Franz Liszt hat 200ten Geburtstag

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Dr. Holger Kaletha
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Franz Liszt hat 200ten Geburtstag

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Dieses Jahr feiert Franz Liszt (1811-1886) seinen zweihundertsten Geburtstag. Liszt ist wohl der Inbegriff des romantischen Klaviervirtuosen überhaupt. Dieser Ruf ist aber wohl mehr Fluch als Segen. Den Komponisten Liszt hat man lange Zeit unterschätzt.

Maurice Ravel:

„Welche Mängel in Liszts ganzem Werk sind uns denn so wichtig? Sind nicht genügend Stärken in dem tumultuösen, siedenden, ungeheuren und großartigen Chaos musikalischer Materie, aus dem mehrere Generationen berühmter Generationen schöpften?“

Liszt war wahrlich einer großen Pioniere der Musikgeschichte. Was hat er alles vorbereitet? Den berühmten „Tristan“-Akkord hat Wagner von ihm „gestohlen“. Er erfand eine neue Musikgattung – die er auch theoretisch begründete – die „Symphonische Dichtung“, sein Spätwerk geht in Richtung Atonalität und Expressionismus. Wie kaum ein anderer Komponist vermochte er, in die Abgründe der menschlichen Seele zu leuchten.

Beginnen möchte ich mit seinen Klavierkonzerten. Gerade hier zeigt sich, dass er weit mehr zu bieten hat als nur Virtuosität. Liszts Konzerte sind ihrer Zeit voraus durch die Behandlung des Orchesters: Da wird nicht einfach das Klavier dem Orchester gegenübergestellt, sondern in dieses integriert, der Orchesterapparat selber individualisiert – die Sologeige, die hervortritt, so etwas gibt es dann wieder bei Claude Debussy. Neben den Klavierkonzerten Nr. 1 und 2 bekannt ist die virtuose Fantasie über ungarische Melodien sowie seine Transkription von Schuberts „Wandererfantasie“ für Klavier und Orchester. Diese ist für Liszt selbst ungemein wichtig, weil die Form der „Wandererfantasie“ (die Überblendung des Sonatensatzes mit der Satzfolge der Sonate) die Grundlage für den Aufbau seiner großen h-moll Sonate wurde. Der „Totentanz“ (Konzertparaphrase über „Dies irae“) ist Liszts technisch und musikalisch anspruchsvollstes Konzert

Herausragende Aufnahmen:

Konzerte Nr. 1 u. 2

Svjatoslav Richter und Kyrill Kondrashin (Philips): Liszt im Geiste von Berlioz „Fantastischer Symphonie“, ungeschminkt bis hin zur naturalistischen Drastik. Perfektes Zusammenspiel. Eine maßstabsetzende Aufnahme.

Lazar Berman und C. M. Guilini (DGG): Wunderbar ausgefeilt und hervorragend ausbalanciert mit den Orchester

George Cziffra mit G. Cziffra jun. (plus Ungarische Fantasie und Totentanz) : Ein absolutes „Muss“ für jeden Liszt-Liebhaber. Das virtuose Feuer und die improvisatorische Freizügigkeit des Zigeunerdaseins, dabei sehr kontrolliert gestaltet. Das Orchester ist hervorragend.

Krystian Zimerman und S. Ozawa (DGG) (plus „Totentanz“): Beeindruckend dämonisch-virtuos und musikalisch treffsicher

Klavierkonzert Nr. 1

Arturo Benedetti Michelagneli (Konzert Turin 1961 mit Rafael Kubelik): Liszt metaphysisch-klangsinnig, ein schier unglaublicher Triller gleich zu Beginn und im lyrischen Teil von einer Schönheit, die einen dahinschmelzen lässt.

Martha Argerich und Claudio Abbado: Einmalig furios! Umwerfend!

Dinu Lipatti (EMI): Bei Lipatti merkt man noch die Liszt-Tradition aus dem 19. Jahrhundert, der sehr episch-episodische Ansatz. Überragend!

Totentanz:

Arturo Benedetti Michelangeli: Absolut maßstabsetzend und unerreicht mit übermenschlicher Virtuosität und geistiger Durchdringung. ABM spielte den Totentanz u.a. im Vatikan, Papst Johannes der XXIII, mit dem er befreundet war, weilte unter den Zuhörern. (Die CDs der Vatikan-Konzerte sind von ihm autorisiert und veröffentlicht.)

„Wndererfantasie“:

Jorge Bolet in der Liszt-Box von Bolet (Decca)

Beste Grüße
Holger
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zatopek
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Beitrag von zatopek »

Hallo Holger,

vielen Dank, dass du eine Lanze für den leider doch unterschätzten Franz Liszt brichst. Ganz im Gegensatz zu den 200. Geburtstagen von Chopin und Schumann im vergangenen Jahr, scheint dieser Jahrestag fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattzufinden.

Vielleicht beleuchtet das aber auch die Crux mit Liszt. Nach meinem Empfinden ist er leider eine Art "Nischenkomponist" geblieben. Zu seiner Zeit ein oft gefeierter Klaviervirtuose haben seine Kompositionen bis auf wenige Ausnahmen doch kaum Eingang in den Kanon der "Meisterwerke" gefunden. Und populär sind sie heute ebenfalls nur noch im Ausnahmefall. Interessanterweise hats du ja selbst fast nur Klavierstücke benannt. Dass er ein sehr umfangreiches Chorwerk geschaffen hat, ist heute kaum noch bekannt.

Ich persönlich empfinde viele seiner Klavierstücke als reine "Virtuosenstücke". Werke, die technisch allerhöchste Anforderungen stellen, künstlerisch aber doch eher von bescheidenem Wert sind. Vielleicht sind sie noch am bedeutungsvollsten als Vorläufer der Moderne. Aber wie das bei Vorläufern einer neuen Musikrichtung so ist: oft haben sie nur noch historische Bedeutung, kaum noch künstlerische.

