Plattentipps-Jazz u.a.

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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analog+
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Plattentipps-Jazz u.a.

Beitrag von analog+ »

Als Einstieg in die Plattentipps ausgerechnet die meistverkaufte Platte der Jazzgeschichte?

Jawohl, „Kind of Blue“ - auch deswegen, weil es dazu ein lesenswertes Buch von Ashley Kahn gibt, erschienen bei Rogner&Bernhard bei Zweitausendeins.
Darin erfährt man nicht nur Spannendes über die Aufnahmesitzungen und Interessantes zu Miles Davis, Bebop und Mercury; man findet auch die Honorarliste für die Musiker: 129,36$ für Davis, je 64,67$ für Adderley, Coltrane, Kelly und Evans, je 66,67$ für Chambers und Cobb.
Hätten die gewusst, was aus der Aufnahme mal werden würde, hätten die garantiert auf Honorar verzichtet und sich an den Einnahmen der Platte beteiligt...

Über John Coltrane (sax) braucht man nicht viel zu sagen.
Ein von mir oft gehörtes Stück möchte ich Euch mal ans Herz legen. Es findet sich auf der Platte „Selflessness“, aufgenommen beim 1963 er Jazzfestival in Newport, ein grandioses, expressives a-capella Solo. Minutenlang ein furioser Ritt durch die Harmonien: “I want to talk about you” (Impulse AS-9161). Welch ein Monolog!

Archie Shepp (sax) hat 1965 vor dem Hintergrund der Rassenunruhen in den USA eine bemerkenswerte Platte eingespielt, „Fire Music“ ( Impulse AS-86) .
Eindrucksvoll die Rezitation eines Gedichtes über MalcolmX, der Deckname eines Protagonisten der Afro-Amerikaner im Kampf für ihre Bürgerrechte: „Malcolm, Malcolm, Semper Malcolm“, begleitet von David Izenson am Bass.
Weniger bekannt aber sehr hörenswert dürfte auch eine Plattenserie sein, die er Anfang der siebziger Jahre in Paris eingespielte, „Pitchin can“ heißt eine davon (America 30 AM 6106).
Die Besetzungen sind ungewöhnlich: u.a. Bobby Few, Malachi Favours, Dave Burrell, Sunny Murray und Clifford Thornton spielen hier einträchtig zusammen, dazu Harmonica, Flügelhorn und Viola: Julio Finn, Al Shorter und Leroy Jenkins.

Ornette Coleman (sax) soll hier auch nicht fehlen.
Ebenfalls 1965 entstand in Stockholm „Live at the Golden Circle“ (Blue Note BLP 4225 ). Keine unbekannte Platte, erwähnen möchte ich sie aber trotzdem. Übergangslos kommt das Trio aus Coleman/Izenson/Moffett auf die Bühne, spielt und geht wieder – Free Jazz. Ich habe sie zum letzten Mal angehört als contradictio zu Pierre-Laurant Aimards stoisch eingespielter „Kunst der Fuge“ (DG 2008)...

Im Jazz werden häufig Themen gespielt basierend auf Volksliedern oder volkstümlichen Stücken. „Round Midnight“ ist eines davon, wohl jeder Jazzmusiker hat(te) das im Programm.
Auch Dollar Brand (p) spielte diesen Titel 1982 auf einer Soloaufnahme in Ludwigsburg
(da nannte er sich gerade schon Abdullah Ibrahim). „African Dawn“ heißt die Platte (Enja 4030).
Was der aus dem „Gassenhauer“ macht, sollte man sich mal anhören.

Augenzwinkernd verspielt hört man auf „Urban Bushman“ den Dschungel im Wohnzimmer, einer Platte des Art Ensemble of Chicago mit Lester Bowie. Es fiept, zwitschert und zirpt aus allen Ecken und Enden, Spaß und Spielfreude sind immens (ECM 1211/12). Eine Hommage an afrikanische Wurzeln?

Das Label MPS existierte nicht lange. (U.a.) im Kellerstudio des Villinger Einfamilienhauses eines der SABA-Mitinhaber entstanden etliche hervorragende Aufnahmen.
Der Trompeter Manfred Schoof spielte hier mit seinem New-Jazz-Trio die „Page One“ein, eine schnörkellose Produktion mit Cees See am Schlagzeug und dem leider viel zu früh verstorbenen Peter Trunk am Bass (MPS im Vertrieb der BASF(!)) .

Das Albert Mangelsdorff Quartett spielte auf dem Höhepunkt seines Schaffens auf „Never let it End“, den gleichnamigen „Spanish waltz for La Singla“, ein Stück für die legendäre an Krebs erkrankte Flamencosängerin La Singla. Für deren Operation hatten viele Musiker gespielt und Geld gesammelt (MPS 15274).
„The Wide Point“ ist eine weitere Produktion dieses übrigens auch unter Kollegen wegen seiner Menschlichkeit und seines Engagements hochgeschätzten Ausnahme-Posaunisten auf diesem Label (MPS 20 22569-0).
Hier ist er mit Elvin Jones und Palle Danielsson zu hören - mehr braucht man dazu nicht zu sagen.

