einer Selbstinszenierung hin und her schwankt. Das liegt gleichsam in der Natur der Sache – der rhetorischen Darstellung. Rhetorik zielt immer auf den Effekt, sie will Wirkung erzielen und steht deshalb traditionell in dem Verdacht, zu überreden statt zu überzeugen, d.h. statt Sachgründe zu geben, den Adressaten zu überrumpeln, durch den Einsatz überwältigender Wirkungsmittel ihm Gewalt anzutun. Aber das ist nur eine Seite der Rhetorik. Die andere Seite ist, dass sie sich um „Kundgabe“ bemüht, d.h. darum, etwas schwer Verständliches verständlich zu machen, einen undeutlichen Sinn zu verdeutlichen. Wenn die rhetorische „Wirkung“ sich mit einer solchen Funktion der Sinnverdeutlichung verbindet, dann bekommt sie eine Ausdrucksfunktion, d.h. ist eine ernstzunehmende Haltung sachbezogener Interpretation. Dieser Sachbezug, der die Wirkung vor subjektiver Willkür bewahrt, zeigt sich in dem „Stil“ der Interpretation. „Stil“ – wie z.B. ein Lebensstil – bedeutet, dass den mannigfaltigen Erscheinungen eine einheitliche Charakteristik zugrunde liegt, eine gewisse „Methode“ der Lebensführung. Die stilistische Gestaltung ist nicht willkürlich, sondern bewusst und selektiv, d.h. unterscheidet das Stilhafte vom Stillosen. Mit dem „Interpretationsstil“ meinen wir zum einen immer die Subjektivität des Interpreten, der sich selbst einbringt. Eine ganz und gar unpersönliche Darstellung ist genauso stillos wie eine, welche den Bezug zur Sache verliert, also Musik nicht mehr wirklich dienend interpretiert. Aber was ist zum anderen ein „guter“ Stil? Da hat die neusachliche Einstellung eine Haltung geprägt, die sagt: Das Subjekt soll sich bei der Interpretation möglichst ganz zurücknehmen. Damit wird allerdings verkannt, dass auch der „subjektive“, betont rhetorische Stil, der in die Darstellung die Selbstdarstellung einmischt, eben auch ein Stil ist, der als gut oder schlecht bewertet werden kann. Diese Möglichkeit erschließt sich freilich nur dann, wenn man sich von dem Moment der Selbstdarstellung nicht „überfallen“ lässt, Distanz zu ihr gewinnt. Das erreicht man offenbar dadurch, dass man von demselben Interpreten verschiedene Interpretationen hört und schaut, ob da ein einheitlicher Stil erkennbar ist: „Stil“ haben heißt dann: eine Ausdrucksqualität in der Wirkungsqualität entdecken können, wo die Selbstdarstellung des „subjektiven“ Interpreten dazu wird, dem Werk eine zusätzliche Ausdrucksschicht zu verleihen. Genau so ist es mir im Falle von Samson Francois ergangen: Nachdem ich seine Darstellung der Chopin-Mazurken gehört hatte sowie seine Deutung der h-moll-Sonate, zeigte sich so etwas wie ein einheitlicher Stil und die rhetorische Gebärde, die er in seiner Interpretation der b-moll-Sonate zelebriert, mir auf einmal nicht mehr nur als bloße Effekthascherei.

Man muß sich freilich darüber im Klaren sein, dass dieser „subjektive“ Interpretationsstil weitaus gefährdeter ist als der „neusachliche“, was das mögliche Misslingen angeht. Eben weil er nicht einfach Subjekt und Objekt gegenüberstellt, ist der Grat zwischen Effekthascherei und Ausdruck ein sehr schmaler – was die Möglichkeit der Verwechslung, der „Gefühlstäuschung“ gewissermaßen, erklärt, dass dasselbe einmal als bloß effektiv, als subjektiv-willkürlich und dann aber wieder als eine Form von interpretierender Ausdrucksdeutung erlebt werden kann. Daß ich Francois´ „Stil“ der Interpretation beim ersten Hören verkannt habe, zeigt mir nun im Nachhinein der Vergleich mit Horowitz. Gerade der erweist sich als völlig unpassend. Horowitz´ RCA-Aufnahme von 1950 ist eine theatralische Inszenierung – da wird wahrlich Theater gespielt. Samsons Francois´ Stil dagegen ist völlig untheatralisch – zwar auch eine Selbstinszenierung, aber keine ästhetisch-spielerische: D.h. Horowitz zielt nicht nur auf übersteigerten Ausdruck, sondern zugleich auf ästhetische Wirkung ab, während es Francois nur um Ausdruckssteigerung geht. Das ist auch der Grund, warum mir beim ersten Eindruck der Vortrag des Franzosen weniger „genialisch“ erschien als der von Horowitz: Horowitz theatralisch hochkomplexem, überaus wandlungsfähigen dämonischen Rollenspiel gegenüber wirkt Francois´ undämonischer Ausdrucksgestus eher schlicht – um nicht zu sagen: kindlich naiv.