Übrigens: eine sehr gelungene Aufnahme des "Totentanzes" gibt es mit der Pianistin Valentina Lisitzka bei Youtube:

http://www.youtube.com/watch?v=zGBXA1tBiLw

Wer noch weitere Infos zu Liszt sucht, wir bei Wikipedia fündig; ein sehr ausführlicher und informativer Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Liszt

Viele Grüße,

Bernd
Malte
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Beitrag von Malte »

Hallo Holger,

danke für die Erinnerung an das Liszt-Gedächtnisjahr! Ich muss zugeben, dass ich zu Liszt ein gespaltenes Verhältnis habe, weil er für mich kein Meister des Orchestersatzes ist. Übertrieben gesagt, klingen viele seiner Werke, auch die Klavierkonzerte, für mich eher wie eine Komposition für Klavier, bei denen die Orchesterstimmen nachträglich hinzugefügt wurden. Auf der anderen Seite bewundere ich natürlich sein Gefühl für Stimmungen, seine virtuosen und brillanten Klavierkompositionen und seinen Einfallsreichtum.

Ich möchte noch einige ungewöhnliche Tonträger mit Liszt-Werken empfehlen und gleichzeitig daran erinnern, dass in Liszts Oeuvre auch noch so manche unentdeckte Perle schlummert.

Liszt als Liedkomponist

Wird gerne und oft unterschätzt, dabei hat er durchaus Wegweisendes für diese Gattung komponiert. Unter anderem verwendete er Gedichte und Texte von Heinrich Heine und Victor Hugo. Darunter finden sich auch bekannte Texte wie die "Loreley" und "Der König Thule" sowie "Am Rhein am schönen Strome", das in Schumanns Vertonung wohl am bekanntesten ist. Liszt schrieb hauptsächlich in deutsch, französisch und italienisch Lieder.

Mein Tipp: Liszt Complete Songs Vol.1 mit Adrian Eröd und Charles Spencer
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Auch Liszts Sakralwerke sind teilweise sehr interessant, da muss ich aber erst noch etwas heraussuchen. Fortsetzung folgt

Grüße

Malte
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

zatopek hat geschrieben:vielen Dank, dass du eine Lanze für den leider doch unterschätzten Franz Liszt brichst. Ganz im Gegensatz zu den 200. Geburtstagen von Chopin und Schumann im vergangenen Jahr, scheint dieser Jahrestag fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattzufinden.

Vielleicht beleuchtet das aber auch die Crux mit Liszt. Nach meinem Empfinden ist er leider eine Art "Nischenkomponist" geblieben. Zu seiner Zeit ein oft gefeierter Klaviervirtuose haben seine Kompositionen bis auf wenige Ausnahmen doch kaum Eingang in den Kanon der "Meisterwerke" gefunden. Und populär sind sie heute ebenfalls nur noch im Ausnahmefall. Interessanterweise hats du ja selbst fast nur Klavierstücke benannt. Dass er ein sehr umfangreiches Chorwerk geschaffen hat, ist heute kaum noch bekannt.
Hallo Bernd,

daß ich mit den Klavierkonzerten angefangen habe, war als "Auftakt" gedacht - es soll noch Weiteres natürlich folgen. Alles auf einmal, daß wäre bei Liszt, der so viele Facetten hat, einfach zu viel gewesen! Wobei wir bei der Rezeptionsgeschichte wären:

Das Liszt-Bild hat sich doch erheblich geändert. Die gewisse Geringschätzung, die Liszt erfahren hat als Komponist lange Zeit, hängt natürlich auch mit dem Weltanschauungsstreit zwischen "Neudeutschen" (der Partei von Wagner und Liszt) und "Formalisten" (Hanslick und Brahms) zusammen. Die "Symphonische Dichtung" als "Programmmusik" wurde von den Formalisten abgelehnt als Irrweg und entsprechend war die Wertschätzung seiner Orchesterweke mit programmatischem Inhalt gering. Heute sieht man Liszt doch ganz anders - die ungeheure Vielfältigkeit seines Schaffens. ich glaube, wenn man die Aufführungen von Liszts Werken sieht, dann nimmt er doch - bei den Klavierwerken - einen vorderen Platz ein.
zatopek hat geschrieben: Ich persönlich empfinde viele seiner Klavierstücke als reine "Virtuosenstücke". Werke, die technisch allerhöchste Anforderungen stellen, künstlerisch aber doch eher von bescheidenem Wert sind. Vielleicht sind sie noch am bedeutungsvollsten als Vorläufer der Moderne. Aber wie das bei Vorläufern einer neuen Musikrichtung so ist: oft haben sie nur noch historische Bedeutung, kaum noch künstlerische.
Genau das finde ich nun wird Liszt überhaupt nicht gerecht. Was ist z.B. mit seinen Klavieretüden? Er hat aus ihnen poetische Klavierstücke gemacht, davon zeugen Titel wie "Gnomenreigen" und "Waldesrauschen" z.B. oder "Paysage". Er hat die Gattung also aufgewertet, die Klavieretüde sozusagen "emanzipiert" als ernstzunehmendes Kunstwerk. Das gab es vorher - Chopin natürlich ausgenommen, die Chopin-Etüden spielte Liszt selbstverständlich! - nicht, wenn man an Czernys Fingergeläufigkeitsstudien denkt. Und in den "Ungarischen Rhapsodien" geht es auch nicht nur um Virtuosität, sondern auch um den Freiheitsdrang z.B. - die Zigeunerexistenz, das Verbotene ausleben zu dürfen. Und viele Werke sind überhaupt keine Virtuosenstücke wie die "Consolations" z.B., die kann (fast) jeder Hobbypianist vom Blatt spielen. Zentral sind die drei Zyklen "Annees de Pelerinage" mit ihrer Durchdringung von Literatur, bildender Kunst und Musik. Wer da "nur" Virtuose ist, dem entzieht sich diese Musik. Dann die große h-moll-Sonate, zu der Alfred Brendel sagt: "Die bedeutendste Sonatenkonzeption seit Schubert!" Sie gehört inzwischen zu den meistgespielten Werken. Selbst "moderne" Interpreten, die keine romantischen Virtuosen sind wie Maurizio Pollini z.B., haben sie aufgenommen und spielen sie immer wieder. Dann Liszts Spätwerk, das teilweise in Richtung Atonalität geht wie etwa die "Trauergondeln" oder "Nuages gris" oder das 3. Heft von "Annees de Pelerinage". Das sind in jeder Hinsicht kühne, neuartige Kompositionen, die sich vor Schönberg usw. gar nicht zu verstecken brauchen, im Gegenteil: "Jeux d´eau" von Ravel wäre nicht denkbar ohne Lizts Wasserspiele der Villa d´Este.
zatopek hat geschrieben: Übrigens: eine sehr gelungene Aufnahme des "Totentanzes" gibt es mit der Pianistin Valentina Lisitzka bei Youtube:

http://www.youtube.com/watch?v=zGBXA1tBiLw

Wer noch weitere Infos zu Liszt sucht, wir bei Wikipedia fündig; ein sehr ausführlicher und informativer Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Liszt
Der Wikipedia-Artikel ist sehr gut - und die Youtube-Videos natürlich toll! :D

Beste Grüße
Holger
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Malte hat geschrieben:Hallo Holger,

danke für die Erinnerung an das Liszt-Gedächtnisjahr! Ich muss zugeben, dass ich zu Liszt ein gespaltenes Verhältnis habe, weil er für mich kein Meister des Orchestersatzes ist. Übertrieben gesagt, klingen viele seiner Werke, auch die Klavierkonzerte, für mich eher wie eine Komposition für Klavier, bei denen die Orchesterstimmen nachträglich hinzugefügt wurden. Auf der anderen Seite bewundere ich natürlich sein Gefühl für Stimmungen, seine virtuosen und brillanten Klavierkompositionen und seinen Einfallsreichtum.

Ich möchte noch einige ungewöhnliche Tonträger mit Liszt-Werken empfehlen und gleichzeitig daran erinnern, dass in Liszts Oeuvre auch noch so manche unentdeckte Perle schlummert.
Hallo Malte,

Danke erst einmal für Deinen schönen und anregenden Beitrag! Zu Liszt bin ich gekommen, weil ich selbst Klavier spiele, das geschieht nahezu zwangsläufig. Man hört dann natürlich Horowitz, Cziffra, Arrau usw. Ein inniges Verhältnis zu ihm habe ich aber erst bekommen, als ich mir die großartige Aufnahme der "Annees de Pelerinage" von Lazar Berman gekauft hatte und einige Stücke daraus unbedingt selber spielen wollte und auch gespielt habe. Es gibt wirklich viele "unentdeckte Perlen" von Liszt, die "Anness.." gehören dazu!

Wer ist ein "Meister des Orchestersatzes"? Das ist eine schwierige Frage. Gustav Mahler meinte, Schumanns Orchestrierung sei "schlecht" und hat seine Symphonien neu orchestriert. Auch Janacek hatte den Ruf, schlecht zu orchestrieren. Aber stimmt das denn wirklich? Ist Liszts Faust-Symphonie oder "Les Preludes" schlecht orchestriert? Bei den Klavierkonzerten sind die Musikwissenschaft und auch viele Interpreten ganz anderer Meinung: Chopins Orchestrierung oder die von Brahms ist gegenüber Liszt geradezu konventionell um nicht zu sagen: bieder! Liszts 2. Klavierkonzert z.B. ist von einer fast schon kammermusikalischen Durchsichtigkeit: Der Orchesterapparat wird individualisiert, die einzelnen Instrumente spielen "Solo" und das Klavier ist nur noch ein Solist unter vielen. Das ist einfach sehr "modern". Das Ideal der Orchestrierung ist hier wohl doch eher das Streichquartett als das Klavier. Und Listzts Konzerte haben durchaus Schule gemacht: Auch Rachmaninows 2. Klavierkonzert z.B. integriert das Klavier in den Orchesterklang - was ihm prompt zum Vorwurf gemacht wurde, das sei für Pianisten unattraktiv!
Malte hat geschrieben: Liszt als Liedkomponist

Wird gerne und oft unterschätzt, dabei hat er durchaus Wegweisendes für diese Gattung komponiert. Unter anderem verwendete er Gedichte und Texte von Heinrich Heine und Victor Hugo. Darunter finden sich auch bekannte Texte wie die "Loreley" und "Der König Thule" sowie "Am Rhein am schönen Strome", das in Schumanns Vertonung wohl am bekanntesten ist. Liszt schrieb hauptsächlich in deutsch, französisch und italienisch Lieder.

Mein Tipp: Liszt Complete Songs Vol.1 mit Adrian Eröd und Charles Spencer
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Auch Liszts Sakralwerke sind teilweise sehr interessant, da muss ich aber erst noch etwas heraussuchen. Fortsetzung folgt
Da bin ich Dir wirklich sehr dankbar, daß Du auf den Liedkomponisten Liszt hinweist, der zu Unrecht zu wenig beachtet wird! Das sieht man schon daran, daß einige vorzügliche Aufnahmen gar nicht mehr zu bekommen sind. Eine meiner absoluten Lieblingsplatten: Liszt-Lieder mit Margerete Price und Cyprien Katsaris. Mit dem Label Teldec ist die Aufnahme verschwunden! (Sie singt u.a. die verschiedenen Fassungen von "Freudvoll-leidvoll"! Liszt-Lieder sind ja sehr schwer zu interpretieren, weil man genau die Mitte ziwschen Musikdrama und Kunstlied treffen muß. Das gelingt M. Price einfach ideal! Auch toll, die vergriffene Platte mit Brigitte Faßbänder und J.-Y. Thibaudet (Decca). Dann natürlich: Dietrich-Fischer Dieskau und Daniel Barenboim haben die kompletten Lieder eingespielt (DGG) Hochinteressant die Bezüge zwischen Lied und Lied ohne Worte, etwa bei den Petrarca-Sonnetten! Die besagte Platte habe ich leider nicht - wohl noch eine mit Quasthoff mit Brahms- und Liszt-Liedern. Auch sehr gut! :D

Beste Grüße
Holger
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Malte hat geschrieben: Auch Liszts Sakralwerke sind teilweise sehr interessant, da muss ich aber erst noch etwas heraussuchen. Fortsetzung folgt
Das wäre wirklich schön, Malte! :D

Beste Grüße
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

zatopek hat geschrieben:Ich persönlich empfinde viele seiner Klavierstücke als reine "Virtuosenstücke".
Bernd, darüber müßte man mal prinzipiell nachdenken: Was bedeutet eigentlich Virutosität? Die Antwort fällt jedenfalls komplexer aus, als man im ersten Moment denkt!

