Ich muss zugeben, dass es mir widerstrebt, wie bei Kritikern beliebt für musikalische Interpretationen so etwas wie Schulnoten zu verteilen. Dahinter steckt nicht nur der hilflose Versuch, Qualitatives zu quantifizieren. Das Erteilen von Noten verschleiert zudem die hochkomplexe Wertung mit an sich heterogenen, unvergleichlichen Kriterien, die in ein solches Urteil eingehen. Letztlich sind Wertungen aber doch irgendwie unerlässlich, um eine gewisse Orientierung zu geben. Die folgende Werteskala spiegelt unvermeidlich die Zweideutigkeit, dass einmal die Qualität Grundlage der Bewertung ist, aber auch die Bedeutung einer Interpretation im absoluten wie interpretationsgeschichtlichen Sinne. So darf man keineswegs annehmen, dass eine Aufnahme, die 4 Sterne erhält, grundsätzlich irgendwie „schlechter“ sein müsse als eine andere mit 5 oder 6 Sternen. Der Unterschied liegt hier im wesentlichen in der Bedeutung eines Vorbildes für die heutige Zeit im Sinne von Maßstäben, die wir infolge der fortgeschrittenen Interpretationsgeschichte erheben und welche die betreffende Aufnahme exemplarisch und wegweisend verkörpert sowie meiner persönlichen Wertschätzung, die ich hier natürlich nicht in jedem einzelnen Fall begründen kann. Immerhin habe ich 9 persönliche Referenzen und 9 maßstabsetzende Aufnahmen ausgewählt
![Very Happy :D](./images/smilies/icon_biggrin.gif)
, was zeigt, dass ich durchaus nicht irgendwie dogmatisch festgelegt bin auf eine bestimmte Weltsicht in Sachen Chopin-Interpretation. Auch heißt das natürlich nicht, dass ich auf die anderen herausragenden Aufnahmen verzichten wollte oder könnte! Nein, als leidenschaftlicher Liebhaber des Klavierspiels bin ich regelrecht „süchtig“ nach ihnen allen!
![Laughing :lol:](./images/smilies/icon_lol.gif)
Es ist doch beglückend, dass es so viele musikalische Edelsteine zu entdecken gibt! Beispiel für das gewisse Wertungsdilemma: Cortots 4 Sterne. Man kann diesen Stil nicht nachahmen – insofern bleiben seine Aufnahmen historisch – was aber keineswegs bedeutet, dass sich nicht jeder ernsthafte Musiker mit ihm auseinandersetzen und auch der Musikliebhaber an dieser ungemein tiefschürfenden, existenzialistischen Deutung einfach vorbeigehen sollte. Drei der historischen Aufnahmen entziehen sich schlicht der Bewertung durch Noten – jeder Vergleich wäre hier unpassend. Auch die Aufnahmen auf historischen Instrumenten (Olejniczak, Stern) entziehen sich in vielerlei Hinsicht dem Vergleich mit dem, was ein moderner Konzertflügel erlaubt, nutzen aber die Möglichkeiten des Instruments exemplarisch mit einer zudem hervorragenden Interpretation, weswegen ich sie in die 5 Sterne-Kategorie eingeordnet habe.
Bewertungskriterien:
6 Sterne: Meine persönlichen Referenzen
5 Sterne: Bis heute maßstabsetzende Aufnahmen mit Vorbildcharakter
4 Sterne: Herausragende Interpretationen bleibender Gültigkeit
3-4 Sterne: Sehr gut
3 Sterne: Gut
2-3 Sterne: Akzeptabel – mit mehr oder weniger deutlichen Schwächen
2 Sterne: Mäßig
1 Stern: Sehr mäßig
Die Einteilung habe ich inzwischen geändert – die Rubrik Frauen als Interpreten eliminiert.
I. Historische Aufnahmen I: Hofmann, Paderewski, Friedman, de Greef, Grainger
II. Historische Aufnahmen II: Godowsky, Rachmaninow, Brailowsky, Cortot (3)
III. Die Deutschen: Kempff und Backhaus
IV. Poeten und Virtuosen I: Horowitz (2), Cziffra (3), Sherkassky
V. Artur Rubinstein (4)
VI. Arturo Benedetti Michelangeli (ABM) (7) (mit der Filmaufnahme der RAI)
VII. Emil Gilels (6)
VIII. Die polnische Schule: Askenase, Harasiewitz, Olejniczak (2)
IX. Chopin modern: Weissenberg (2), Argerich, Anda
X. Die neue Sachlichkeit: Barenboim, Vasary, Pollini (3), Ashkenazy
XI. Chopin angelsächsisch: Katchen, Kapell, Perahia, Katin, Shelley, Ohlsson, Fialkowska
XII. Bulva, Moravec, Andsnes, Stern
XIII. Poeten und Virtuosen II: Janis, Freire, Hamelin
XIV. Exzentriker und Individualisten: Francois, Pogorelich (2), Katsaris
XV. Die russische Schule: Neuhaus, Flier, Ginsburg, Berman, Gawrilow, Sokolov, Pletnev, Kissin, Kern
XVI. Die französische Schule: Nat, Perlemuter, Ousset, Biret, El Bacha, Grimaux
XVII. Die Youngstars: Lazić, Tokarev, Trpceski, Y. Wang
Aufschlüsselung nach Wertung (eingegangen sind 84 Aufnahmen):
6 Sterne (9 mal), 5 Sterne (9 mal), 4 Sterne (10 mal), 3-4 Sterne (8 mal), 3 Sterne (6 mal), 2-3 Sterne (9 mal), 2 Sterne (11 mal), 1 Stern (2 mal)
Wie man sieht – die vielen Sterne haben das Übergewicht! Die Wertung fällt insgesamt sehr positiv aus. Auf Anfrage – wenn Interesse besteht – stelle ich eine Kurzbewertung des betreffenden Interpreten ein.
6 Sterne: Meine persönlichen Referenzen
Horowitz (CBS 1962), Cziffra (EMI 1977), Rubinstein, Benedetti Michelangeli, Gilels, Anda, Pogorelich (Warschau 1980), Flier, Berman
5 Sterne: Bis heute maßstabsetzende Aufnahmen mit Vorbildcharakter
Weissenberg, Argerich, Pollini, Katchen, Perahia, Perlemuter, Kern
Auf historischem Instrument mustergültig interpretiert: Olejniczak, Stern
4 Sterne: Herausragende Interpretationen bleibender Gültigkeit
De Greef, Grainger, Rachmaninow, Brailowsky, Cortot, Horowitz (RCA 1950), Cziffra (1963), Sherkassky, Askenase, Francois
3-4 Sterne: Sehr gut
Godowsky, Kempff, Backhaus, Pollini (DGG 2007), Janis, Pogorelich (DGG 1981), Neuhaus, Kissin
3 Sterne: Gut
Barenboim, Fialkowska, Moravec, Hamelin, Biret, El Bacha
2-3 Sterne: Akzeptabel – mit mehr oder weniger deutlichen Schwächen
Harasiewicz, Vasary, Ashkenazy, Ohlsson, Freire, Katsaris, Ginsburg, Ousset, Wang
2 Sterne: Mäßig
Kapell, Shelley, Andsnes, Gawrilow, Sokolov, Pletnev, Nat, Grimaux, Lazić, Tokarev, Trpceski
1 Stern: Sehr mäßig
Katin, Bulva
Ohne Wertung: Hofmann (Rollenaufnahme), Paderewski (nur Trauermarsch), Friedman (nur Trauermarsch u. Presto-Finale)
Beste Grüße
Holger