Die Musik von Südamerika
Verfasst: 29.11.2009, 17:46
Teil 1: Hintergründe
Fällt das Stichwort „südamerikanische Musik“, denkt hierzulande fast jeder an „El Condor Pasa“ sowie „die Jungs in der Fußgängerzone“. Das genannte Musikstück dürfte das am meisten verschlissene und mißverstandene überhaupt sein - und „die Jungs in der Fußgängerzone“ spielen es natürlich ebenfalls, weil es bekannt ist und Publikum anlockt...
Machen wir uns frei von Vorurteilen und Emotionen, betrachten sachlich die Fakten, denn gerade die emotionsbefrachtete Herangehensweise verstellt den Blick. Zum Verständnis des „So-Seins“ der südamerikanischen Musik, die wie kaum eine andere aus dem Innersten Wesen der Menschen heraus entstanden ist und immer noch entsteht, sind gewisse Kenntnisse der Hintergründe erforderlich. Diese zur Gänze zu vermitteln, erforderte - legér formuliert - den Umfang des Großen Brockhaus. Daher bitte ich um Verständnis, daß ich rigide einschränken, häufig stark verkürzen und zusammenfassen muß; dem liegt nicht nur die schier unendliche Fülle an Daten und Fakten zugrunde, vielmehr haben wir es hier, wie in anderen Wissenszweigen ebenfalls, mit hermeneutischen Problemen zu tun. Das bedeutet: Es gibt unterschiedliche Lehrmeinungen. Kurzes Beispiel: Die in Ecuador, Perú und Nordbolivien sowie in der argentinischen Provinz Santiago del Estero heute noch lebendige indianische Quechua-Sprache, die sich in sechs Varietäten gliedert, kennt keine grammatischen Fälle im Sinne des Lateiners - so die Lehre der in den achtziger Jahren führenden Universität Bonn (Fachgebiet Altamerikanistik). Die in jener Zeit gleichfalls führende Universität Leyden (NL) lehrte, diese Sprache habe mindestens acht Fälle. Da ich damals hier in Bonn (als nichtstudentischer Schüler) Quechua gebüffelt habe, vertrete ich natürlich die hiesige Auslegung.
Zurück zum Thema: In stark verkürzter Weise möchte ich zunächst auf die historischen Hintergründe zu sprechen kommen, denn die südamerikanische Musik enthält zahlreiche unterschiedliche Stile und Formen: autochthon-indianische, entwickelt-indianische, kontinentalspanische, kreolische und schwarzafrikanische. Eventuell - das aber ist nicht belegt - finden sich auch polynesische Elemente. Wie ist das möglich? Zur Beantwortung dieser berechtigten Frage ist ein Blick in die Geschichte notwendig, was gleichermaßen für die Frage gilt, warum im gesamten Lateinamerika (von Mexico bis Feuerland) Spanisch, in Brasilien dagegen Portugiesisch gesprochen wird. Und Sprache ist Bestandteil der Musik, die, auch in der südamerikanischen, in Liedform oftmals Geschichten erzählt, banale ebenso wie dramatische.
Die „überseeischen Unternehmungen“
Es begann mit jenem Genueser, der im Deutschen Christoph Kolumbus genannt wird; sein Name lautete (italienisch) Cristofero Colombo; die Spanier, in deren Dienste er sich begab, hießen ihn Cristóval Colón - so wollen wir ihn ebenfalls nennen, da er unter diesem Namen Weltgeschichte, wenn auch nicht immer nur positive, geschrieben hat.
