Hommage à Debussy – zu seinem 150. Geburtstag

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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Dr. Holger Kaletha
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Hommage à Debussy – zu seinem 150. Geburtstag

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Der Thread soll ein Geburtstagsgruß an Debussy sein - jeder soll sich dazu aufgefordert fühlen, eine eigene, ganz persönliche "Hommage" (Beschreibung seines Lieblingsstücks o.ä.) hinzuzufügen, in der Form, die er möchte.
:D

Es gibt Musik, die umgibt den Musikfreund gleichsam wie ein ständiger Begleiter und führt ihn durch das Leben – ohne sie kann er nicht leben. Man braucht sie von Zeit zu Zeit zu hören – oder zu spielen, wenn man ein Musikinstrument wie das für Debussy so wichtige Klavier beherrscht –, sie ist einem also einverleibt als ständiges „Bedürfnis“. So geht es mir mit Claude Debussy schon seit meiner Jugend. Einmal gehört – und man ist gefesselt und gefangen, Liebe auf den ersten Blick sozusagen. Arturo Benedetti Michelangeli, zusammen mit Walter Gieseking der wohl größte Interpret seiner Klaviermusik, sagte über Debussy: Das wäre „seine“ Musik gewesen von Anfang an.

Was also macht das Besondere dieser Musik aus? „Impressionismus“ nennt man diesen von Debussy begründeten Musikstil. Und der Vergleich mit der Malerei ist in der Tat sprechend – die „Impression“, der „Eindruck“ ist es, der einen sofort einnimmt. Claude Monet malt eigentlich „nichtssagende“ Motive – ein Gewässer im Vordergrund, eine Allee Bäume und ein Haus. Nicht diese „Gegenstände“ sind es, welche rein gar nichts irgend wie Großartiges „bedeuten“ könnten, welche ein impressionistisches Bild so außergewöhnlich machen. Dass man seinen Anblick nie mehr vergisst, liegt an dem Eindruck, den es vermittelt: Die Welt erscheint wie neu geschaffen, als erblicke man alles wie zum ersten Mal, mit den Augen eines Neugeborenen sozusagen. Es ist genau diese Frische, Unverbrauchtheit, die einen auch bei Debussys Klängen sofort gefangen nimmt: Man taucht ganz ein und unter in den „Augenblick“ des Erklingens – aber gerade nicht im Sinne einer Fesselung, vielmehr einer Kraft der Faszination, die ein nahezu unendliches Freiheitsgefühl vermittelt. Debussys Klänge haben in ihrer dem Augenblick verhafteten Selbstgenügsamkeit jede Erdenschwere verloren, in Ihrer Losgelöstheit lassen sie die Phantasie in die Ferne schweifen; diese Musik aktiviert alle Sinne; Klang ist hier wie ein alles durchflutendes „Licht“, das auf etwas blicken lässt: Das Hören wird gleichsam „sehend“, indem es sinnliche Eindrücke vermittelt.

Nichts könnte dies wohl besser vermitteln als Debussys Beschreibung seiner „Nocturnes“ für Orchester:

„Der Titel Nocturnes will hier in allgemeiner und vor allem mehr dekorativer Bedeutung verstanden werden. Es handelt sich hier also nicht um die übliche des Nocturno, sondern um alle Eindrücke und speziellen Beleuchtungen, die in diesem Wort enthalten sein könnten. Nuages: Das ist der Anblick des unbeweglichen Himmels mit dem langsamen und melancholischen Zug der Wolken, zuletzt ein graues Verlöschen, mit sanften weißen Tönungen. Fêtes: das ist die Bewegung, der tanzende Rhythmus der Atmosphäre mit grell aufblitzendem Licht: es ist auch die visionäre, blendende Episode eines Aufzugs von phantastischen Gestalten, der sich durch das Fest bewegt und in ihm verschwindet, aber das Grundmotiv bleibt hartnäckig bestehen, und es ist immer das Fest und seine Mischung von Musik und leuchtendem Staub, die am Gesamtrhythmus teilhat. Sirènes: das ist das Meer und sein unendlicher Rhythmus; dann erklingt, lacht und vergeht aus den vom Mondlicht versilberten Wellen der geheimnisvolle Gesang der Sirenen.“

In Homers „Odyssee“ verstopft Odysseus der Mannschaft seines Schiffes die Ohren, damit sie nicht der Verführungskraft der Sirenen erliegen. Er selbst bindet sich an den Mast und hört ihnen so ungefährdet zu. Auch bei Debussy bleiben die Ohren und Augen offen, die verführerischen Rhythmen des Meeres – man genießt sie schauend und zuschauend gleichsam aus der Ferne, wie die Prozessionsszene in Fêtes. In Debussys impressionistischem Ästhetizismus steckt in der Tat etwas Homerisches, weht der Geist des alten Griechenlands: Das erhabene Glück der Götter besteht nach Homer darin, Zuschauer des Weltgeschehens zu sein, in das „Schicksal“ nicht verwickelt zu werden wie die Menschen unten auf der Erde. Genau das macht Debussys visionäre Eindrücke so anziehend: Diese Musik „erdrückt“ uns nicht, sie rückt uns nicht „auf die Pelle“, wahrt die glückliche Distanz der Lust des Schauens und Zuschauens, feiert gleichsam sich selbst und darin den Genuss am schönen Schein des Erblickten.

Debussys Beschreibung offenbart aber auch die „Tiefe“ des Impressionismus – hinter der Oberfläche der bloßen Sinnesempfindung. Die vordergründigen Eindrücke haben stets einen Hintergrund, ein „Geheimnis“. Die Grenze von Impressionismus und Symbolismus – sie ist bei Debussy stets fließend. Anspielungen, Andeutungen bleiben als solche vage und unbestimmt, sie benennen keine Gegenstände in eindeutiger Weise und gehören deshalb zum Eindruck und seiner evozierenden Kraft, welcher die (Deutungs-)Phantasie erregt, die mit diesen symbolischen Verweisungen ein nahezu unendliches Spiel treiben kann. Debussys Beschreibung knüpft sich – wie er es selbst ausspricht – an das Wort, den Titel, der Eindrücke evozieren kann, d.h. ein Zeichen, welches die Phantasie nicht etwa beschränkt, sondern in ihrer Freiheit eines „Spiels“ mit assoziativen Andeutungen herausfordert. Das zeigt sich bei „Nuages“. Im Bild der ziehenden Wolken, einer ruhig-gleichförmigen Bewegung ohne Anfang und Ende, verbirgt sich das symbolistische Geheimnis der Darstellung des Ewigen in der Zeit. Der Zug der Wolken als eine herkunfts- und ziellose Bewegung, er ruft in uns ein Gefühl von Zeitenthobenheit hervor. Damit zeigt das ästhetische Erleben die geradezu magische Fähigkeit, die „Zeit in der Zeit“ aufzuheben – eine Formulierung von Friedrich Schiller. Doch verrät sich mit der leisen Melancholie dieses erhabenen Schönen zugleich die sehr irdische Vergänglichkeit eines eben doch nur scheinbar Zeitlos-Beständigen: Die Wolken lösen sich sanft auf ins grenzenlose Nichts. In die Erfahrung höchsten Glücks, dem rollenden Rad der Zeit entkommen zu sein, mischt sich also stille Trauer – zum impressionistischen Ästhetizismus gehört seine Gebrochenheit des Wissens um ein im Grunde nichtiges Sein, ein verführerisches und verlockendes Trugbilde: Auch das Schöne und Schönste zeitlosen Seins ist nur ein flüchtiger, vergehender Augenblick. Friedrich Nietzsche, dem Debussy in vielerlei Hinsicht ein Geistesverwandter ist, nannte dies eine „Artistenmetaphysik“. Metaphysik – die Erfassung transzendenten, bleibenden Seins, des „Ewigen“ jenseits der Zeit – ist in der positivistisch aufgeklärten Moderne nicht mehr außerhalb, sondern nur noch innerhalb des Erfahrbaren möglich: als eine Erfahrung der Kunst, in der Form der Erzeugung eines schönen Scheins.