Beste Grüße
Holger
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Als Anregung zum Nachdenken die folgende Passage aus Hegels "Ästhetik" über die Virtuosität des ausübenden Musikers: 8)

„Ist nämlich die Komposition von gleichsam objektiver Gediegenheit, so dass der Komponist selbst nur die Sache oder die von ihr ganz ausgefüllte Empfindung der Töne gesetzt hat, so wird auch die Reproduktion von so sachlicher Art sein müssen. Der ausübende Künstler braucht nicht nur nichts von dem Seinigen hinzuzutun, sondern er darf es sogar nicht, wenn nicht der Wirkung soll Abbruch geschehen. Er muß sich ganz dem Charakter des Werks unterwerfen und nur ein gehorchendes Organ sein wollen. In diesem Gehorsam muß er auf der anderen Seite, wie dies häufig genug geschieht, nicht zum bloßen Handwerker heruntersinken, was nur den Drehorgelspielern erlaubt ist. Soll im Gegenteil noch von Kunst die Rede sein, so hat der Künstler die Pflicht, statt den Eindruck eines musikalischen Automaten zu geben, der eine bloße Lektion hersagt und Vorgeschriebenes mechanisch wiederholt, das Werk im Sinne und Geist des Komponisten seelenvoll zu beleben. Die Virtuosität solcher Beseelung beschränkt sich jedoch darauf, die schweren Aufgaben der Komposition nach der technischen Seite hin richtig zu lösen und dabei nicht nur jeden Anschein des Ringens mit einer mühsam überwundenen Schwierigkeit zu vermeiden, sondern sich in diesem Elemente mit vollständiger Freiheit zu bewegen, so wie in geistiger Rücksicht die Genialität nur darin bestehen kann, die geistige Höhe der Komposition wirklich in der Reproduktion zu erreichen und ins Leben treten zu lassen.“
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Gerhard
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Beitrag von Gerhard »

Also ich muss gestehen, dass ich lange Zeit überhaupt nichts von Liszt auf CD hatte und über CD Tipps von Holger mir einen ersten positiven Zugang geschaffen habe, den ich gerne durch wiederholtes Hören vertiefen will. Leichte Kost ist Liszts Musik - meiner Meinung nach – nicht, aber das ist ja nichts Schlechtes. Über die Tipps von Holger bin ich dankbar, denn gerade für schwer zugängliche Musik gilt für mich die Devise: Das ist Chefsache, sprich da müssen die “besten“ Aufnahmen her, um etwas zu bewirken.

Ich habe: die Lazar Berman Box von der DGG, die h-moll Sonate mit Arrau, Pollini und Zimerman sowie die Klavierkonzerte mit Lazar Berman/Karajan/DGG sowie Zimerman/Ozawa.

Von den Sonaten gefällt mir Arrau ganz besonders gut, aber alle meine Einspielungen sind ausgezeichnet.

Ich werde dieses Jahr zum Anlass nehmen mir diese Liszt Werke noch mehr zu erschließen, insbesondere die Annees und die h-moll Sonate.

Beste Grüsse

Gerhard
Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Gerhard hat geschrieben:Ich habe: die Lazar Berman Box von der DGG, die h-moll Sonate mit Arrau, Pollini und Zimerman sowie die Klavierkonzerte mit Lazar Berman/Karajan/DGG sowie Zimerman/Ozawa.

Von den Sonaten gefällt mir Arrau ganz besonders gut, aber alle meine Einspielungen sind ausgezeichnet.
Hallo Gerhard,

die h-moll-Sonate hört man sich ja inzwischen fast schon leid! Auf jedem Klavierwettbewerb wird sie traktiert, wo die Youngstars ihre Fingerfertigkeit demonstrieren wollen. Von "Geist" ist da meist keine Spur. Ganz anders Claudio Arrau. Sein Lehrer war der Liszt-Schüler Martin Krause. Aus dieser Tradition gibt Arrau dieser Sonate eine programmatische Erklärung. Für ihn ist das ein Faust-Drama, eine "Symphonische Dichtung" für Klavier, wofür einiges spricht. Deswegen sind seine Aufnahmen für mich die mit bewegensten: unglaublich dramatisch- sprechend. Er hat bei Philips zwei Aufnahmen gemacht, eine noch mit 89 Jahren! Erstaunlich. Natürlich, die Oktaven haben nicht mehr die Wucht wie früher. Das vermißt man aber auch gar nicht! Im Konzert habe ich von ihm die Dante-Sonate gehört. Die Pollini-Aufnahme finde ich auch überragend - das Besondere ist die dynamische Dramaturgie: Sehr symphonisch, wie er großbogig denkt und die Höhepunkte setzt. Zimerman kenne ich auch. Das ist sehr profiliert eigen und expressiv, aber das Ganze zerfällt irgendwie in Episoden. Er schafft es nicht, in "großen Bögen" zu denken. Andere wirklich ganz hervorragende bzw. maßstabsetzende Aufnahmen: Gilels, Berman, Horowitz, Richter, Jorge Bolet, auch Brendel ist sehr gut! Cziffra muß man unbedingt auch haben: Eine schier unglaubliche Virtuosität, sehr leidenschaftlich! Martha Argerichs Aufnahme ist berühmt, wie immer bei ihr beeindruckend mühelos die Virtuosität, mit "Zug", mir aber zu "vitalistisch". Da fehlen die Widersprüche und Extreme, ich finde das ein bisschen eindimensional.