Colón unternahm im Auftrag der spanischen Krone die Suche nach dem Seeweg nach Indien. Dies hatte zur Folge, daß die Urbevölkerung des amerikanischen Kontinentes „Indianer“ genannt wurde - und bis heute so genannt wird. Das gesuchte Land, Indien, bezeichnete man als „Las Indias“, ein Name, der nach seiner Entdeckung auf Südamerika übertragen wurde. Cristóval Colón unternahm vier Expeditionen: 3.8.1492 - 15.3.1493, 25.9.1493 - 11.6.1496. Nach der dritten Reise fiel er zeitweilig in Ungnade. Er startete, beginnend am 11.5.1502, eine weitere Fahrt. Colón starb am 20.5.1506 in Valladolid.
Im Zuge der ersten Expedition - man nannte sowas später „die überseeischen Unternehmungen“ - entdeckte Colón, neben weiteren Karibikinseln wie z.B. Cuba, am 6.12.1492 Guanahani, das heutige Haiti. Und er war zeitlebens überzeugt, Indien gefunden zu haben...
Doch steht zunächst die Frage hinsichtlich der Sprachen (Spanisch/Portugiesisch) offen. Dies ist Folge der „Alexanderschen Weltverschenkung“: Papst Alexander VI. verkündete am vierten Mai 1494 seine Bulle „Inter cetera divinae“, in der es hieß: „... Kraft der Autorität des allmächtigen Gottes schenken und übertragen wir Euch, Isabella und Ferdinand, sowie Euren Nachfolgern, zum Lohn für die Besiegung der Ungläubigen Granadas alle Länder und Inseln, die jenseits einer Grenze hundert Meilen westlich der Azoren liegen...“ Damit waren die Verhältnisse klar: Die spanischen und portugiesischen Herrscherhäuser mußten, wie wir heute sagen würden, „an den runden Tisch“, denn Portugal, damals eine Weltmacht, durfte nicht außen vor bleiben. Die Verhandlungen fanden noch im gleichen Jahre statt: In Tordesillas handelte man einen Vertrag aus, der eben „Vertrag von Tordesillas“ genannt wird, demzufolge - ich verkürze jetzt sehr stark - den Portugiesen die östlichen Teile weiter im Süden der Kontinentalmasse und den Spaniern die nördlicheren Partien Südamerikas sowie die Karibik und die nördlich anschließenden Gebiete zufielen. Inwieweit die spanischen Diplomaten die portugiesischen „über den Tisch gezogen haben“, möchte ich nicht bewerten, Fakt aber ist, daß die Spanier dank Colón Kenntnis hatten - und seien es auch nur Gerüchte gewesen - von Goldvorkommen im Norden (siehe: „Castilla de Oro“, „Goldküste“), beziehungsweise Schätzen „indianischer“ Ethnien (gemeint sind das heutige Costa Rica, Nicaragua, Honduras, Guatemala und Mexico), wohingegen die brasilianische Ostküste nichts dergleichen vorwies. Die Länder im Westen des Kontinents waren noch unbekannt und wurden erst später entdeckt. Damit wäre die Frage, warum man nur in Brasilien Portugiesisch spricht, beantwortet - in aller an und für sich unzulässigen Verkürzung.
Kommen wir nun zur eingangs aufgeworfenen Frage, wie die unterschiedlichen musikalischen Formen und Stile entstanden. Vor der Eroberung kannten die Ureinwohner (bezogen auf das Reich der Inka, Westseite des Kontinents, es erstreckte sich über ca. 4.000 Kilometer vom heutigen Südkolumbien bis Nordchile und existierte von ca. 1200 bis zum 16.11.1532) ausschließlich Flöten (in zahlreichen Varietäten, dazu später mehr) und Schlaginstrumente (Idiophone, Membranophone); einige Quellen nennen eine Art primitiver „Geige“, vermutlich ein Bogen, dessen Sehne gestrichen oder gezupft wurde. Gerade Flöten und Rhythmusinstrumente wurden virtuos beherrscht und wiesen teils hochentwickelte Konstruktionen auf, die sich bis in die Jetztzeit erhalten haben, teils auch weiterentwickelt wurden. Am Hofe des Inka gab es die „pinkulluri“, die Flötenspieler, die zu offiziellen Anlässen, aber auch bei Festen, aufspielten. Dies zeigt den hohen Stellenwert, den die Musik genoß, dokumentiert zudem die tiefe Verbindung der Menschen mit ihrer Musik - woran sich bis heute nichts geändert hat. Damit sind die Wurzeln der tradierten indianischen Musik Südamerikas deutlich, doch wäre noch zu untersuchen, wie die neuzeitlichen Formen zustande kamen, die zahllose Verbindungen, Vermischungen und gegenseitige Befruchtungen aufweisen; der Musikologe nennt dies Synkretismus. Zur Klärung dieser Frage müssen wir nochmal kurz einen Abstecher in die Geschichte machen.