„Es gibt keine Theorie: das Hören genügt: Das Vergnügen ist das Gesetz.“ Debussy, der in seinem Leben nie eine reguläre Schule besuchte, war ein absoluter Nonkonformist. Für ihn zählten keine Traditionen, keine noch so ehrwürdigen althergebrachten Regeln und Gesetze, nur das Anschauliche, der unmittelbare „Eindruck“, hat Bedeutung. Damit kommt der positivistische Grundzug des Impressionismus zum Vorschein, der Versuch das Erleben auf die „reine Erfahrung“ (Richard Avenarius) als dem „Positiven“, „Gegebenen“ zu reduzieren und alle erfahrungsfremden Zusätze als Substruktionen dieses unmittelbaren Erlebens zu eliminieren. „Bedeutungen“ – sie dürfen deshalb das ästhetische Erlebnis in keiner Weise bestimmen, ihm die Unmittelbarkeit und Voraussetzungslosigkeit des Augenblicklich-Eindrücklichen rauben. Nicht zufällig stehen die Titel von Debussys „Préludes“ nicht als Überschriften über dem Stück als bindende und verpflichtende programmatische Inhalte, sondern finden sich an seinem Ende in Klammern gesetzt (... Danseuses de Delphes). Andeutungen, Anspielungen, wovon die Préludes nur so wimmeln, sie sollen symbolistisch evozieren, aber nicht bezeichnen, das musikalische Ereignis damit nicht zur bloßen tonmalerischen Nachahmung eines direkt und eindeutig benannten Gegenständlichen werden. Was Debussy hier auf den Weg gebracht hat ist jene radikale „Entsemantisierung“ der Musik, wie sie schließlich die Neue Musik des 20. Jahrhunderts, insbesondere John Cage, proklamiert – mit den Worten von Günter Seubold: Traditionelles Komponieren verhindert mit seiner „>Sinn-gebung< (...) gerade, dass man den Klang als Klang – in seinem materialen Erscheinen – zur Kenntnis nimmt, er verhindert, dass wir uns ganz auf den Klang einlassen, nur auf ihn! Wir suchen den Sinn in oder hinter der Musik ... statt auf den Klang zu hören.“ Cages revolutionäre, radikale Abstraktion der Musik vom Sinn und Reduktion auf den reinen Klang – ansatzweise nachvollziehen kann man sie bereits in Debussys Klavieretüde Pour les sonorités opposées (Douze Etudes, Nr. 10). Der Titel deutet es an: Es geht hier im wesentlichen um „Klänge“ und ihre Beziehungen zueinander. Doch „eigentlich“ beginnt dieses Stück mit einem Trauermarsch. Debussys Impressionismus macht ihn jedoch nahezu unkenntlich; die Musik sucht also nicht nach dem Sinn im Klang, sondern umgekehrt nach dem Klang im Sinn: Übrig bleibt so, gereinigt von jeder konventionellen Bedeutung, vom ordinären Trauermarsch nahezu nichts als der reine Eindruck eines Leblosen und Starren.

Ein weiterer – zentraler – Aspekt dieser Abstraktion eines reinen „Klang“-Erlebnisses bei Debussy ist die Autonomie der Kunst, eine Hermetik des Schönen, die musikalische Vokabeln der „Umgangssprache“ zwar durchaus gerne verwendet, sie dabei aber in artifizielle Konstrukte verwandelt. Debussy hasste jede Art von Trivialität – mit seinem Lieblingsdichter Stephane Mallarmé war er Anhänger einer „poétique absolu“. Das Niedere und Gemeine – es wird aufgenommen wie ein Bruchstück, um dann unter vollständiger Missachtung seiner Alltagslogik zusammengefügt zu werden zu einem reinen Kunstprodukt. In seinem Prélude Les collines d´Anacapri (Heft 1, Nr. 5) findet sich dafür ein signifikantes Beispiel: Dort gibt es einen musikalischen Schnipsel von „Pop“-Musik, nicht zuletzt angedeutet mit der Spielanweisung avec la liberté d´une chanson populaire. Doch wie Debussy dieses „Zitat“ von Popularmusik behandelt, zeugt von absoluter Respektlosigkeit seinem Inhalt gegenüber. Es wird voll und ganz den abstrakten Gesetzen der Komposition untergeordnet – die Phrase wird zunächst in ihre Elemente zerlegt und dann völlig „unnatürlich“ wieder zusammengesetzt. Den Impressionisten interessiert an diesem verfremdeten Chanson-Schnipsel lediglich die Bewegung, das „Klangmaterial“, mit dem sich „arbeiten“ lässt, wie mit einem unbehauenen Brocken aus dem Steinbruch, mit dem einzigen Ziel und Zweck, einen bestimmten Eindruck zu erzeugen. Auch hier ergibt sich eine aufschlussreiche Parallele zu Entwicklungen in der Malerei, nämlich zur Emanzipation des Bildeindrucks in der modernen Kunst: Die impressionistischen Maler stellen Gegenstände zwar noch dar, aber ohne sie dabei „naturgetreu“ abzubilden: Ihre Anordnung und farbliche Synthese folgt den freien Regeln der Bildkomposition und nicht mehr verbindlich denen in der „Wirklichkeit“ vorgegebenen.

Was viele Hörer an Debussy immer wieder fasziniert hat und bis heute fasziniert, ist die „Naturhaftigkeit“ dieser Musik. So meinte Jean Cocteau, Debussy existierte bereits vor Debussy, nämlich in den Wundern der Formen und Klänge der Natur. Debussy „naturalisiert“ den musikalischen Ausdruck – exemplarisch nachvollziehen lässt sich dies wiederum an einem seiner Préludes, Ce qu´a vu le vent d´Ouest (Heft 1, Nr. 7: „Das, was der Westwind gesehen hat“) – eine seiner kühnsten Kompositionen mit einer Harmonik, die bis zum Atonalen geht. Die bezeichnende Vortragsanweisung ist Animé et tumultueux. Ein hochdramatisches Stück – das Bild, welches man dabei evozieren kann, ist das von solchen vom Westwind aufgewühlten und aufgepeitschten Wellen, die gegen die Felsen an der Steilküste prallen und von dieser gewaltigen Bewegung des Anprallens regelrecht zerschmettert werden. Will man nun musikalische Parallelen heranziehen, dann drängt sich vor allem Beethovens „Appassionata“ (Klaviersonate op. 57) auf: Auch dort gibt es einen gewaltigen „Tumult“, ein Chaos von Leidenschaften und Affekten, welches den Hörer in einer Art Strudel mitreißt. Doch trennen Debussys dramatisch aufgewühlte See und Beethovens Seelendrama musikalische Welten: Beethovens Ausdrucksexzesse erdrücken nahezu mit ihrer Ausdrucksgewalt, weil die Musik dem Hörer viel zu nahe kommt. Bei Debussy dagegen bleibt bei aller Vehemenz stets die Distanz des Schauens auf ein reines Naturgeschehen erhalten: Wind, Meer und Wellen, sie betreiben ein zerstörerisches Spiel – aber dieses Naturgeschehen ist längst kein romantisches „Seelendrama“ mehr, wo der Sturm draußen in der Natur lediglich zum Spiegel von Geschehnissen des subjektiven Inneren wird, zum Reflex einer stürmischen Seelenbewegung, wie in Franz Liszts Klavierstück „Orage“ (Gewitter) aus den Années de Pèlerinage. Das als Motto vorangestellte Byron-Gedicht benennt ausdrücklich die Reflexion des Subjektiven im Objektiven, die Ver- und Auswechselbarkeit des inneren und äußeren Geschehens: "But where of ye, oh tempests! Is the goal?/ Are ye like those within the human breast? (…)” Diese romantisch typische reflexive „Subjektivierung” des Naturerlebens, sie entfällt bei Debussy. Für Ortega y Gasset gehört Debussy deshalb in die antihumanistische Bewegung moderner Kunst, das Objektive an die Stelle des Subjektiven zu setzen:

„Seit Debussy kann man die Musik in heiterem Gleichmut, ohne Trunkenheit und Tränen anhören. Alle neuen Zielsetzungen, die es in den letzten Jahrzehnten in der Kunst der Töne gab, fußen auf dem neuen Erdreich jenseits der Erde, das Debussys Genialität erobert hat. Dieser Wendung vom Subjektiven zum Objektiven ist von solcher Bedeutung, dass ihr gegenüber die späteren Spaltungen verschwinden. Debussy reinigte die Musik vom Menschlichen; darum datiert von ihm an die neue musikalische Ära.“

Debussy – immer wieder wird er von namhaften Komponisten des 20. Jahrhunderts als „Vorläufer“ reklamiert, seien es nun Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen oder auch Dieter Schnebel, dessen Analyse von Debussys Prélude Brouillards (Heft 2, Nr. 1 „Nebel“) die musikalische Analyse überhaupt revolutionieren will: Musik als eine Synthese nur noch von reinen Klangereignissen. Man sollte jedoch nicht nur auf das schauen, was Debussy alles vorbereitet und beeinflusst hat – vom musikalischen Strukturalismus über die abstrakte Klangkomposition bis hin zum Jazz –, sondern was seine Musik tatsächlich ist. Dass Debussys Musik das „Subjektive“, also die Ausdrucksdimension, generell eliminiere zugunsten der Wahrnehmung eines „objektiven“ Naturgeschehens, ist eine zwar nicht unzutreffende, aber in ihrer Ausschließlichkeit doch höchst einseitige Betrachtung. Das Phänomen Debussy ist weit komplexer als es nicht zuletzt die feuilletonistisch allzu sehr strapazierte, schablonenhafte Gegenüberstellung von „Im-“ und „Ex-“pressionismus, von „Eindrucks-“ und „Ausdrucks-“Kunst, suggeriert.

Die „naive“ Vorstellung vom musikalischen Impressionismus, wonach Debussy das musikalische Hören auf die abstrakte Wahrnehmung von Sinneseindrücken reduziert habe in der Eliminierung ihrer Ausdrucksfähigkeit, entpuppt sich sehr schnell als Klischee – dem unbefangenen Hörer und Spieler wird dies sofort einleuchten, etwa am Beispiel des Prélude Des pas sur la neige (Heft 1, Nr. 6: „Spuren im Schnee“) – ein wahres Meisterwerk großer musikalischer Ausdruckskunst. Im französischen Original steht „sur“ und nicht „dans“ la neige – wörtlich „auf dem Schnee“. Dies erlaubt das assoziative Spiel mit dem Wortsinn: „Eindruck“ einmal im bildhaften Sinne eines Ein- und Abdrucks eines Fußes „auf“ der Schneedecke wie auch zugleich des Eindrucks im Sinne der Empfindung. Fußspuren, die sich in einer Schneewüste verlieren – das Bild gibt eine Stimmung der Verlorenheit und Verlassenheit wieder. Und diese vermittelt sich keineswegs nur durch sinnliche Tonreize, Klangfarben, „valeurs“, die Harmonik, sondern die komplette musikalische Textur, das Zusammenspiel sämtlicher musikalischer Parameter, wodurch der Eindruck schließlich im ganzen eine Ausdrucksdimension bekommt. Wer sich einmal an dieses Stück auf dem Klavier herangewagt hat, der wird die Schwierigkeiten kennen, mit den Asymmetrien von Rhythmus und Metrum klar zu kommen: Wie sich die zusammenhängende Spur in vereinzelte Fußabdrücke in der Schneewüste auflöst, so zerstören die monotonen Gongschläge der Begleitung immer wieder den Versuch der klagenden Melodie, sich zu einer raumgreifenden Phrase zusammenzuschließen. Die musikalischen Sprachebenen kommunizieren nicht miteinander, sie reden gleichsam verlassen und alleine neben einander her – und genau das verleiht schließlich dem Klang die Dimension unausgefüllter Leere. Sehr treffend gibt dies die Analyse von Jürgen Uhde und Renate Wieland wieder: Die klagende Melodie „ist sehnsüchtig bestrebt, sich zu großer Linie zusammenzuschließen, was misslingt, und eben in solchem Misslingen gelingt erst jener ohnmächtige, passivische Klang der Melodie. Sie widerspricht sowohl dem Gongelement mit seinem rhythmischen Gleichmaß als auch den metrisch zögernden Schritten: sie will im Grunde überhaupt kein Metrum. Wie voneinander unabhängig wären diese drei Sphären darzustellen, so als redeten sie nicht miteinander, als kommunizierten sie nicht; im Für-sich-sein jeder einzelnen erscheint der Charakter der Verlassenheit, in der Divergenz der drei entsteht der Klang der Weite. Wieder ist der Klang durch Zeit bestimmt; dass das Unvereinbare zuletzt dennoch übereinkommt, begründet sich wesentlich in gemeinsamer Zeittendenz: all das Ausklingen, Zögern, Deklamieren hört sich gleichsam selber nach.“ „Impression“ – bei Debussy bedeutet es also mitnichten Ausdruckslosigkeit, vielmehr im Falle des Evozierens von Stimmungen eine Verdichtung von Ausdruckssinn in der unmittelbaren Wahrnehmung, im erfüllten Augenblick.

Zum Schluss dieser Hommage soll wiederum Debussy selbst zu Wort kommen – prägnanter als in diesem Gespräch mit einem österreichischen Journalisten aus dem Jahre 1910 lässt sich das faszinierende „Phänomen Debussy“ wohl nicht in Worte fassen:

„... Ich revolutioniere nichts, ich demoliere nichts. Ich gehe ruhig meinen Weg und mache, anders als die Revolutionäre, keinerlei Propaganda für meine Ideen. Ich bin auch kein Wagner-Gegner. Wagner ist ein Genie, doch auch ein Genie kann sich irren. Wagner verkündet das Gesetz der Harmonie, ich bin für die Freiheit. Die wahre Freiheit kommt von der Natur. Alle Geräusche, die Sie um sich herum hören, lassen sich in Töne fassen. Man kann musikalisch alles ausdrücken, was ein feines Ohr im Rhythmus der Welt wahrnimmt, die es umgibt. Gewisse Leute wollen sich allererst nach Regeln richten. Ich für meinen Teil will nur das wiedergeben, was ich höre.

Es gibt keine Debussy-Schule. Ich habe keine Schüler. Ich bin ich.“


Herausragende Aufnahmen der besprochenen Musikstücke, die ich empfehlen kann:

Zunächst eine Platte – wohl die erste oder zweite Orchester-LP, die ich in meiner Jugend kaufte – die bis heute zu meinen Lieblingsaufnahmen zählt und zum Glück gerade wiederveröffentlicht wurde: Claudio Abbados großartige Einspielung der „Nocturnes“ mit dem Bosten Symphony Orchestra aus dem Jahre 1969 – seiner späteren mit den Berliner Philharmonikern (die auch in meiner Sammlung ist) deutlich vorzuziehen. Nur das Boston SO gelingt die rhythmisch vertrackte Tutti-Stelle in „Fêtes“ nach der Prozessionsszene. Zudem singt der Chor der Sirenen (der „ohne Worte“ nur die Lippen bewegt) wirklich mystisch und klingt nicht prosaisch derb wie die Dirnen von der Reeperbahn, wie – leider – bei vielen anderen guten Aufnahmen.

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Die Préludes – unverzichtbar und maßstabsetzend interpretatorisch wie in pianistischer Hinsicht die phänomenalen Aufnahmen von Walter Gieseking und Arturo Benedetti Michelangeli. In dieser Reihe nenne ich nur noch die wunderbare französische Altmeisterin Monique Haas – auch auf sie möchte ich um keinen Preis verzichten.

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Die für mich überzeugendste Einspielung der Etüden – ihrer überlegenen klanglichen und modernistischen Gestaltung wegen – ist die von Maurizio Pollini.