Ich hoffe, wir erwecken den alten Liszt ein bisschen zum Leben! :cheers:

Beste Grüße
Holger
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zatopek
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Beitrag von zatopek »

Hallo Holger,

na das verspricht ja wieder eine interessante Diskussion zu werden :cheers:

1. Ich finde, bis auf die Klavierstücke findet Liszt eigentlich kaum statt. Wenn man sich mal ansieht, wieviele Boxen alleine im Schumann und Chopin - Jahr 2010 neu auf den Markt gekommen sind ... Und bei Liszt ? Bisher sieht das zappenduster aus.

Das dürfte imo auch mit dem zusammenhängen, was Gerhard geschrieben hat: Liszt scheint mir ein Komponist für "Fortgeschrittene" zu sein. Er setzt schon einiges an musikalischem Verständnis voraus. Ein Verständnis, das mir - z.B. gerade bei den Anneés - leider vollkommen abgeht (durch die Berman-Aufnahme habe ich mich eher gequält ...).

Erstaunlich eigentlich, war er doch zu seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Klaviervirtuose. Ich weiss aber nicht, ob er das mit eigenen, oder fremden Stücken war. Als Komponist dürfte er zu Lebzeiten wohl nicht sehr erfolgreich gewesen sein; aber wer war das schon, ausser Beethoven vielleicht.

Nach meiner Meinung gehört Liszt doch eher - wie Schumann oder auch Mendelssohn - zur zweiten Riege der Komponisten. Nicht zu vergleichen mit einem Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder auch Schubert. Seine Popularität war mit den genannten nie zu vergleichen und ich fürchte, daran wird auch das "Liszt-Jahr" 2011 kaum etwas ändern.

2. Zur Virtuosität: Hegel scheint mir diesen Begriff an der von dir zitierten Stelle als die technische Fähigkeit, das Werk spielen zu können, zu verstehen, im Gegensatz zu der "geistigen" Durchdringung, die den kompositorischen Gehalt deutlich macht. Lustig, wenn im Einleitungssatz schon wieder der allgemeinen "Weltgeist" sein Werk tut, indem Hegel den Komponisten zum reinen Notierere dessen degardiert, was im der objektive Geist - im der christlichen Religion wäre das wohl "Gott" - befiehlt; nur dass Hegel das hier als "objektive Gediegenheit" bezeichnet.

Im übrigen setzt Hegel natürlich voraus, dass der Komponist das Werk auch so aufzeichnete, dass für den Ausübenden ganz klar ist, was er spielen darf/soll, der geistige Gehalt also eindeutig erkennbar ist. Nun ist es aber gar nicht selten, dass die Notierung mehr als unvollständig ist und ein Interepret dann natürlich auch den Standpunkt vertreten kann, der Werkschaffende habe das Werk selbst, den musikalischen Gedanken gar nicht richtig verstanden und er - der Musiker - wisse das viel besser. Das führt dann zu so unsäglichen Aufnahmen wie den "Gouldberg-Variationen" von Glenn Gould.

Was hielt Hgel denn eigentlich von der "Improvisation" ? Oder kannte er das gar nicht ? Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde ein gewisses Mass an Selbständigkeit gar nicht so übel. Es verdeutlicht imo die Einzigartigkeit dieser besonderen Aufführung und enstprcht dem "flüchtigen" Charakter der Musik eher, als das unbedingte Streben nach "Werktreue" - wobei, weil man die meisten Komponisten ja nicht mehr fragen kann, immer zweifelhaft bleiben wird, was denn nun tatsächlich eine werkgetreue Aufnahme ist. Auch in der historischen Bewegung der Aufführungspraxis gibt es viele doch sehr unterschiedliche Ansichten, wie die Stücke gespielt werden sollen. Man lese nur einmal ein Booklet von Maasakis Bach-Kantaten um einen Eindruck davon zu bekommen, wie schwierig es sein kann, die der "richtigen" Aufführung nahezukommen. Aber wahrscheinlich bezog Hegel seine Ausführungen auch nicht auf solche, selbst aus seiner Sicht, "Alte Musik".

Aber ich meinte mit "Virtuosentum" eigentlich ganz etwas anderes, nämlich die Zuschaustellung aussergewöhnlicher technischer Fähigkeiten am Instrument, so wie etwa - ich hoffe der Vergleich kommt hin - bei Paganini. Der Musiker als "Zirkuspferd", dessen Kabinettstückchen von dem staunenden Publikum bewundert werden dürfen. Es gibt dann eben auch besondere Werke, die nur darauf angelegt sind, solche Virtuosität demonstrieren zu können. Der künstlerische Gehalt ist dann doch arg reduziert.

Viele Grüße,

Bernd
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

zatopek hat geschrieben:na das verspricht ja wieder eine interessante Diskussion zu werden :cheers:

1.Ich finde, bis auf die Klavierstücke findet Liszt eigentlich kaum statt. Wenn man sich mal ansieht, wieviele Boxen alleine im Schumann und Chopin - Jahr 2010 neu auf den Markt gekommen sind ... Und bei Liszt ? Bisher sieht das zappenduster aus.
Hallo Bernd,

ganz bestimmt! Gerade habe ich die wunderbare Aufnahme der „3 Liebesträume“ – die Klavierfassung – mit Jorge Bolet gehört auf dem Bechstein-Flügel. Meine Notentext-Ausgabe ist von Ignaz Friedman. Da drüber steht: Original liegt im Liszt-Museum in Weimar! Da bin ich nächste Woche tatsächlich und werde es mir an Ort und Stelle anschauen! :D