Der rhetorische Stil besteht – wenn er zur subjektiven Selbstinszenierung wird – immer in einer gewissen Übertreibung. Chopins Mazurken charakterisiert Francois ungemein klar, sie wirken aber immer ein bisschen tänzerischer, als sie eigentlich sind, eine Art Apotheose der Tanzgebärde. Und bei der sehr klassisch-formbewußten h-moll-Sonate wird ebenso sorgsam phrasiert, aber die Phrasen bekommen so eine gewisse Überdeutlichkeit, eine Beredtheit mit Signalwirkung sozusagen. Das widerspricht der neusachlichen Haltung, die Musik aus sich selbst sprechen zu lassen und kann als „aufgesetzt“ oder „manieriert“ empfunden werden. Das setzt allerdings eine Höreinstellung voraus, in welcher der Interpret und sein Hörer meint, dass eine musikalische Phrase beredt genug ist, um ausdrucksvoll zu sein, einer solchen nachdrücklich aufgesetzten, rhetorisch-pointierten Phrasierung deshalb gar nicht bedarf. Um auch dem subjektiv-rhetorischen Interpretationsstil Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist der historische Verweis auf die Tradition der Ausdrucksästhetik vonnöten, die auf Richard Wagner zurückgeht. Sie geht davon aus, dass der Ausdruck sich dadurch zu erkennen gibt, dass er die schönen Formen sprengt, sich hinter dem Offenkundigen stets verbirgt, der Ausdrucksgehalt demnach durch eine die Formen durchschlagende expressive Ausdrucksgeste aus dem Verborgenen eigens ans Licht geholt werden muss. „Die Natur liebt es, sich zu verbergen“ – dieser Ausspruch des griechischen Philosophen Heraklit lässt sich als Ausgangspunkt des rhetorischen Ausdrucksstils ausmachen: Das Sich-Verbergen bedeutet einen Entzug, der Ausdrucksinhalt widersetzt sich damit seiner Äußerung, weigert sich, sich als Ausdruck kundzugeben. Er muss deshalb durch eine rhetorische Pointierung gewissermaßen herausgepresst, der musikalischen Phrase, die für sich genommen gar nicht beredt sein will, gleichsam abgetrotzt werden. Die rhetorische Pointierung hat deshalb immer etwas Gewaltsames und Gewolltes an sich in diesem Bemühen, die Ausdrucksfähigkeit zu erzwingen: etwas „Erpresserisches“. Diese gewisse Manieriertheit pointierter Ausdrucksgesten ist bei Samson Francois sehr deutlich zu spüren und sie verbindet sich zugleich mit der Bekundung subjektiven Ausdruckswillens. Es werden nämlich Akzente gesetzt und damit Gewichtungen vorgenommen, die sich nicht an der natürlichen Ausdrucksbewegung der musikalischen Phrase orientieren, der als ausdruckslos empfundenen musikalischen „Form“, vielmehr der Empfindsamkeit des Interpreten entspringen, seiner ganz individuellen emotionalen Deutung.