Die wirtschaftlich höchst erfolgreichen überseeischen Unternehmungen brachten im Laufe der Zeit zahlreiche spanische Ethnien in das nördliche Südamerika, von wo aus, eben auch Sagen und Gerüchten folgend, Expeditionen in westlicher Richtung stattfanden; und im Verlaufe einer solchen entdeckte ein gewisser Balboa die Landenge von Panama und den dahinter liegenden Pazifik, den man „Südmeer“ nannte. Aktiv und unternehmungsfreudig wie stets, erkundeten die Spanier die pazifische Westküste des Kontinents; auf diese Weise kam Francisco Pizarro nach Perú (damals Birú genannt). Pizarro, vom Eroberer Mexicos und Bezwinger der Azteken in Tenóchtitlan (das heutige Mexico-Stadt), Hernando Cortéz, dem Königshaus wärmstens empfohlen, erhielt den Titel eines Generalkapitäns und erreichte im zweiten Anlauf - nach einem vorherigen, desaströsen Versuch - die Küste des heutigen Perú, wo ihm und seinen 150 Soldaten (einige Quellen nennen die Zahl 180) ein Floß begegnete, das mit Menschen unbekannten Aussehens besetzt war und eine große Menge goldener Kunst- und Kultgegenstände transportierte. Für die Inka besaßen Edelmetalle keinerlei pekuniären Wert (Geld war übrigens unbekannt, es gab nur Tauschhandel), es diente lediglich Kunst- und sakralen Zwecken, und so gaben sie den Spaniern Gold als Begrüßungsgeschenk. Das war der Anfang, inwieweit die Sache später eskalierte, gehört nicht hierher. Gesagt sei dennoch: Unstreitig fanden im Laufe der Jahrzehnte von Eroberung und Bewirtschaftung Greueltaten statt, doch darf man bei deren Nennung und Bewertung nicht einseitig betrachten. „Die bösen Spanier“ trifft den Kern der Sache ebensowenig wie „Die guten Indianer“. Beidseitiges Betrachten der Medaille ist erforderlich. Doch damit genug.
Die zeitgeistig teils eskalierenden Methoden der wirtschaftlichen Nutzung der neuen Länder schlossen die entsetzliche Sklaverei mit ein. Cristóval Colón wurde auf seiner ersten Reise von einem Dominikaner-Bischof begleitet: Bartolomé de las Casas. Dieser machte sich zum Fürsprecher der indianischen Ethnien, regte schlußendlich an, die den schweren Arbeiten nicht gewachsenen Indianer durch Schwarzafrikaner zu ersetzen - im besten Willen, die Indianer zu schützen, initiierte er den Import eben schwarzafrikanischer Menschen und gilt daher (fälschlich) als „Vater der Sklaverei in Südamerika“.
Die Afrikaner, teils uralten Kulturen entstammend, brachten das Wissen um Funktion und Bau ihrer Musikinstrumente mit (als Beispiel sei die Marimba genannt) - und natürlich ihre Lieder und Melodien, die im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte sich mit den indianischen vermischten, sich gegenseitig inspirierten: Synkretismus.