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Wer Debussy durch Debussy kennen lernen möchte, dem bietet sich die Möglichkeit, seine Rollenaufnahmen (Welte-Mignon) anzuhören. Über den Pianisten Debussy sagte Igor Strawinsky: „Mein Gott, wie schön spielt dieser Mann Klavier!“ Debussy spielt nicht nur ungeheuer farbig, was man von ihm sowieso erwartet, sondern wahrt immer die klare Linie – bestätigt damit eindrucksvoll Benedetti Michelangelis guten Rat: „Debussy muss man spielen wie Beethoven!“ Von wegen verwaschener Impressionismus! Der Meister war ein Präzisionsfanatiker und duldete keinerlei Schlamperei bei der interpretatorischen Ausführung – das ist jedenfalls überliefert. Leider sind die auch klanglich hervorragenden Intercord-Aufnahmen – auf einem Bösendorfer-Flügel reproduziert – nicht mehr erhältlich.

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Beste Grüße
Holger
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vincent kars
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Beitrag von vincent kars »

Debussy by Arturo Benedetti Michelangeli?
+100!
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

vincent kars hat geschrieben:Debussy by Arturo Benedetti Michelangeli?
+100!
Yes! :D
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Dr. Holger Kaletha
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Hommage à Debussy II. Die Sirenen

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Es ist zum erheblichen Teil den Musikern zu verdanken – vor allem den Komponisten der 50iger und 60iger Jahre, die sich der Serialität verschrieben hatten – dass Debussys impressionistische „Sinnlichkeit“ nicht nur als eine Form von effektvoller Kinomusik rezipiert, sondern gewissermaßen als die Initialzündung von „Neuer Musik“ begriffen wurde, eine Komposition mit reinen Klängen, Formen und Farben. Dies reflektiert noch einmal der 1981 erschienene, Debussy gewidmete Band der „Musik-Konzepte“. In dem Beitrag von Hans Rudolf Zeller „Von den Sirenen zu >...La sérénade interrompue“ heißt es über die Rezeption von Debussys Musik:

„...nicht die Komplexität der strukturellen Prozesse, sondern der typisch Debussysche Klanggestus wurden rezipiert und in gewisser Weise sogar produktiv verstanden, dass heißt ohne lang zu fragen in der Unterhaltungs- und Filmmusik ausgewertet, wie nur noch der Wagners. Erst im Zusammenhang mit den Klangkompositionen der fünfziger und sechziger Jahre, als Form wieder >Herzenssache< (Cage) war und die Komponisten sich in ihren Analysen auf ihre unmittelbare Hörerfahrung beriefen, entwarfen Essays und Analysen von Boulez, Schnebel, Eimert, Stockhausen ein neues Debussy-Bild, indem sie beschrieben, was eigentlich immer schon hätte gehört werden können.“

Eine „Analyse“, die nicht irgendwie scholastisch abstrakt konstruiert und rekonstruiert, sich vielmehr auf das Erlebte, die „unmittelbare Hörerfahrung“ beruft – in geradezu idealer, gelungener Weise führt dies der Beitrag von Dieter Schnebel vor Sirènes oder der Versuch einer sinnlichen Musik. Zu Debussys frühen Orchesterwerken.


http://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Schnebel

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Schnebel beginnt mit der Beschreibung des unmittelbaren Erlebens, des „ersten Eindrucks“ der Musik von Edgar Varèse und Claude Debussy, welche „leiblich erfahrbar“ mache, „was Klang ist, nämlich vibrierende Luft (...) man hört die Schwingungen nicht nur, sondern man spürt sie auf der Haut, so dass man solche Musik eigentlich ohne Kleider vernehmen sollte, um die Beschallung möglichst allseitig aufzunehmen; in die Klangfülle nicht nur mit den Ohren, sondern ganz einzutauchen.“ Es ist dieses sinnliche Vibrieren, das gleichsam physische Hin- und Herschwingen, was die „Struktur“ dieser Musik ausmacht: das Sinnliche und „Formale“ sind also keineswegs getrennte Dinge, sondern ein- und dasselbe. So prägt „L´Après-midi d´un Faune“ das „Hin und Her, durch das sich die Linien der Soloflöte schlängeln“. Dieses „erzeugt einen ständigen Wandel der atmosphärischen Dichte“. In „Fêtes“ aus den „Nocturnes“ ist es vornehmlich ein Vibrieren des Raumes, ein ständiger Wechsel von Nähe und Ferne, wie in der Prozessionsszene, wo das Geschehen vom Hörer wegrückt, um sich ihm dann wieder mit Macht zu nähern. Ähnliches gilt für die Sirenenstimmen in „Sirènes“: „Die Sirenentöne des Frauenchores steigen aus ihr (der wohligen Atmosphäre konturloser Klänge, d. Verf.) hervor und sinken auch wieder in sie zurück, so dass sich hier ein ähnliches Spiel ergibt wie in Fêtes das von Nähe und Ferne, wobei es allerdings heiße und mittägliche Luft ist, welche die Klänge ausdünstet und wieder aufsaugt.“ Schlechterdings alle musikalischen Ebenen werden von diesem atmosphärischen Vibrieren erfasst, die Formen, die Farben mit ihren „Temperaturen“ – das Changieren warmer und kalter Töne, wie auch die Rhythmen, die einen „periodischen Fluß des Pulses“ bilden.

Schnebels Beschreibung folgt hier sehr genau Debussys Vorstellungen über Musik – wie es sich anhand seiner Äußerungen nachvollziehen lässt. Debussy verfasste – meist polemisch-satirische – Zeitungskommentare über Musik unter dem Pseudonym „Monsieur Croche“ („Herr Achtelnote“) – die verschiedenen Texte und auch Interviews fasste er schließlich zu einem Buch zusammen, das aber erst nach seinem Tode 1920 veröffentlicht wurde. (Die deutsche Fassung, ein Reclam-Bändchen, ist leider vergriffen.).

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In einem Brief an seinen Verleger Durand schreibt Debussy über die „Images“ für Orchester, insbesondere „Rondes de Printemps“: „Es ist das Besondere der Musik dieses Stücks, dass sie immateriell ist, so dass man mit ihr nicht umgehen kann wie mit einer robusten Symphonie, die auf ihren vier Füßen geht (...) Übrigens erkenne ich immer mehr, dass die Musik ihrem Wesen nach nicht eine Sache ist, die man in eine strenge und überlieferte Form gießen kann. Sie besteht aus rhythmisierten Farben und Zeiten.“ An die Stelle fester, überlieferter Formschemen tritt die Struktur des Ton- und Klangphänomens selbst, das aus nichts anderem besteht als „rhythmisierten Farben und Zeiten“. „Ich möchte, dass man – dass ich zu einer Musik komme, die wirklich frei von Motiven oder aus einem einzigen kontinuierlichen Motiv gebildet ist, das durch nichts unterbrochen wird und niemals zu sich selbst zurückkehrt.“ Debussy ersetzt die Formhülsen, welche dem Werk Struktur und Gestalt geben sollen, durch ein Kontinuum, ein in seiner rhythmischen Verwandlung ständig präsentes Motiv – eine durchgehende unaufhörliche Bewegung, wie sie in den Lebensrhythmen der Natur zu beobachten ist.