Ein solcher Interpretationsstil ist bei Chopin freilich ein Wagnis. In meinem Verriß spreche ich von der „Todsünde“ des Chopin-Spiels, die Linie nicht zu finden. Doch hier muß ich Francois nun im Prinzip rehabilitieren. Er wandelt zweifellos auf einem schmalen Grat, gerät auch oft bedenklich ins Wanken, stürzt aber doch nicht ab. Das rhetorische Expressivo in seiner nicht formorientierten, sondern aufgesetzten Pointierung neigt in der Tat dazu, die musikalische Form zu atomisieren, die melodisch fließende Linie in eine Abfolge isolierter, mit Ausdruck aufgeladener Gesten zu zersprengen. Dies ist die Schwäche jener expressionistischen Interpretation der b-moll-Sonate, wie sie Grigory Sokolov gibt. Doch in dem sehr klassisch-architektonisch aufgebauten Kopfsatz der h-moll-Sonate zeigt sich gerade Francois´ aus dem Durchschnittlichen weit herausragende Qualität als Chopin-Interpret. Die Ausdrucksgeste zerteilt die Linien nicht, die Linien werden zwar durch die sehr subjektive Pointierung deformiert, die Linienführung als solche bleibt aber erkennbar, sie bekommt durch schlaglichtartige Kontrastschärfungen plastische Tiefe und damit so etwas wie Ausdrucksperspektivität: dramatische Kontraste werden auf diese Weise zugespitzt lebendig. Es zeigen sich so verborgene Seiten Musik, die ohne eine solche rhetorische Pointierung gar nicht ans Licht kämen: die Linien werden – mit der Gestalttheorie gesprochen – zu Figuren auf einem Grund.

Aber noch ein anderer Aspekt prägt diesen Stil der rhetorischen Selbstinszenierung. Oft fällt eine gewisse „Flatterhaftigkeit“ und Unbeherrschtheit auf. Statt souverän über die Musik zu gebieten, lässt sich der Interpret von ihrer aufregenden Wirkung anstecken. Auch das widerspricht dem „neusachlichen“ Interpretationsstil. Er trennt nämlich die Ausdrucksdarstellung von der Wirkung, die sie auf das Gemüt hat. Während Francois die Erregung, welche die Musik in ihm auslöst, in die musikalische Darstellung einfließen lässt, vermeidet dies eine neusachliche Interpretation. Musik soll nur einen Ausdrucksgehalt vermitteln; welche Wirkungen sie auslöst, das überlässt die sachliche Darstellung dem Zuhörer. Diese Seite des rhetorischen Stils ist zweifellos eine der problematischsten, denn sie nimmt dem Hörer von vornherein die Möglichkeit einer eigenständigen Gefühlsreaktion, indem der Interpret durch seine überpointierte Artikulation seine eigene Gefühlsreaktion dem Hörer aufzwingt. (Der chinesische Altmeister Fou Tsong, der in jungen Jahren als erster Chinese den Chopinpreis in Warschau gewann, kritisierte genau dies väterlich wohlwollend an Lang Lang, dessen Neigung zur rhetorischen Überpointierung. Er solle doch bitte dem Publikum Luft zum Atmen lassen – zu sehen in einem aufschlussreichen Filmportrait des jungen Chinesen!) Aber nicht nur diese Seite einer Beschneidung der Freiheit der Gefühlsreaktion des Rezipienten beengt diesen Interpretationsstil. Das wird etwa im Finale der h-moll-Sonate deutlich. Das Kehraus-Finale soll die dramatische Spannung entspannen, so etwas wie Gelöstheit als versöhnenden Abschluß vermitteln. Dazu ist Samson Francois bezeichnend nicht in der Lage: Dem rhetorischen Stil fehlt in seiner unnatürlich-angespannten Expressivität so etwas wie Gelassenheit, die Musik einfach sich selbst und ihrer Natürlichkeit – ihrem „Fluß“ – zu überlassen.

Kritik 2:

Energisch, ein wenig unsensibel die eröffnenden Forte-Oktaven der Grave Einleitung – das ist fast ausdruckslos nackt, unpointiert. Doch die ausdrucksintensive rhetorische Akzentuierung folgt mit der übermäßigen, disproportionalen Dehnung der gebrochenen Akkorde der rechten Hand. Da wird die Forte-Gewalt nicht nur zurückgenommen, sondern dem energischen Beginn die Sicherheit des Auftretens genommen. Der Sinn dieser Verunsicherung wird dann mit dem Erscheinen des Hauptthemas klar. Kein Sforzato-Akzent im Baß wie Chopin notiert hat, statt dessen eine butterweiche Oktavierung im Piano. Die Bewegung des Hauptthemas beginnt zögerlich um dann in der Entfaltung der dynamischen Gegensätze um so energischer aufzutrumpfen. Für die destruktiven, amorphen Züge dieses Hauptthemenkomplexes findet Francois Vortragstil eine Ausdruckgeste – es geht ihm weniger um die sachtreue Darstellung formaler Zusammenhänge als die Verwandlung der Form in dramatischen Ausdruck. Entdeckt man in solch rhetorisch-pointiertem Vortrag ein Stürmen und Drängen, dann bekommt Francois´ interpretatorische Freizügigkeit Stil und Sinn. Der erläuternde Hinweis auf Schillers „Räuber“ und Goethes „Goetz“ ist hier nicht unangebracht. Der Stürmer und Dränger ist ein von keiner gesellschaftlichen Konvention gebändigtes Naturkind, ein noch ungehobelter Charakter, der so etwas wie Takt und Anstand nicht kennt. Worin er sich bewegt, das ist eine Attitüde von Kraftmeierei und der Versuch, der Kraftlosigkeit der Resignation eines Außenseiters zu entkommen. Francois´ subjektiver Ausdrucksgestus stellt den Hauptthemenkomplex als einen Kraftakt dar – da wälzt sich das Subjekt, versucht gleichsam aus einer gebückten Haltung immer wieder aufzustehen und Kraft und Haltung zu gewinnen. So wird auch der wohl drastischste Eingriff in den Notentext verständlich: Niemand außer Francois wagt es, dem Seitenthema jeglichen Lyrismus zu rauben. Statt wie von Chopin notiert in einem getragenen Piano („Sostenuto“ Takt 41) anzusetzen, triumpfiert es im energischen Forte. Das ist zweifellos ein rücksichtsloser Subjektivismus, der sich über Chopins Spielanweisungen einfach hinwegsetzt, aber wiederum einer, welcher der Form einen Ausdruckssinn verleiht: Das Seitenthema ist in der dynamischen Formkonzeption dieses Sonatensatzes als Verdichtung und Verfestigung der lockeren, amorphen Motivstrukturen des Hauptthemas konzipiert. Bei Francois triumpfiert hier das stürmende und drängende Subjekt: Die Kraft hat gesiegt über die Ohnmacht, das Ich endlich Standfestigkeit gewonnen. Das ist eine emotional schlüssige Dramaturgie. Francois spart die Expositionswiederholung aus, begibt sich sogleich in das Durchführungsgeschehen. Auch hier wahrt er den Sinn der Kontrastschärfung, aber wiederum auf sehr subjektive Weise. Ein Staccato-Legato-Kontrast von bizarrem Ausdruck und eine dynamische Intensivierung durch zeitliche Dehnung. Das verstärkt noch einmal den Eindruck eines wilden, unbändigen Naturkindes. In der Reprise bekommt das Seitenthema dann doch lyrische Facetten – Francois´ Vortrag ist niemals eindimensional, zeigt außergewöhnliche emotionale Beweglichkeit und einen immer wieder überraschenden Facettenreichtum des Ausdrucks. Die Rhythmik in der Schlußgruppe erfährt wiederum rhetorische Wirkungskraft und Signalwirkung durch Synkopierungen. Das Scherzo wirkt wild und unwirsch, da gibt es keine klaren Akzentuierungen, keine rhythmische Festigkeit. Aber auch das passt zum Ausdruck des Stürmens und Drängens. Da lebt sich ein undisziplinierter Charakter aus, der sich noch nicht „gesetzt“ hat und entsprechend wie ein unartiges Kind unbändig austobt. Das Trio ist wunderbar aufwühlend expressiv in seiner melodischen Gestaltung und zeigt emotionale Flexibilität. Der kontrapunktische Mittelteil Takt 143 ff. dagegen wirkt überhastet – ein Beispiel für die fragwürdige Übertragung innerer Erregtheit des Interpreten auf die dargestellte Musik, die hier eine ausdruckskräftigere Gestaltung verhindert. Die Reprise des Scherzos grimmig-zornig. Wunderbar feinsinnig und einfühlsam gestaltet das leise Verklingen des Scherzo als Vorahnung des Trauermarsches, das bei den meisten Interpreten leider nur allzu hölzern und steif gerät.