Das Liszt-Jahr hat ja gerade erst begonnen! Sehen wir mal, was kommt. Bei dem immensen Anspruch, den Liszts Werke stellen, ist natürlich nicht zu erwarten, dass jeder eine Liszt-Platte herausbringt. In den letzten Jahren ist doch schon einiges erschienen, von Volodos z.B., auch Debüt-Platten diverser Youngstars. Ich vermute mal, dass ein Bernhard Haitink, der die Symphonischen Dichtungen schon mal aufgenommen hat, sicher in Chicago davon etwas aufführen wird. Es kann gut sein, dass einige Platten mit selteneren Werken herauskommen oder die Lieder. Liszt wird zwar nicht ganz so viel verkauft wie Beethoven, aber er verkauft sich doch gut!
zatopek hat geschrieben: Das dürfte imo auch mit dem zusammenhängen, was Gerhard geschrieben hat: Liszt scheint mir ein Komponist für "Fortgeschrittene" zu sein. Er setzt schon einiges an musikalischem Verständnis voraus. Ein Verständnis, das mir - z.B. gerade bei den Anneés - leider vollkommen abgeht (durch die Berman-Aufnahme habe ich mich eher gequält ...).
Ich glaube eher, dass dies eine Frage der Einstellung ist. Wenn man Chopin wirklich ernst nehmen will, ist das auch ein Komponist für „Fortgeschrittene“! Bei Liszt kann man sich in der Tat von der Virtuosität blenden lassen, aber dann erfährt man von seiner Musik nicht viel. Es liegt eindeutig an den Interpreten, durch anspruchsvolle Interpretationen da den Hörer richtig zu lenken. Z.B. Claudio Arrau. Seine Aufnahme der Klavierkonzerte habe ich gerade gehört. Eine Lehrstunde! Er nimmt jede Note ernst (nicht anders wie bei Beethoven!) und dabei ist das noch berstend expressiv! Nur leider muß man über das Orchester weghören: Colin Davis dirigiert das dermaßen britisch distinguiert (um nicht zu sagen: blasiert!), das man das nicht ertragen kann! Schade!

Bei Liszt braucht man leider – oder soll man sagen – glücklicher Weise – eine umfassende Bildung, die über das Rein-Musikalische hinausgeht. Liszt ist der Prototyp des romantischen Künstlers, eines Künstlertums, das die Einheit aller Künste, Musik, Malerei, bildende Kunst propagiert. Das exemplarische Beispiel sind die „Annees de Pelerinage“. Da sind im ersten heft z.B. nicht nur haufenweise Zitate von Byron usw. zu finden, zu Vallee d´Oberman sind ganze Seiten aus dem Roman von Senancour abgedruckt! Im Notentext wohlgemerkt! Liszt erwartet, dass der Spieler das liest und der Hörer mit der Literatur vertraut ist. Im zweiten Band (Italien) geht das weiter mit der bildenden Kunst: Raffael (Sposalizio ist nach einem Rafael-Gemälde), Michelangelo (das Grabmal der medici) und dann natürlich Petrarca, die Sonnette und die Dante-Sonate. Auch das ist eine „Symphonische Dichtung“ für Klavier. Da gibt es z.B. diese Stelle mit den mystischen Trillern. Das ist die Francesca da Rimini-Episode bei Dante – das Licht der Liebe, was in die Hölle scheint. Das berühmte Stück aus dem 3. Band „Les jeux d´eau a la Villa d´Este“ hat einen philosophisch-metaphysischen Hintergrund: Der Neuplatonismus, die Emanation. Der römische Brunnen, wo das Wasser von der einen Schale in die nächst tiefere weiter fließt, symbolisiert die „Emanation“, der Ausfluss des Seins aus dem göttlichen Einen. Das ist eben mehr als nur impressionistisches Wassergeplätscher! Cziffra z.B. hat überhaupt keinen Sinn für diese religiös-metaphysische Dimension! Das ist bei ihm ziemlich prosaisches Tremolo-Geklapper. Arrau und Berman dagegen sind ganz großartig!
zatopek hat geschrieben: Erstaunlich eigentlich, war er doch zu seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Klaviervirtuose. Ich weiss aber nicht, ob er das mit eigenen, oder fremden Stücken war. Als Komponist dürfte er zu Lebzeiten wohl nicht sehr erfolgreich gewesen sein; aber wer war das schon, ausser Beethoven vielleicht.
Die Virtuosenkarriere von Liszt endete im Revolutionsjahr 1848. Er war als Dirigent in Weimar tätig, hat dort die ganzen damals avantgardistischen italienischen Opern aufgeführt und die musikalisch mäßigen Unterhaltungsstückchen aus dem Programm gestrichen. Im 19. Jahrhundert war es noch so, dass die Komponisten vor allem für die Verbreitung ihrer eigenen Werke gesorgt haben. Im Wagner-Kreis (der Dirigent Hans v. Bülow, der Großvater von Vico v. Bülow, genannt „Loriot“!) wurde natürlich Liszt aufgeführt. Liszt hatte sehr viele Schüler und eine große Wirkung gehabt. In der russischen Pianistenschule z.B. ist es bis heute so, dass Liszt eine zentrale Stelle einnimmt. Wer keinen Liszt spielt, der wird einfach nichts!
zatopek hat geschrieben: Nach meiner Meinung gehört Liszt doch eher - wie Schumann oder auch Mendelssohn - zur zweiten Riege der Komponisten. Nicht zu vergleichen mit einem Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder auch Schubert. Seine Popularität war mit den genannten nie zu vergleichen und ich fürchte, daran wird auch das "Liszt-Jahr" 2011 kaum etwas ändern.
Auf solche Bewertungen finde ich sollte man besser verzichten – das ist genauso problematisch wie in der Literatur und sehr vom Zeitgeschmack abhängig. Wer kann heute noch nachvollziehen, dass im 19. Jahrhundert ein Ludwig Uhland höher geschätzt wurde als J. W. Goethe? Mendelssohn wird gerne unterschätzt – auch in der Musikwissenschaft. Das ist der fatale Einfluss von Wagners antisemitischer Schrift „Das Judentum in der Musik“. Bei Schumann hat man inzwischen den großen „Harmoniker“ entdeckt, so dass kaum ein Musikwissenschaftler heute ihn hinter Schubert einordnen würde. Und Liszt? Es gibt kaum einen Komponisten, der so vielseitig ist, der so viele Gesichter hat. Darin ist er unvergleichlich. Deswegen kann man ihn schlecht mit den Anderen vergleichen. Mozart wird immer populärer als Schumann oder Brahms z.B. sein. Das hat aber wohl weniger mit der Qualität der Musik zu tun, als mit anderen Dingen. Ob seine „Symphonischen Dichtungen“ z.B. populärer werden? Die Gattung ist ohnehin nicht sonderlich populär. Wie oft wird denn die „Waldtaube“ von Dvorak gespielt? Selbst Richard Strauß „Till Eulenspiegel“ hört man nicht allzu oft. Seine Faust-Symphonie habe ich einmal vor Jahren in Düsseldorf im Konzert gehört.
zatopek hat geschrieben: 2. Zur Virtuosität: Hegel scheint mir diesen Begriff an der von dir zitierten Stelle als die technische Fähigkeit, das Werk spielen zu können, zu verstehen, im Gegensatz zu der "geistigen" Durchdringung, die den kompositorischen Gehalt deutlich macht. Lustig, wenn im Einleitungssatz schon wieder der allgemeinen "Weltgeist" sein Werk tut, indem Hegel den Komponisten zum reinen Notierere dessen degardiert, was im der objektive Geist - im der christlichen Religion wäre das wohl "Gott" - befiehlt; nur dass Hegel das hier als "objektive Gediegenheit" bezeichnet.
Letzteres ist natürlich ein Missverständnis. Das Werk ist nach Hegel die Repräsentation einer geistigen „Idee“. Letztlich ist die höchste Bestimmung der Kunst natürlich, Kunstreligion zu sein. Aber Hegel selbst spricht ja vom „Ende der Kunst“ – d.h. diese Idee der Kunstreligion ist geschichtlich vergänglich. Die „Idee“ schafft selbstverständlich die Kunst bzw. der Künstler selber. Hegel schreibt z.B. über das historische Drama (Shakespeare) – die geistige Idee ist etwas, was dem Kunstwerk immanent ist. Das hat mit christlicher Religion erst einmal gar nichts zu tun. Und wie bei allen geistigen Ideen gibt es auch hier eine Entwicklung: Die Kunstformen unterliegen dem geschichtlichen Wandel.