In „Sirènes“ findet sich eine solche die Musik durchgehend strukturierende, kontinuierliche rhythmische Motivbewegung schließlich auskomponiert: „Das ganze Stück wird vom Auf und Ab eines Mikrogeflechts solcher auch als Vorhaltsbildungen und Vorschläge (vor allem vom Chor) zu interpretierenden Ganztonschritte bewegt.“ (Hans Rudolf Zeller) Anders als Filmmusik, welche eine Handlung lediglich mit Bildern „untermalt“, erzählt die Musik hier selber eine Geschichte – mit den vielgestaltigen Entwicklungen und Verwandlungen ihrer omnipräsenten rhythmischen Struktur. Dieter Schnebels Analyse der ersten Takte von „Sirènes“ lässt sich deshalb auch in eine Bildererzählung fassen – Debussys Musik ist keine bloße Dekoration sondern „absolute Musik“, welche ihre Geschichte selber vorführt, statt eine außermusikalische Handlung nur zu begleiten:

„Symbolischer – und unter assoziativer Erinnerung an analog klingende Vorgänge lässt sich der Schwingungsverlauf dieser elf ersten Takte der Sirènes – zumal wenn man die Tonhöhen berücksichtigt – auch folgendermaßen beschreiben: eine anrollende, aufspritzende Woge, die sich im Rückgang mäßigt, nochmals leicht wirbelnd nachläuft; dies ein zweites Mal, und nun ein allmähliches Einpendeln zu regelmäßig anbrandenden Wellen. Und wieder die aufspritzende Woge, die sich zur hin- und herrollenden Wellenbewegung sänftigt, diesmal aber in anderen Farben schillernd. Schließlich kommt noch das Fächeln des Windes hinzu. In alledem aber tönen die umschmeichelnden Rufe der Sirenen, erst fast unmerklich, dann zweimal kurz hörbar werdend und wieder verschwindend.“

Debussy kündigt die Fertigstellung der „Nocturnes“ mit den Worten an: „J´espère que ce sera de la musique en plein ciel et qui frissonera sous le grand coup d´aile du vent de la Liberté! “ (Debussy, Lettres 1884-1918) „Musique en plein ciel“ – Musik unter freiem Himmel“ – die musikalische Idee der „Nocturnes“ lässt sich in Verbindung bringen mit einer der ästhetischen Reflexionen von Monsieur Croche, „La musique en plein air“, „Musik im Freien“.

„Man könnte sich ein riesiges Orchester vorstellen, das durch die Mitwirkung menschlicher Stimmen noch erweitert würde (keinen „Gesangsverein“! Danke bestens). Und daher die Möglichkeit einer Musik, die eigens fürs „Freie“ geschaffen wäre, einer Musik der großen Linienzüge, der vokalen und instrumentalen Kühnheiten, die über den Wipfeln der Bäume im Licht der freien Luft spielten und schwebten. Eine solche Harmoniefolge erschiene in der Abgeschlossenheit des Konzertsaals befremdlich, hier aber könnte sie zu ihrer wahren Geltung kommen. Hier auch fände sich vielleicht das Mittel, sich aus den kleinlichen Formalien, den willkürlich festgelegten Klanglichkeiten zu lösen, die der Musik hemmend im Wege stehn.

Wohlverstanden: Es kommt dabei nicht auf die Arbeit „im Groben“ an, sondern „im Großen“; übersteigerte Klangwirkungen zu wiederholen und das Echo damit zu langweilen, darum geht es nicht. Man muß vielmehr die großen Klangwirkungen dazu benutzen, den Traum von Harmonie in der Seele der Menge zu vertiefen. Ein geheimnisvolles Ineinanderweben der wehenden Lüfte, des Säuselns der Blätter, des Blumendufts vollzöge sich, und die Musik könnte alle diese Elemente zu einer so vollkommenen natürlichen Einheit binden, dass es schiene, als hätte sie an jedem von ihnen teil.“


Das musikalische „Kontinuum“, das Debussy vorschwebt, vereinigt menschliche und natürliche Klänge, wobei das Band die Natur stiftet: der Chor der Stimmen ist als die Erweiterung eines orchestralen Klangteppichs gedacht. Debussy will keinen „Gesangsverein“, keine Gesangs- und Geselligkeitskultur, sondern einen „naturhaften“ Gesang wie den der Sirenen. Die Sirenen, sie sind eigentlich Mischwesen aus Vogel- und Menschenleibern. Bei Debussy mischt sich entsprechend der stimmliche Klang mit den stimmlosen Tönen des Orchesters.

Was bewirkt dieser Stumme Gesang? Die Wahrnehmung der „reinen“ Stimme beseitigt den schroffen Betonungsakzent des Sprechtonfalls und macht damit den Gefühlsausdruck unendlich flexibel, befreit ihn aus der dem Wortausdruck anhaftenden Starre. Es entsteht auf diese Weise ein Kontinuum von „valeurs“, von Farb- und „Stimmungs“-Tönen der Stimme, welche das Farbenspiel der Naturtöne spiegelt. Das Verführerische des Sirenengesangs – es ist seine „Weichheit“, der Reiz des Versinkens in einem Wohlklang, ohne sich jedoch völlig in ihm zu verlieren, statt dessen zu „schillern“ in einer Ausdruckspalette zwischen schwelgerischer und ermattender Sehnsucht. Schnebels subtile Analyse gibt diese dämonische Ambivalenz und oszillierende Ausdrucksvielfalt der Sirenen treffend wieder:

„Tatsächlich wirken die summenden Frauenstimmen als solche der Sirenen, insofern sie nämlich in die Wellenbewegungen mit ihren warmen Spektren eingebettet sind, sowohl in die realen der schwingenden Luft, als auch in die symbolischen, welche eben diese darstellt. Nachdem die Sirenenlaute erst kaum wahrnehmbar mit dem „Spiel der Wellen“ vermischt erschienen, treten sie im folgenden drängender hervor. Eine schalmeiartige Figur des Englischhorns leitet in wirkliche Lockrufe über (Partitur S. 75, T. 3), die sich bald zu strömenden Gesängen steigern, welche von den Wellenfiguren der umgebenden Musik getragen werden. Die Wogen geraten kurz in Unruhe, während der die Stimmen verstummen (S. 83, T 3 f.); dann setzt der Gesang wieder ein, führt zu einem ersten schwelgerischen Höhepunkt (S. 87, Ziffer 5I und geht zurück, derweil sich das Jeux des Vagues beruhigt. Die siestaähnliche Stille (S. 85 „un peu plus lent“) wird von weichen Wellen durchzogen (Figuren in Terzparallelen, die alternierend durch die Instrumente wandern). Der Sirenengesang tönt „doux et soutenu“ – und eigentlich müde und schlaff, dadurch erst recht betörend (wieder die Nonenakkorde der naturtönigen Spektren und eine ähnliche Folge der Grundtöne zu Beginn: dort Fis, A, C, hier Des, C, A). Das „belebt sich hauptsächlich im Ausdruck“ (S. 91, Ziffer 6) und führt zu einem zweiten, allerdings rein instrumentalen Höhepunkt, während dessen die Stimmen pausieren (S. 93, Ziffer 7). Dem folgt nochmals das Spiel der Wellen zusammen mit dem müden Gesang, nun aber nicht „süß“, sondern „verhalten ausdrucksvoll“ (S. 95, Ziffer 8 ), bald auch drängend und nochmals in die ziehenden großen Melodien mündend, die sich jetzt endgültig verströmen (S. 101f.). „Doux et expressif“ ertönt ein letztes Mal die müde Stelle – in großer Ruhe (S. 106, T 2 f., über einem langstehenden Spektrum), befriedigt oder resigniert? In der Coda geht die Beruhigung weiter, „plus lent et en tetenant jusqu´à la fin“, währenddessen die Sirenentöne im allgemein zarten und fernen Klang und in den letzten Wellenbewegungen untergehn. Die Beschwörung des mythischen Gesangs der Sirenen durch Gestaltung ihrer Atmosphäre ist zu Ende und sie versinken in ihr, mit ihr.“

Nach Schnebel potenziert sich bei Debussy die Sinnlichkeit, indem „die Gestaltung von Schwingungsvorgängen“ in ihrer „besonderen semantischen Ausformung nochmals Sinnlichkeit“ darstellt. „Anders als die Musik Wagners drückt die Musik nicht Sinnlichkeit aus, vielmehr ist sie es. Sie spricht nicht von den Lockungen der Sirenen, sondern lässt sie selbst erscheinen.“ Dies umschreibt einmal mehr den „Impressionismus“ – es gibt nichts „hinter“ der vordergründigen Erscheinung, den „Eindrücken“, so wie sie sich darbieten – es gibt keinen Ausdruck eines verborgenen Inneren, an dessen Stelle tritt eine „Stimmung“, die sich durch die Harmonie und den Rhythmus der Klänge unmittelbar vermittelt in einer Impression – „phänomenologische Musik“. Gleichwohl – betont Schnebel – im Vergleich mit Wagners „Tristan und Isolde“ wirke dieser Sirenengesang kühl:

„Das mag einmal daran liegen, dass die Präsentation des unverhüllt Sinnlichen unsinnlich wirkt, ähnlich wie das Modell des Malers zum Abstraktum wird. Zum anderen nimmt die protokollierte Sinnlichkeit nur die Oberfläche auf, und die Aufnahme selbst geschieht emotionslos kühl. Ist im einen Fall der zu zahlende Preis die Erotik, so im anderen das Gefühl.“

Hier trifft sich Schnebel mit Ortega y Gasset, dem zufolge Debussys Musik den Weg vom Subjektiven zum Objektiven geht, die Musik „enthumanisiert“. Enthumanisierung bedeutet eine Naturalisierung des Ausdrucks: Die Sirenen verlieren ihr menschliches Antlitz und werden eins mit dem Meer – ihre „Sinnbilder der Lockung“ sind deshalb die „des Meeres selbst“.