Es entstand die Mischkultur der Kreolen (indianisch/afrikanisch), was wiederum ganz eigene Musikformen im Gefolge hatte. Dies ist neuerlich nur ein Beispiel, denn Südamerika - gemeint sind Ecuador, Perú und Bolivien im speziellen - wurde zum vielzitierten Schmelztiegel zahlreicher Ethnien, Völker und Kulturen ... sogar Chinesen, die Ende des 19. Jahrhunderts der große amerikanische Eisenbahn-Bauingenieur Henry Meiggs ins Land (Perú) holte, könnten ihre Spuren hinterlassen haben, was aber wiederum nicht belegt ist.
Und nicht zu vergessen der logischerweise starke spanische Einfluß: Aus Spanien kamen die Streich- und Zupfinstrumente, die Blechblasinstrumente sowie die Musikformen, die großzahlig arabisch/maurischen sowie persisch/farsischen Ursprungs waren. Die beliebtesten Zupfinstrumente Südamerikas, Gitarre (Guitarra) und Charango, brachten die Spanier mit (in Sachen Flöten konnte man zumindest den Indianern nicht Neues bieten). Der Charango seinerseits entstand aus der von den Spaniern in Land gebrachten Vihuela, einer sog. Kurzhalslautengitarre, sie sieht ungefähr aus wie eine „Minigitarre“. In Südamerika erfuhr dieses Instrument eine dreifache Wandlung: 1) Es entstand der „Quatro“ mit vier einfachen Saiten bespannt, 2) der „Charango de Madera“ mit Holzkorpus und vier Doppelsaiten, 3) der „Charango de Quirquincho“ mit Korpus aus einem Gürteltierpanzer und ebenfalls vier Doppelsaiten. Als seltene Sonderform sei noch der „Charengo“ genannt, eine bolivianische Kürbislaute mit fünf Doppelsaiten. Dann muß noch die „Arpa“ erwähnt werden: Die Arpa (spanisch für „Harfe“) existiert heute in zahlreichen Bauformen, die von Venezuela über Ecuador und Perú bis nach Paraguay gespielt wird. In der Regel besteht die Arpa (zumindest habe ich sie in Ayacucho [Perú] selbst so gesehen und aufgenommen) aus einem Resonanzkörper etwa in Form und Größe einer kleinen Badewanne, aus dem eine „liegende halbe Harfe“ emporwächst, die von unten nach oben gespielt wird (die Saiten liegen horizontal, aufsteigend).
Weitere Instrumente werde ich im nächsten Teil beschreiben.
Um das Thema „musikalischer Synkretismus“ zu beschließen, komme ich auf die schon erwähnten Polynesier zurück. Im 19. Jh. wurde die Südseeinsel Tokelau von einem peruanischen (!) Sklavenschiff heimgesucht und bis auf 80 Verbliebene entvölkert. Wohin man die bedauernswerten Menschen verfrachtet hat, konnte ich nicht eruieren. Denkbar und naheliegend aber ist, daß Perú und/oder Bolivien das Ziel war. Besonders Bolivien kommt in Betracht, weil bei Potosí enorm reiche Silbervorkommen abgebaut wurden („Silberberg von Potosí“) und billige Arbeitskräfte beständig gesucht waren... Ob, und wenn ja, wieviele Überlebende ihren Bestimmungsort erreichten, weiß man nicht, und es erscheint unwahrscheinlich, daß die Polynesier, so sie eben irgendwo in Südamerika ankamen, in der Lage waren, ihre reiche Musikkultur weiterzuführen...
Soweit die viel zu kurze und zu viele Einzelheiten notwendigerweise übergehende Einleitung in die südamerikanische Musik. Ich hoffe, dennoch ein wenig Interesse geweckt zu haben, den folgenden „Kapiteln“ Lesezeit zu widmen. Im zweiten Teil werde ich die Instrumente vorstellen, die heute in der synkretisierten Musik erklingen und auch einige mythologisch basierte Besonderheiten nennen.