Francois´ Gestaltung des Trauermarsches gehört zu den überzeugendsten Darstellungen überhaupt. Der Ausdruck hat etwas Schäbiges, in seinen stereotypen Wiederholungen und der kontinuierlichen dynamischen Steigerung vermittelt dieser pochend-insistierende Rhythmus das Gefühl des Überdrusses. Wiederum teilt sich die Aufgeregtheit des Interpreten dem Hörer mit. Sehr gelungen der organische Übergang zum lyrischen Intermezzo. Der Trauermarsch wird nicht etwa vergessen in einer naiven Melodieseligkeit; existentielle Unerfülltheit bleibt präsent durch die Unruhe und Ungeduld der Ausdrucksgesten. Ein Genießen des Schönen ist in diesem Intermezzo zur Unmöglichkeit geworden – es überwiegt der Tonfall der Klage, Ruhe und Frieden nicht finden zu können. Der einzige „theatralische“ Moment in dieser in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Aufnahme ist die Reprise des Trauermarsches. Hier wird der Bass der von Alfred Cortot begründeten Aufführungstradition folgend oktaviert und Schauerromantik mit dem Ausdruck des Makabren heraufbeschworen. Wie bei Cortot und Rachmaninow verliert sich der mehr und mehr entfernende Marsch im Pianissimo. Das Presto-Finale nimmt Francois in sehr verhaltenem Tempo und es zeigt sich in seinem rhythmischen Puls sehr instabil. Das ist ein aporetischer Schluß, geschaffen für ein Naturkind des „Sturm und Drang“: Antivirtuose Kraftlosigkeit als Ausdruck von Ratlosgkeit, der Unmöglichkeit von „Kraftmeierei“, des beherrschten Auftrumpfens. Den Schluß bildet ein Ausbruch von Energie, der jedoch schnell wieder im Nichts verpufft. Eine zweifellos sehr subjektive und in ihrem äußerst freizügigen Umgang mit dem Notentext gewiß nicht unproblematische, aber beeindruckende Interpretation, die ihre bleibenden Spuren hinterlässt, an deren existentielle Wahrhaftigkeit weder der erkältende Manierismus eines Ivo Pogorelich, noch die geschmäcklerische Verspieltheit von Cyprien Katsaris heranreichen.

Beste Grüße
Holger
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Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Hallo Holger,

schön, wieder was von Dir zu lesen. Man spürt, wie tief Du Dich mit der Interpretation auseinander gesetzt hast - vielen Dank!

Mir ist es auch ganz erheblich lieber, die Subjektivität eines Interpreten zu spüren, als den Versuch, sich gänzlich zurück zu nehmen. Einer meiner Lieblingspianisten - Alfred Brendel - ist ja so einer, der immer davon spricht, sich völlig hinter das Werk zu stellen. Nur merkwürdig, dass ich ihn immer schon nach wenigen Takten erkennen kann - wäre das Spiel so objektiv, wie er vorgibt, dürfte das kaum möglich sein. Es ist eben unendlich verfeinerte Subjektivität im Kleistschen Sinne, die sich da zum Werk gesellt.

Aber auch der von Dir angesprochene Lang Lang ist mir so lieber, wie er ist: So zeigt er doch schon nach kurzem Zuhören, dass er zum Innersten der Musik - ganz besonders, wenn es sich um Wiener Klassik handelt - nicht vorgedrungen ist. Versuchte er, sein Ego zurück zu nehmen, würde diese Erkenntnis möglicherweise länger dauern. Solche Exzentrik hier im Sinn von außerhalb des Werkkerns bleiben verbindet ihn nach meiner Meinung mit dem ebenfalls von Dir angesprochenen Pogorelich. Ich habe ihn mal im Konzert gehört, da hat er Beethovens op. 111 vor der Pause als Bravourstück dargeboten. Ein Pianist, der dieses Werk verstanden und entsprechend gespielt hat, braucht danach einen halben Tag, um zurück zur Erde zu finden.