Beste Grüße
Holger
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Guenni
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Beitrag von Guenni »

Sehr schön Holger deine breit angelegte Hommage an diesen wunderbaren Komponisten.

Welch großen Eindruck machmal das Reisen auf Menschen haben kann ist hinlänglich bekannt.
Bei Debussy war es wohl einmal initial andersherum gewesen.
Sein Kontakt mit javanesischer pentatonischer Musik (Gamelan) auf der Weltausstellung in Paris 1889 inspirierte ihn wohl zu etlichen Musikstücken.

Meine bislang immernoch hochgeliebte Gesamtaufnahme der Solo-Klavierwerke ist die Giesekings.
Das nun ausgerechnet ein deutscher Pianist in der Nachkriegszeit diese Kompositionen so genial interpretatorisch durchleuchtete, hat lange Zeit der nationalen Seele unserer französischen Nachbarn weh getan.
Gott sei Dank empfindet man solche Errungenschaften in der heutigen Zeit nun doch eher als Weltkulturerbe und beleuchtet solche Befindlichkeiten nicht mehr von der nationalen Seite aus.

Die ABM Aufnahmen schätze ich nun persönlich auch sehr hoch - freu mich nun aber auch nicht nur zuletzt für die französisch nationale Seele, dass ein junger Pianist ein beachtenswertes französisches Repertoir aufzuweisen hat.

Jean-Efflam Bavouzets Gesamteinspielung der Klavierwerke Debussy ist sehr zu empfehlen.
Klanglich auf dem heutigen Stand der Technik und bei Chandos sehr gut aufgehoben.
Ich muss gestehen, dass ich teilweise sogar diese Aufnahmen denen Giesekings vorziehe.
Zumal es für die Musik Debussy wichtig erscheinen mag klanglich feinste Nuancen zu transportieren.
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Guenni hat geschrieben: Die ABM Aufnahmen schätze ich nun persönlich auch sehr hoch - freu mich nun aber auch nicht nur zuletzt für die französisch nationale Seele, dass ein junger Pianist ein beachtenswertes französisches Repertoir aufzuweisen hat.

Jean-Efflam Bavouzets Gesamteinspielung der Klavierwerke Debussy ist sehr zu empfehlen.
Klanglich auf dem heutigen Stand der Technik und bei Chandos sehr gut aufgehoben.
Ich muss gestehen, dass ich teilweise sogar diese Aufnahmen denen Giesekings vorziehe.
Zumal es für die Musik Debussy wichtig erscheinen mag klanglich feinste Nuancen zu transportieren.
Hallo Guenni,

die Bavouzet-Aufnahmen habe ich schon länger im Blick - zuletzt von ihm eine wirklich hervorragende Aufnahme des Ravel-Klavierkonzertes für die linke Hand gehört - mit Esa-Peka Salonen (Youtube-Video). Auch die Aufnahme von Alain Planes wird sehr gelobt - zumindest einige CDs sind sogar auf einem Blüthner-Flügel aufgenommen, soviel ich weiß. Ich habe mir zuletzt die neu erschienene Aufnahme der "Preludes" mit Pierre-Laurant Aimard gekauft - bislang aber nur das erste Heft intensiv gehört. (Da werde ich noch berichten!) Das ist natürlich gut, aber auch bisweilen ein bisschen nüchtern. Da finde ich Michel Beroff (den man finde ich nicht vergessen sollte!) sinnlicher und farbiger - besonders das 1. Heft der Preludes ist wirklich sehr schön - die alte EMI-Aufnahme. Nicht immer ganz schlüssig freilich - aber das war meine erste Platte, mit der ich mit den "Preludes" Bekanntschaft machte. Später hat Beroff das Debussy-Klavierwerk noch einmal aufgenommen - bei Denon. Davon habe ich aber nur die Preludes Heft II - deutlich gewichtiger als in seiner alten EMI-Aufnahme. Das Denon-Label hat leider das Zeitliche gesegnet - zum Glück habe ich mir die Beroff EMI-Box noch "unter den Nagel" gerissen, bevor sie völlig "verramscht" wurde. Giesekings Pianistik ist natürlich singulär - sein Debussy hat eine ganz eigene Ästhetik. Ich finde immer wieder interessant, wie sehr doch auch die jüngere Pianistengeneration Gieseking noch schätzt. Bei Aimards Aufnahme der "Etüden" merkt man das und auch bei Pollinis Einspielung der Preludes (die finde ich auch ganz hervorragend!), in Nr. 2 "Voiles" gibt es eine "explosive" Stelle vor der Coda, die hat er sich bei Gieseking förmlich abgehört. Das ist aber auch sehr eindrucksvoll gestaltet, so daß es im Gedächtnis hängen bleibt.

Übrigens: Die Aufnahme der "Nocturnes" mit Abbado, die ich empfohlen habe, ist eine ideale Platte zum Testen von Anlagen, besonders "Sirenes" (Ich habe sie bei solchen Gelegenheiten immer dabei). Der Saal in Bosten hat relativ viel Hall (was für diese Musik ideal ist!), nur wenn die Wiedergabe sehr gut ist, kann man den Frauenchor in diesem Klangmeer orten. :cheers:

Beste Grüße
Holger
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Guenni
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Beitrag von Guenni »

die werde ich mir also auf jedenfall besorgen müssen.

Von Abbado habe ich nur die Pelléas et Mélisande Aufnahme - welche auch wunderbar ist - auch klanglich. Leider habe ich da keine andere Aufnahme von, um sie einzustufen oder zu bewerten. Auch die Partitur liegt mir leider nicht vor.

Momentan hatte ich auch - neugierig durch die Bavouzet Gesamteinspielung - diese
Debussy: String Quartet - Piano Trio - Bavouzet - Brodsky Quartet - Chandos

werde nochmal heute genauer reinhören; gefiel mir jedoch spontan zunächst sehr gut.
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Guenni hat geschrieben:die werde ich mir also auf jedenfall besorgen müssen.

Von Abbado habe ich nur die Pelléas et Mélisande Aufnahme - welche auch wunderbar ist - auch klanglich. Leider habe ich da keine andere Aufnahme von, um sie einzustufen oder zu bewerten. Auch die Partitur liegt mir leider nicht vor.

Momentan hatte ich auch - neugierig durch die Bavouzet Gesamteinspielung - diese
Debussy: String Quartet - Piano Trio - Bavouzet - Brodsky Quartet - Chandos

werde nochmal heute genauer reinhören; gefiel mir jedoch spontan zunächst sehr gut.
Hallo Guenni,

Du meinst die komplette Oper? Da habe ich Boulez (CBS), die ist mir aber ein bisschen zu rationalistisch kühl. Deswegen dachte ich auch schon daran, mir entweder die Aufnahme von Abbado oder Haitink zu besorgen als Alternative. Das Streichquartett und das Trio sind ganz wunderbare Stücke - von den Quartetten von Debussy und Ravel habe ich eine wirklich wunderbare Aufnahme mit dem Fine-Arts-Quartett (Lodia-CD) - die ist leider nicht mehr zu bekommen, steht nur noch auf der Homepage des Ensembles.