Interessant an der Stelle über die Virtuosität ist, dass er sie eben nicht ausschließlich technisch versteht, sondern als etwas Geistiges, einen Prozess der Vergeistigung. Sie ist Ausdruck der „Freiheit“, d.h. den Widrigkeiten der Materie Herr zu werden. Man kann die Zirkusartistik ja auch etwas tiefsinniger betrachten: Das ist der Mensch als Grenzgänger, der seine Grenzen austestet, wie der Bergsteiger im Hochgebirge. Selbstüberwindung, die Grenzen quasi verleugnen können, in der Zirkuskuppel schweben, quasi schwerelos, und das auch noch schön, d.h. beherrscht und kontrolliert! Virtuosität hat in diesem Sinne auch etwas Emanzipatorisches: Der Mensch als selbstbewusstes Individuum macht sich frei von allen äußeren Zwängen, der Sieg des Geistes über die widrige Natur. Das spielt alles mit! Der Zusammenhang mit dem „Genie“, das sich selbst seine Gesetze gibt, die ihm nicht einfach vorgeschrieben werden.

In dem ersten Liebestraum gibt es so etwas Grenzwertiges: Ein Triller, den man eigentlich unmöglich spielen kann: Liszt will Sechzehntel-Sextolen gespielt haben (Terzen) und darüber (in derselben rechten Hand!) noch einen Triller! Wie soll man das ausführen? Auch der gute Bolet „pfuscht“ da: spielt einfach die Sechzehntel-Triolen doppelt, wie einen Akkordtriller. Wenn man das wirklich so ausführen würde wie Liszt es haben will, wäre das noch aufregender als es ohnehin schon klingt!
zatopek hat geschrieben: Im übrigen setzt Hegel natürlich voraus, dass der Komponist das Werk auch so aufzeichnete, dass für den Ausübenden ganz klar ist, was er spielen darf/soll, der geistige Gehalt also eindeutig erkennbar ist. Nun ist es aber gar nicht selten, dass die Notierung mehr als unvollständig ist und ein Interepret dann natürlich auch den Standpunkt vertreten kann, der Werkschaffende habe das Werk selbst, den musikalischen Gedanken gar nicht richtig verstanden und er - der Musiker - wisse das viel besser. Das führt dann zu so unsäglichen Aufnahmen wie den "Gouldberg-Variationen" von Glenn Gould.
Hegel spricht von „Reproduktion“. Da kann man natürlich über die Aufgabe der Interpretation anderer Meinung sein, wenn man z.B. von der Hermeneutik herkommt. Die Aufgabe ist dann primär, den Zeitabstand zu überwinden, etwas aus einer vergangenen Epoche, was längst „tot“ ist, heute wieder zum Leben zu erwecken. Dazu gehört dann eben auch, das Vergangene neu zu deuten, den Sinn zu erweitern. Für H. G. Gadamer ist eine „reproduktive“ Interpretation, wie Hegel oder Schleiermacher sie versteht, einfach ein hölzernes Eisen.
zatopek hat geschrieben: Was hielt Hgel denn eigentlich von der "Improvisation" ? Oder kannte er das gar nicht ? Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde ein gewisses Mass an Selbständigkeit gar nicht so übel. Es verdeutlicht imo die Einzigartigkeit dieser besonderen Aufführung und enstprcht dem "flüchtigen" Charakter der Musik eher, als das unbedingte Streben nach "Werktreue" - wobei, weil man die meisten Komponisten ja nicht mehr fragen kann, immer zweifelhaft bleiben wird, was denn nun tatsächlich eine werkgetreue Aufnahme ist. Auch in der historischen Bewegung der Aufführungspraxis gibt es viele doch sehr unterschiedliche Ansichten, wie die Stücke gespielt werden sollen. Man lese nur einmal ein Booklet von Maasakis Bach-Kantaten um einen Eindruck davon zu bekommen, wie schwierig es sein kann, die der "richtigen" Aufführung nahezukommen. Aber wahrscheinlich bezog Hegel seine Ausführungen auch nicht auf solche, selbst aus seiner Sicht, "Alte Musik".
Hegel war bekennender Musikdilettant. Von Musiktheorie und ihrer Geschichte wusste er so gut wie nichts. Nicht zufällig hat die Musik bei ihm einen minderwertigen Rang – nicht zu vergleichen mit der Literatur! Da kennt sich Hegel sehr gut aus! Seine Horizont ist da doch ein wenig beschränkt. Das Problem der Aufführungspraxis ist interessant. Im 17. und 18. Jahrhundert hat man vieles im Notentext einfach nicht notiert, weil jeder wusste, wie man das spielt. Czerny hattebereits Probleme bei seiner Bach-Ausgabe, weil schon im 19. Jahrhundert dieses Wissen verlorengegangen war. Diese Tradition der Aufführungspraxis war nahezu verschwunden.
zatopek hat geschrieben:Aber ich meinte mit "Virtuosentum" eigentlich ganz etwas anderes, nämlich die Zuschaustellung aussergewöhnlicher technischer Fähigkeiten am Instrument, so wie etwa - ich hoffe der Vergleich kommt hin - bei Paganini. Der Musiker als "Zirkuspferd", dessen Kabinettstückchen von dem staunenden Publikum bewundert werden dürfen. Es gibt dann eben auch besondere Werke, die nur darauf angelegt sind, solche Virtuosität demonstrieren zu können. Der künstlerische Gehalt ist dann doch arg reduziert.
Das mit dem Zirkus habe ich oben schon erläutert: Wenn man das eben von der ästhetischen und geistigen Seite betrachtet, bekommt die virtuose Artistik eine andere Funktion, die über die bloße „Sensation“ hinausgeht. Zirkus ist eben doch mehr als bloße Kirmes, wenn es sich um wirkliche Kunst handelt. Anders ist die Begeisterung für Paganini letztlich wohl auch nicht zu verstehen, welche die Romantiker vereinte.