Viele Grüße
Gert
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Fortepianus hat geschrieben:Aber auch der von Dir angesprochene Lang Lang ist mir so lieber, wie er ist: So zeigt er doch schon nach kurzem Zuhören, dass er zum Innersten der Musik - ganz besonders, wenn es sich um Wiener Klassik handelt - nicht vorgedrungen ist. Versuchte er, sein Ego zurück zu nehmen, würde diese Erkenntnis möglicherweise länger dauern. Solche Exzentrik hier im Sinn von außerhalb des Werkkerns bleiben verbindet ihn nach meiner Meinung mit dem ebenfalls von Dir angesprochenen Pogorelich. Ich habe ihn mal im Konzert gehört, da hat er Beethovens op. 111 vor der Pause als Bravourstück dargeboten. Ein Pianist, der dieses Werk verstanden und entsprechend gespielt hat, braucht danach einen halben Tag, um zurück zur Erde zu finden.
Hallo Gert,

Lang Lang mit op. 111! Oh weh! Da sollte er wirklich die Finger davon lassen! Arturo Benedetti Michelangeli hätte ihn wohl mit Mißachtung gestraft oder ihm gesagt: lerne erst einmal neu Klavier spielen! Er ist tatsächlich in die Meisterklasse zu Barenboim gegangen und hat ihm die Appassionata vorgespielt. Gibt es als Film. Sein Vorspiel und Barenboims Korrekturen waren unglaublich peinlich, das waren Anfängerfehler eines Konservatoriumsschülers im ersten Jahr! Chinesen sind zwar sehr lernfähig - aber bei den Klassikern findet man entweder gleich einen Zugang oder keinen. Das 1. Beethoven-Klavierkonzert von ihm ist noch gut anhörbar (Beethoven als etwas verspäteter Mozart) - das 4. geht gar nicht! Mal sehen was aus ihm noch wird!

:cheers:

Beste Grüße
Holger
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Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Hallo Holger,
Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:Lang Lang...Mal sehen was aus ihm noch wird!
na, meine Spannung hält sich einigermaßen in Grenzen :mrgreen: . Wenn wir aber gerade dabei sind, über Pianisten zu urteilen: Hast Du beobachtet, was mit Perahia passiert ist? Das fand ich geradezu unglaublich. Ich mochte sein Spiel zwar in früheren Jahren schon ganz gern, ich habe ihn oft im Konzert erlebt, aber irgendwie hatte ich immer ein wenig Angst, dass der Junge gleich anfängt zu weinen, z. B. wenn er Schubert gespielt hat. Dann war er einige Jahre in der Versenkung verschwunden, und danach kam er völlig geläutert zurück mit einer Menge Bach-Einspielungen wie Klavierkonzerte, englische Suiten, Partiten oder den Goldbergvariationen (!). Für mich zählt er jetzt zu den Top Ten. Was hältst Du von ihm?

Viele Grüße
Gert
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Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Habe übrigens dieses Video im Netz gefunden, da spielt Francois ein Chopin-Nocturne. Bitte Augen zu beim Hören, die an Kitschigkeit kaum zu überbietende Sonnenuntergangs-Diashow dazu ist der Konzentration auf die Musik wenig zuträglich :roll: . Wenn man z. B. die Interpretation Pollinis im Ohr hat, der mir mit filigraner Leichtigkeit manchmal verdammt eisig ins Genick greift, scheint Francois Nocturne geradezu breit ausgetreten im Vergleich dazu. Aber dennoch: Es nimmt mich gefangen, wie er es spielt. Es hat einen Bogen von Anfang bis Ende, und es zwingt mir den Herzschlag des Pianisten auf.

Viele Grüße
Gert
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Gert,

die Bach-Aufnahmen von Murray Perahia finde ich auch überragend! Ich arbeite ja seit über einem Jahr an diesen Interpretationsvergleich von Chopins b-moll-Sonate. Perahias Aufnahme, die er mit 27 Jahren machte, gehört zu den bemerkenswertesten! Sehr hörenswert! Man hat das Gefühl, er ist mit den Jahren ein noch feinsinnigerer Pianist geworden. Ja, ja, mit Samson Francois ist das immer eine Gratwanderung. Pollinis Chopin-Nocturnes finde ich eine der gelungensten Aufnahmen, die er gemacht hat. Habe ihn im letzten Jahr im März in Köln gehört mit Stockhausen, Schönberg und Schumann - als Zugabe gab es ein Chopin Nocturne. Das war einfach wunderbar!

Beste Grüße
Holger
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