Gruß: Winfried
Fällt das Stichwort „südamerikanische Musik“, denkt hierzulande fast jeder an „El Condor Pasa“ sowie „die Jungs in der Fußgängerzone“. Das genannte Musikstück dürfte das am meisten verschlissene und mißverstandene überhaupt sein - und „die Jungs in der Fußgängerzone“ spielen es natürlich ebenfalls, weil es bekannt ist und Publikum anlockt...
Machen wir uns frei von Vorurteilen und Emotionen, betrachten sachlich die Fakten, denn gerade die emotionsbefrachtete Herangehensweise verstellt den Blick. Zum Verständnis des „So-Seins“ der südamerikanischen Musik, die wie kaum eine andere aus dem Innersten Wesen der Menschen heraus entstanden ist und immer noch entsteht, sind gewisse Kenntnisse der Hintergründe erforderlich. Diese zur Gänze zu vermitteln, erforderte - legér formuliert - den Umfang des Großen Brockhaus. Daher bitte ich um Verständnis, daß ich rigide einschränken, häufig stark verkürzen und zusammenfassen muß; dem liegt nicht nur die schier unendliche Fülle an Daten und Fakten zugrunde, vielmehr haben wir es hier, wie in anderen Wissenszweigen ebenfalls, mit hermeneutischen Problemen zu tun. Das bedeutet: Es gibt unterschiedliche Lehrmeinungen. Kurzes Beispiel: Die in Ecuador, Perú und Nordbolivien sowie in der argentinischen Provinz Santiago del Estero heute noch lebendige indianische Quechua-Sprache, die sich in sechs Varietäten gliedert, kennt keine grammatischen Fälle im Sinne des Lateiners - so die Lehre der in den achtziger Jahren führenden Universität Bonn (Fachgebiet Altamerikanistik). Die in jener Zeit gleichfalls führende Universität Leyden (NL) lehrte, diese Sprache habe mindestens acht Fälle. Da ich damals hier in Bonn (als nichtstudentischer Schüler) Quechua gebüffelt habe, vertrete ich natürlich die hiesige Auslegung.
Zurück zum Thema: In stark verkürzter Weise möchte ich zunächst auf die historischen Hintergründe zu sprechen kommen, denn die südamerikanische Musik enthält zahlreiche unterschiedliche Stile und Formen: autochthon-indianische, entwickelt-indianische, kontinentalspanische, kreolische und schwarzafrikanische. Eventuell - das aber ist nicht belegt - finden sich auch polynesische Elemente. Wie ist das möglich? Zur Beantwortung dieser berechtigten Frage ist ein Blick in die Geschichte notwendig, was gleichermaßen für die Frage gilt, warum im gesamten Lateinamerika (von Mexico bis Feuerland) Spanisch, in Brasilien dagegen Portugiesisch gesprochen wird. Und Sprache ist Bestandteil der Musik, die, auch in der südamerikanischen, in Liedform oftmals Geschichten erzählt, banale ebenso wie dramatische.
Die „überseeischen Unternehmungen“
Es begann mit jenem Genueser, der im Deutschen Christoph Kolumbus genannt wird; sein Name lautete (italienisch) Cristofero Colombo; die Spanier, in deren Dienste er sich begab, hießen ihn Cristóval Colón - so wollen wir ihn ebenfalls nennen, da er unter diesem Namen Weltgeschichte, wenn auch nicht immer nur positive, geschrieben hat.
Colón unternahm im Auftrag der spanischen Krone die Suche nach dem Seeweg nach Indien. Dies hatte zur Folge, daß die Urbevölkerung des amerikanischen Kontinentes „Indianer“ genannt wurde - und bis heute so genannt wird. Das gesuchte Land, Indien, bezeichnete man als „Las Indias“, ein Name, der nach seiner Entdeckung auf Südamerika übertragen wurde. Cristóval Colón unternahm vier Expeditionen: 3.8.1492 - 15.3.1493, 25.9.1493 - 11.6.1496. Nach der dritten Reise fiel er zeitweilig in Ungnade. Er startete, beginnend am 11.5.1502, eine weitere Fahrt. Colón starb am 20.5.1506 in Valladolid.