Beste Grüße
Holger
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Beitrag von Guenni »

Genau - die komplette Oper.
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ha und die Abbado habe ich doch. Nur steht Sie bei mir tatsächlich bei Raval und hat ein anderes Cover.
Muss also schon länger im Bestand sein.
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Dr. Holger Kaletha
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Pierre-Laurant Aimard - Debussy, Préludes Heft I & II

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

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Pierre-Laurant Aimard ist – wie es einst Monique Haas war, die sich zur Zeit von de Gaulle und Adenauer sehr für die deutsch-französische Aussöhnung einsetzte – ein französischer Pianist mit besonderen Beziehungen zu Deutschland: Auch er verbindet beide Nationen, lehrt sowohl am Pariser Konservatorium als auch an der Kölner Hochschule für Musik. Es sind so vor allem die deutschen Kritiker, die in ihm gerne einen „Ausnahmepianisten“ sehen wollen, ihn mit Preisen überhäufen wie dem „Echo Klassik“, den er für seine Einspielung der „Images“ von Debussy erhielt. Ist diese Kür gerechtfertigt? Aimard, der in Paris bei Olivier Messiaens Ehefrau, der Pianistin Yvonne Loriot, studierte, galt lange als reiner Spezialist für Neue Musik. Inzwischen hat er sich mit niveauvollen Aufnahmen auch der Klassiker einen Namen gemacht: mit Bemerkenswertem wie einer vorzüglichen Aufnahme von Schumann oder auch die vom Konzept her anspruchsvolle Liszt-Platte. Aimard ist also sehr wohl ein universeller Pianist – und das tut sicher gerade den Préludes von Debussy gut mit ihren Beziehungen zu Chopin oder auch zu Schubert. Warum diese höchst respektable Aufnahme für mich trotzdem nicht zur „Avantgarde“ gehört – also in die erste Reihe mit Gieseking, Michelangeli, Monique Haas..., zeigt sich schon bei „Danseueses de Delphes“, mit dem das erste Heft beginnt: Es fehlt etwas der klare Aufbau, die sukzessive Entwicklung, Takt 1 ff. und Takt 7 ff. – Takt 7 ff. als Wiederholung des Anfangs mit Kontraststeigerung, Betonung der Gegensätze durch Kontrastierung der Akkorde, Weitung des Tonraums. Das Pedalspiel wirkt etwas unsauber, ihm gelingt doch nicht ganz ohne Abstriche die hohe Kunst, die bei Debussy verlangt ist, die „glasklare Mischung“, die ABM so vorzüglich beherrscht. Was sogleich auffällt – und später dann bei vielen anderen Stücken – ist die Kontrastarmut. Die dynamischen Extreme ebnet Aimard – mit oder ohne Plan, man weiß es nicht so recht – ein auf ein erträgliches Mittelmaß. Darunter leidet merklich die messerscharfe Charakteristik, welche besonders bei den Préludes Debussys unerlässlich ist – es fehlt auf diese Weise immer ein wenig an Plastizität und der letzten Verbindlichkeit des Ausdrucks. Aimard sucht den Mittelweg, vermeidet die Extreme in jeder Hinsicht. Sein Debussy hat so freilich keine Ecken und Kanten, bleibt stets im „akzeptablen“ Bereich, zweifellos angenehm zu hören, aber auch zuweilen etwas glatt. Dazu gesellt sich eine weitere Schwäche: Für rhythmische Figuren hat Aimard zwar Sinn, doch erstarren sie zur reinen „Struktur“, von der kein Bewegungsimpuls ausgeht. Und nicht zuletzt: Ausgewogen und durchaus klangschön ist sein Flügel, aber darüber hinaus findet man bei Aimard keine Offenbarungen in klangästhetischer Hinsicht, die im Unerhörten anzusiedeln wären oder in seine Nähe kämen. Michel Béroffs EMI-Einspielung etwa ist was die klangliche Seite angeht phantasievoller und anschlagstechnisch differenzierter. So gerät Aimard in „Danseuses de Delphes“ die Passage Takt 10 ff. mit den absteigenden Oktaven in der rechten und den aufsteigenden Dreiklängen in der linken Hand eher nüchtern und ein wenig hausbacken. Hier fehlen aufregende „Valeurs“ komplett, die einen bei ABM oder auch Pollini und Gieseking gefangen nehmen.

Gehen wir nun die einzelnen Préludes durch mit einer Kurzkritik, zunächst Heft I:

2. Voiles („Segel“). Aimards eher trocken-tonloser Vortag tritt etwas auf der Stelle. Die Einebnung dynamischer Kontraste geht damit zusammen, dass der Vortrag doch etwas arg „schlicht“ gerät und ein bisschen nichtssagend. Die Rhythmen bekommen kein Eigenleben, entfalten keine Dynamik wie in Monique Haas´ begeisterndem Spiel. Der Epilog mit den Harfen-Glissandi dagegen gefällt, sehr poetisch-zart.

Nr. 3: Da kann man nur sagen: Einfach sehr gut!

Nr. 4 (Les sons..., die Klänge und Düfte…). Es steht dort als Vortragsanweisung : harmonieux et souple („wohlklingend und geschmeidig“) Wohlklang und Geschmeidigkeit glaubt Aimard hier zu erreichen mit der Einebnung dynamischer Kontraste – auch die von Debussy sorgfältig notierten Tempowechsel werden nivelliert. Es mangelt zudem an einer schlüssigen Dramaturgie, dem Stück fehlt Einheit und Zusammenhang.

Nr. 5. Der sphärische Beginn (Très modéré (!)) und dann Komma, Takt 3 dann erst Vif), zu hastig. Beim chant populaire und seiner Parodie macht sich Aimards Schwäche, die unscharfe Charakterisierung, bemerkbar. Das ist einfach blaß im Ausdruck.

Nr. 6 (…Des pas sur la neige). Sehr überzeugend! Eine wunderbar ausgesungene klagende Melodie. Nach der expressiven Klage („expressif et tendre“, „expressiv und zartfühlend“) sehr schön ausgehört die gebrochenen, fahlen Harmonien der absteigenden Akkordlinie in der Reprise vor dem Epilog (a tempo)

Nr. 7. Die Wellen des Westwindes, die an den Felsen zerschlagen werden: Der große Steigerungsaufbau in seiner Dynamik zu schwach, insgesamt ist das einfach zu spannungslos und wenig dramatisch. Ein gezähmter Wind statt einem Sturm.

Nr. 8 (... La fille aux cheveux de lin, das Mädchen mit den linnenen Haaren). Die Vortragsanweisung ist sprechend : Très calme et doucement expressif: „Sehr ruhig und leise (friedlich) ausdrucksvoll“ – noch unterstrichen durch „p – sans rigeur – ohne Hast. Eine schlichte unscheinbare Melodie – Aimard tappt hier in die Falle des allzu Naiven. Worum es geht ist kontemplative Schlichtheit, die Ruhe dieser melodischen Linie, die weibliche Gelassenheit und Frieden ausstrahlen soll (wer denkt bei diesen Haaren nicht an Mélisande aus Debussys Oper!) als Kontrast zum tumultiösen Geschehen zuvor. Monique Haas trifft das wirklich vortrefflich: Sie gewichtet die Pausen; die Musik bekommt einen langen Atem und gewinnt so die Schönheit des erhabenen Ruhens im Moment.

Nr. 9 Das ist zwar nicht schlecht gestaltet, doch fehlt Aimards unterbrochener Serenade das Scharfkantige und damit Brüchige, Abrupte. Das Ende („Revenir aux Mouvt.“) langatmig, die Baßfiguren, die ABM so ausgekocht nuanciert spielt, ohne jede Differenzierung. (Auch Monique Haas differenziert nicht, hat dafür aber den rhythmischen Schwung.)