Den Weltklasseschlagzeuger Jack DeJohnette als Komponisten erlebt man auf „Inflation Blues“( ECM 1244). Seine Band „Special Edition“ spielt Stücke, die alle von ihm stammen.
Sehr schön „Slowdown“, zunächst gehaucht, dann expressiv-vielstimmig, und dann wieder
zart ausklingend.

Und nun noch Keith Jarrett.
In seinen Solokonzerten ist mitunter das retardierende Moment allzu retardierend, er geht schließlich immer ohne festes Konzept an den Flügel, lässt sich inspirieren, reagiert zunehmend divenhafter auf die kleinste Unruhe im Saal, droht gar mit Abbruch des Konzerts.
... “Und dann spielt er noch einen jener hymnischen Choräle, in denen man seine Beschäftigung mit Bach ahnen kann und in denen eine Gospelseligkeit anklingt...In solchen Momenten könnte Keith Jarrett selbst dem lieben Gott die Tränen in die Augen treiben.“
( Aus der Kritik seines letztjährigen Frankfurter Konzerts im Berliner Tagesspiegel).
Treffender kann man das kaum formulieren.
Bach also. Außerdem spielte er Mozart, Händel und Shostakovich – in diesen Aufnahmen.
kann man hören, wie ein Jazzmusiker mit dieser Musik umgeht oder auch vielleicht nur umgehen kann; und auch, wie er sich auf dem schwierigen Terrain eines Cembalos bewegt (alles ECM-Produktionen).
Weniger bekannt sein dürfte eine Aufnahme von ihm im Duo mit Gideon Kremer auf der Violine, zu hören auf der Platte „Tabula Rasa“ von Arvo Pärt. „Fratres“ heißt das Stück (ECM 1275).

Kennt Ihr Xero Slingsby?
Wenn nicht, solltet ihr das nachholen.
Der englische Altsaxofonist aus Leeds und seine Band „Works“ spielen aberwitzig-brilliant so was wie Punk-Jazz oder Jazz-Punk oder was ähnliches.
Auf der Platte “Shove It” aus dem Essener Café Klick steht: “Xero Slingsby, Alto Saxophone, Associated Cacophony”…
Ich habe die mal live im Frankfurter Jazzkeller erlebt, bis heute erinnere ich mich an die artistische Art von Louis Colan Bass zu spielen.
Hörte es Euch an! (paan, LC 8613).

Und zum Schluß?
Jimi Hendrix. 1982 veröffentlichte die CBS bis dahin unveröffentlichte Konzertmitschnitte aus den Jahren 1968-70. Eindrucksvoll und für mich erinnerungsträchtig ist bei etlichen dieser Aufnahmen die Liveathmosphäre, das Brummen der Marshalls und das Flirren der Snare-Saiten Und auch wenn der ansonsten wirklich gute Mitch Miller manchmal schwer auf der Zählzeit hängt (zuviel Gras?) – eine wirklich hörenswerte Platte (CBS 88592).


So, ich denke jetzt reicht`s erst mal.
Später lege ich vielleicht noch mal nach (oder auf...) Bis dahin

Viele Grüße
Roland
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Rudolf
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Beitrag von Rudolf »

Hallo Roland,

Meine Liebe gilt ebenfalls dem Jazz, deshalb besten Dank für die bunt gemischten, hervorragenden Jazz-Tipps! Miles Davis' "Kind of Blue" darf natürlich in keiner Jazz-Sammlung fehlen. "African Dawn" von Abdullah Ibrahim (aka Dollar Brand) habe ich auch, allerdings nur auf Vinyl. Ein Grund mehr, mal wieder nach einem Plattendreher zu schielen. Die anderen Aufnahmen kenne ich (noch) nicht.

Ich bin gespannt, was du sonst noch auf Lager hast. :D

Viele Grüße
Rudolf
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analog+
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Beitrag von analog+ »

Hallo Rudolf,
es freut mich, dass Dir die Tipps gefallen haben.
Ich muss gestehen, das ist alles Vinyl ... Allerdings gibt`s etliche von denen auch auf CD. Wenn nicht sofort, dann vielleicht doch bald, auch wenn Reissues mitunter schlechter sind als das Original, natürlich auch die auf Vinyl. Denn auch bei den "Schwarzhörern" lockt ein Markt, zumal die, von Neuveröffentlichungen nicht gerade verwöhnt, gerne auch mal höhere Preise zahlen.
Aber:
Es gibt einen Digitalisierungsthread, vielleicht entstehen daraus ja brauchbare Lösungen.

Viele Grüsse
Roland
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