Im Zuge der ersten Expedition - man nannte sowas später „die überseeischen Unternehmungen“ - entdeckte Colón, neben weiteren Karibikinseln wie z.B. Cuba, am 6.12.1492 Guanahani, das heutige Haiti. Und er war zeitlebens überzeugt, Indien gefunden zu haben...
Doch steht zunächst die Frage hinsichtlich der Sprachen (Spanisch/Portugiesisch) offen. Dies ist Folge der „Alexanderschen Weltverschenkung“: Papst Alexander VI. verkündete am vierten Mai 1494 seine Bulle „Inter cetera divinae“, in der es hieß: „... Kraft der Autorität des allmächtigen Gottes schenken und übertragen wir Euch, Isabella und Ferdinand, sowie Euren Nachfolgern, zum Lohn für die Besiegung der Ungläubigen Granadas alle Länder und Inseln, die jenseits einer Grenze hundert Meilen westlich der Azoren liegen...“ Damit waren die Verhältnisse klar: Die spanischen und portugiesischen Herrscherhäuser mußten, wie wir heute sagen würden, „an den runden Tisch“, denn Portugal, damals eine Weltmacht, durfte nicht außen vor bleiben. Die Verhandlungen fanden noch im gleichen Jahre statt: In Tordesillas handelte man einen Vertrag aus, der eben „Vertrag von Tordesillas“ genannt wird, demzufolge - ich verkürze jetzt sehr stark - den Portugiesen die östlichen Teile weiter im Süden der Kontinentalmasse und den Spaniern die nördlicheren Partien Südamerikas sowie die Karibik und die nördlich anschließenden Gebiete zufielen. Inwieweit die spanischen Diplomaten die portugiesischen „über den Tisch gezogen haben“, möchte ich nicht bewerten, Fakt aber ist, daß die Spanier dank Colón Kenntnis hatten - und seien es auch nur Gerüchte gewesen - von Goldvorkommen im Norden (siehe: „Castilla de Oro“, „Goldküste“), beziehungsweise Schätzen „indianischer“ Ethnien (gemeint sind das heutige Costa Rica, Nicaragua, Honduras, Guatemala und Mexico), wohingegen die brasilianische Ostküste nichts dergleichen vorwies. Die Länder im Westen des Kontinents waren noch unbekannt und wurden erst später entdeckt. Damit wäre die Frage, warum man nur in Brasilien Portugiesisch spricht, beantwortet - in aller an und für sich unzulässigen Verkürzung.
Kommen wir nun zur eingangs aufgeworfenen Frage, wie die unterschiedlichen musikalischen Formen und Stile entstanden. Vor der Eroberung kannten die Ureinwohner (bezogen auf das Reich der Inka, Westseite des Kontinents, es erstreckte sich über ca. 4.000 Kilometer vom heutigen Südkolumbien bis Nordchile und existierte von ca. 1200 bis zum 16.11.1532) ausschließlich Flöten (in zahlreichen Varietäten, dazu später mehr) und Schlaginstrumente (Idiophone, Membranophone); einige Quellen nennen eine Art primitiver „Geige“, vermutlich ein Bogen, dessen Sehne gestrichen oder gezupft wurde. Gerade Flöten und Rhythmusinstrumente wurden virtuos beherrscht und wiesen teils hochentwickelte Konstruktionen auf, die sich bis in die Jetztzeit erhalten haben, teils auch weiterentwickelt wurden. Am Hofe des Inka gab es die „pinkulluri“, die Flötenspieler, die zu offiziellen Anlässen, aber auch bei Festen, aufspielten. Dies zeigt den hohen Stellenwert, den die Musik genoß, dokumentiert zudem die tiefe Verbindung der Menschen mit ihrer Musik - woran sich bis heute nichts geändert hat. Damit sind die Wurzeln der tradierten indianischen Musik Südamerikas deutlich, doch wäre noch zu untersuchen, wie die neuzeitlichen Formen zustande kamen, die zahllose Verbindungen, Vermischungen und gegenseitige Befruchtungen aufweisen; der Musikologe nennt dies Synkretismus. Zur Klärung dieser Frage müssen wir nochmal kurz einen Abstecher in die Geschichte machen.