Nr. 10 (… La Cathédrale engloutie) Vortragsanweisung: dans une brume doucement sonore: in einem süßen und klangreichen Nebel. Hier zeigt er, daß er durchaus auch Fortissimo spielen kann – die dynamischen Einebnungen liegen also nicht an der Aufnahmetechnik oder dem Flügel, sondern gehen auf das Konto des Interpreten. Die mit doux et fluide überschriebene Passage auf der ersten Seite zu hölzern. Der Epilog (wie ein Echo zur vorher gehörten Phrase zu spielen, Debussys Spielanweisung) nicht ideal: Die Bässe zwar in sehr zartem pp, doch schweben die Akkorde der rechten Hand nicht darüber. Dadurch wird das Baßpianissimo banal.

Nr. 11 (... La danse de Puck) Das Stück wird im Charakter durch die Spielanweisung vorab definiert: Capricieux et léger. Bei Aimard ist das alles leicht und flüssig, aber nicht wirklich kapriziös. Wieder einmal fehlt die Kontrastschärfe, die dem Stück Charakter geben könnte.

Nr. 12 (....Minstrels) nerveux et avec humour: Humor hat Aimard, nur fehlt die Nervosität. Wieder mal geht Aimards Nüchternheit so etwas wie identifizierende Begeisterung ab.

Préludes Heft II

Die zweite Serie der Prélude beginnt Aimard französisch „vif“ – statt lautlos schleichenden Nebelschwaden pfeift ein kräftiger Wind über die Ebene, so als handelte es sich bei dem Motto um den Untertitel von Nr. 3 aus dem 1. Heft „Le vent dans la plaine“. Das Stück verliert so seine Dämonie.

Nr. 2: Das expressive Fallen der Herbstblätter wird zur blassen und vagen Stimmung. Es mangelt an der Prägnanz der Phrasierung (wie so oft!). Man hat nicht den Eindruck einer präzise gezeichneten musikalischen Miniatur, man vermisst das „Leben“ in den Details. Der dramatische Aufbau des Stückes ist in seiner Logik gründlich misslungen – keine dramatische Steigerung, die Musik tritt auf der Stelle.

Nr. 3 „La Puerta del Vino („Mouvement de Habanera“) – die Reminiszenz an das Spanien von Isaac Albeniz. Die grundlegende Schwäche von Aimards Vortrag ist, dass die Rhythmen sich nicht verdichten, keine insistierende Spannung in der Wiederholung entsteht. Die Musik plätschert so vor sich hin. In der Reprise („au Mouvement“) werden einmal mehr die Kontraste entschärft, – eigentlich gefordert ist f apré („scharfes Forte“) und dann ff – eine Egalisierung, die Debussys Intention einfach zuwider ist, der dem Stück als Charakterisierung voranstellt: avec de brusques oppositions d´extrême violence et de passioneé douceur – in der Art von Albeniz´ „Iberia“ zu spielen also, wo es extreme dynamische Kontraste gibt.

Nr. 4: Die tanzenden Feen huschen bei Aimard vorüber, so als wäre eigentlich nichts Besonderes geschehen. Die Leichtigkeit ist da, aber keine, die irgendwie „fesseln“ würde, den Reiz des Außergewöhnlichen hätte. Wieder einmal ist der Grund dafür eine zu vage Schärfe in der Phrasierung und eine wenig plastische Charakterisierung.

Nr. 5 Dieses Prélude ist eine Art Pendant zu Nr. 8 aus Heft 1, „La fille aux cheveux de lin“. Eine schlichte Schönheit, die man davor bewahren sollte, einfach nur naiv und banal zu wirken. Schlicht spielt das Aimard, doch das ist letztlich zu harmlos, ohne Gewicht, eine schöne kleine musikalische Nichtigkeit, mehr nicht.

Nr. 6 „General Lavine“ – das ist französisch-tänzerisch und leichtfüßig, aber es fehlt der ätzende Spott, die giftige Ironie. Einfach nur süffisant. Diese Harmlosigkeit kommt einmal mehr daher, dass Aimard die Kontraste einebnet. Es fehlen markante, kantige Gesichtszüge.

Nr. 7 Das Mondscheinstück gerät bei vielen allzu leicht zum kitschigen Abglanz längst verflossener Romantik, zum schmachtenden Dämmerlicht auf einer vergilbten Postkarte. Dem wirkt Aimard wohltuend entgegen durch die Wahrung des Rhythmus. Aimard müht sich hörbar um Expressivität – Schubert ist hier nicht fern, das hat er vielleicht bei ABM abgehört. Aber die dynamische Steigerung ist in ihrem Aufbau misslungen. Der große Spannungsbogen wird nicht bis zum Höhepunkt durchgehalten, sondern bricht zwischendurch ab.

Nr. 8 Es fehlt die bewusste, markante Phrasierung bei „Ondine“, dadurch wirkt der Beginn belanglos, eine allzu flüchtige Impression, die keinen bleibenden Eindruck hinterlässt. Abermals tritt der Rhythmus langatmig auf der Stelle.

Nr. 9 Die Parodie der englischen Nationalhymne, Variationen, die keine sind: Viel zu bieder und betuhlich-sorgfältig. Man vermisst hier den spöttischen Unterton, die ironische Schärfe. Bei den provozierend ins Leere laufenden Terzen, einem „offenen“ Crescendo, das einfach abbricht (f, dann piu f, weiter ff <) wird die dynamische Steigerung eingeebnet zum wiederholten Mal.

Nr. 10 Canope, die ägyptische Totenvase. Ein zu flüssiges Tempo, die Akkorde dadurch zu wenig bewusst gesetzt. Sie bekommen so kein Eigengewicht, wodurch der Eindruck von Totenstarre (Atomisierung der Akkorde in einer Phrase) gar nicht entsteht.. Gleichwohl gelingt es ihm, eine fahle Stimmung zu erzeugen.

Nr. 11. Die alternierenden Terzen. Offenbar hat Aimard ABMs Aufnahme studiert und realisiert, dass Debussy sowohl für Nr. 11 als auch Nr. 12 dasselbe „mäßig bewegte“ Tempo fordert („Modérément animé) und lässt sich so auch nicht wie so viele andere zu dem Pianistenehrgeiz verleiten, aus dem Stück eine Fingergeläufigkeitsetüde zu machen mit dem Ziel, einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. Die Terzen sind ja zudem nicht etwa als 32tel, sondern nur als 16tel notiert! (Daß die Tempo-Balance bei Zimerman und Co. absolut nicht stimmt, erkennt man allein daran, dass dann in Nr. 12 32tel Triolen und danach sogar 64tel notiert sind. Theoretisch müsste man also bei dem geforderten selben Tempo von Nr. 11 und 12 in Nr. 12 doppelt bzw. viermal so schnell spielen – was natürlich in überdrehtem Tempo völlig unmöglich ist. Wer also die Terzen in Nr. 11 sehr geschwind nimmt, der ist dann beim finalen Feuerwerk definitiv zu langsam.) Doch fehlt Aimard einfach die atemberaubende Präzision, die messerscharfe Charakterisierung und der Spannungsreichtum in den einzelnen Bewegungen des Großmeisters in Sachen Debussy. Aimards Vortrag zeigt: Je langsamer man hier spielt, desto präziser muß man gestalten. Aimards Terzen haben anders als die von Michelangeli keinen festen Körper – im adäquaten Tempo eher wattiert statt konturiert vorgetragen kommt so keine „Bewegung“ auf – der Vortrag gerät deshalb ein wenig langweilig.

Nr 12. Das Feuerwerk. Insgesamt fliegen seine finalen Feuerwerksraketen doch etwas flach ab – das alles bleibt relativ spannungslos, wenn es auch technisch makellos gespielt ist. Am Schluß – leider wieder einmal, eine unendliche Geschichte – die üblichen Lesefehler, auch wenn er sich zumindest im Ansatz bemüht, die Bewegungen in der linken Hand nicht zu unterschlagen. ABM hat hier vorgemacht, wie es richtig ist.

Beste Grüße
Holger
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