Die wirtschaftlich höchst erfolgreichen überseeischen Unternehmungen brachten im Laufe der Zeit zahlreiche spanische Ethnien in das nördliche Südamerika, von wo aus, eben auch Sagen und Gerüchten folgend, Expeditionen in westlicher Richtung stattfanden; und im Verlaufe einer solchen entdeckte ein gewisser Balboa die Landenge von Panama und den dahinter liegenden Pazifik, den man „Südmeer“ nannte. Aktiv und unternehmungsfreudig wie stets, erkundeten die Spanier die pazifische Westküste des Kontinents; auf diese Weise kam Francisco Pizarro nach Perú (damals Birú genannt). Pizarro, vom Eroberer Mexicos und Bezwinger der Azteken in Tenóchtitlan (das heutige Mexico-Stadt), Hernando Cortéz, dem Königshaus wärmstens empfohlen, erhielt den Titel eines Generalkapitäns und erreichte im zweiten Anlauf - nach einem vorherigen, desaströsen Versuch - die Küste des heutigen Perú, wo ihm und seinen 150 Soldaten (einige Quellen nennen die Zahl 180) ein Floß begegnete, das mit Menschen unbekannten Aussehens besetzt war und eine große Menge goldener Kunst- und Kultgegenstände transportierte. Für die Inka besaßen Edelmetalle keinerlei pekuniären Wert (Geld war übrigens unbekannt, es gab nur Tauschhandel), es diente lediglich Kunst- und sakralen Zwecken, und so gaben sie den Spaniern Gold als Begrüßungsgeschenk. Das war der Anfang, inwieweit die Sache später eskalierte, gehört nicht hierher. Gesagt sei dennoch: Unstreitig fanden im Laufe der Jahrzehnte von Eroberung und Bewirtschaftung Greueltaten statt, doch darf man bei deren Nennung und Bewertung nicht einseitig betrachten. „Die bösen Spanier“ trifft den Kern der Sache ebensowenig wie „Die guten Indianer“. Beidseitiges Betrachten der Medaille ist erforderlich. Doch damit genug.
Die zeitgeistig teils eskalierenden Methoden der wirtschaftlichen Nutzung der neuen Länder schlossen die entsetzliche Sklaverei mit ein. Cristóval Colón wurde auf seiner ersten Reise von einem Dominikaner-Bischof begleitet: Bartolomé de las Casas. Dieser machte sich zum Fürsprecher der indianischen Ethnien, regte schlußendlich an, die den schweren Arbeiten nicht gewachsenen Indianer durch Schwarzafrikaner zu ersetzen - im besten Willen, die Indianer zu schützen, initiierte er den Import eben schwarzafrikanischer Menschen und gilt daher (fälschlich) als „Vater der Sklaverei in Südamerika“.
Die Afrikaner, teils uralten Kulturen entstammend, brachten das Wissen um Funktion und Bau ihrer Musikinstrumente mit (als Beispiel sei die Marimba genannt) - und natürlich ihre Lieder und Melodien, die im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte sich mit den indianischen vermischten, sich gegenseitig inspirierten: Synkretismus.
Es entstand die Mischkultur der Kreolen (indianisch/afrikanisch), was wiederum ganz eigene Musikformen im Gefolge hatte. Dies ist neuerlich nur ein Beispiel, denn Südamerika - gemeint sind Ecuador, Perú und Bolivien im speziellen - wurde zum vielzitierten Schmelztiegel zahlreicher Ethnien, Völker und Kulturen ... sogar Chinesen, die Ende des 19. Jahrhunderts der große amerikanische Eisenbahn-Bauingenieur Henry Meiggs ins Land (Perú) holte, könnten ihre Spuren hinterlassen haben, was aber wiederum nicht belegt ist.
Und nicht zu vergessen der logischerweise starke spanische Einfluß: Aus Spanien kamen die Streich- und Zupfinstrumente, die Blechblasinstrumente sowie die Musikformen, die großzahlig arabisch/maurischen sowie persisch/farsischen Ursprungs waren. Die beliebtesten Zupfinstrumente Südamerikas, Gitarre (Guitarra) und Charango, brachten die Spanier mit (in Sachen Flöten konnte man zumindest den Indianern nicht Neues bieten). Der Charango seinerseits entstand aus der von den Spaniern in Land gebrachten Vihuela, einer sog. Kurzhalslautengitarre, sie sieht ungefähr aus wie eine „Minigitarre“. In Südamerika erfuhr dieses Instrument eine dreifache Wandlung: 1) Es entstand der „Quatro“ mit vier einfachen Saiten bespannt, 2) der „Charango de Madera“ mit Holzkorpus und vier Doppelsaiten, 3) der „Charango de Quirquincho“ mit Korpus aus einem Gürteltierpanzer und ebenfalls vier Doppelsaiten. Als seltene Sonderform sei noch der „Charengo“ genannt, eine bolivianische Kürbislaute mit fünf Doppelsaiten. Dann muß noch die „Arpa“ erwähnt werden: Die Arpa (spanisch für „Harfe“) existiert heute in zahlreichen Bauformen, die von Venezuela über Ecuador und Perú bis nach Paraguay gespielt wird. In der Regel besteht die Arpa (zumindest habe ich sie in Ayacucho [Perú] selbst so gesehen und aufgenommen) aus einem Resonanzkörper etwa in Form und Größe einer kleinen Badewanne, aus dem eine „liegende halbe Harfe“ emporwächst, die von unten nach oben gespielt wird (die Saiten liegen horizontal, aufsteigend).
Weitere Instrumente werde ich im nächsten Teil beschreiben.
Um das Thema „musikalischer Synkretismus“ zu beschließen, komme ich auf die schon erwähnten Polynesier zurück. Im 19. Jh. wurde die Südseeinsel Tokelau von einem peruanischen (!) Sklavenschiff heimgesucht und bis auf 80 Verbliebene entvölkert. Wohin man die bedauernswerten Menschen verfrachtet hat, konnte ich nicht eruieren. Denkbar und naheliegend aber ist, daß Perú und/oder Bolivien das Ziel war. Besonders Bolivien kommt in Betracht, weil bei Potosí enorm reiche Silbervorkommen abgebaut wurden („Silberberg von Potosí“) und billige Arbeitskräfte beständig gesucht waren... Ob, und wenn ja, wieviele Überlebende ihren Bestimmungsort erreichten, weiß man nicht, und es erscheint unwahrscheinlich, daß die Polynesier, so sie eben irgendwo in Südamerika ankamen, in der Lage waren, ihre reiche Musikkultur weiterzuführen...
Soweit die viel zu kurze und zu viele Einzelheiten notwendigerweise übergehende Einleitung in die südamerikanische Musik. Ich hoffe, dennoch ein wenig Interesse geweckt zu haben, den folgenden „Kapiteln“ Lesezeit zu widmen. Im zweiten Teil werde ich die Instrumente vorstellen, die heute in der synkretisierten Musik erklingen und auch einige mythologisch basierte Besonderheiten nennen.
Gruß: Winfried