Beste Grüße
Holger
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zatopek
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Beitrag von zatopek »

Hallo Holger,
Dr. Holger Kaletha hat geschrieben: Bei Liszt braucht man leider – oder soll man sagen – glücklicher Weise – eine umfassende Bildung, die über das Rein-Musikalische hinausgeht. Liszt ist der Prototyp des romantischen Künstlers, eines Künstlertums, das die Einheit aller Künste, Musik, Malerei, bildende Kunst propagiert. Das exemplarische Beispiel sind die „Annees de Pelerinage“. Da sind im ersten heft z.B. nicht nur haufenweise Zitate von Byron usw. zu finden, zu Vallee d´Oberman sind ganze Seiten aus dem Roman von Senancour abgedruckt! Im Notentext wohlgemerkt! Liszt erwartet, dass der Spieler das liest und der Hörer mit der Literatur vertraut ist. ...
Nun, das dürfte die Erklärung für die eher schwache Akzeptanz seiner Kompositionen sein. Es dürfte ja schon fraglich sein, ob aus seiner Zeit ein Hörer alle Bezüge verstanden hat. Heute ist die verständige Zielgruppe eher überschaubar.

Das ist die Crux mit solcher "intellektueller" Musik: sie setzt zum Verständnis soviel aussermusikalisches Wissen voraus, dass sie sich gegen "normale" Hörer abschottet.

Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:
zatopek hat geschrieben: Nach meiner Meinung gehört Liszt doch eher - wie Schumann oder auch Mendelssohn - zur zweiten Riege der Komponisten. Nicht zu vergleichen mit einem Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder auch Schubert. Seine Popularität war mit den genannten nie zu vergleichen und ich fürchte, daran wird auch das "Liszt-Jahr" 2011 kaum etwas ändern.
Auf solche Bewertungen finde ich sollte man besser verzichten – das ist genauso problematisch wie in der Literatur und sehr vom Zeitgeschmack abhängig. Wer kann heute noch nachvollziehen, dass im 19. Jahrhundert ein Ludwig Uhland höher geschätzt wurde als J. W. Goethe?
Solche Bewertungen können hilfreich sein, wenn es darum gebht, bisher "unbedarften" Hörern einen Zugang zur klassischen Musik zu verschaffen. Da wäre Liszt imo eher verzichtbar.

Dr. Holger Kaletha hat geschrieben: Hegel war bekennender Musikdilettant. Von Musiktheorie und ihrer Geschichte wusste er so gut wie nichts.
So etwas relativiert natürlich die Bedeutung solcher Aussagen.

Viele Grüße,

Bernd
Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

zatopek hat geschrieben:
Nun, das dürfte die Erklärung für die eher schwache Akzeptanz seiner Kompositionen sein. Es dürfte ja schon fraglich sein, ob aus seiner Zeit ein Hörer alle Bezüge verstanden hat. Heute ist die verständige Zielgruppe eher überschaubar.

Das ist die Crux mit solcher "intellektueller" Musik: sie setzt zum Verständnis soviel aussermusikalisches Wissen voraus, dass sie sich gegen "normale" Hörer abschottet.
Hallo Bernd,

Liszts Idee der "Symphonischen Dichtung" war, die Musik zu emanzipieren, sie auf eine Stufe mit den großen Dichtungen der Weltliteratur zu stellen: Homer, Dante Goethe usw., indem man ihr einen "Inhalt" gibt, eine "poetische Idee". Deshalb hat er sich natürlich an der "großen" Dichtung orientiert, den Kanon, den im 19. Jahrhundert jeder Gebildete kannte: Goethes Faust, die "Göttliche Komödie" von Dante, die Tellslegende und Schiller, Senancour, der ist noch heute Pflichtlektüre auf dem Gymnasium in Frankreich, Lord Byron war damals so etwas wie ein Bestseller. Schwierigkeiten, diese Bezüge zu verstehen, gab es also in dieser Hinsicht nicht für den Hörer von damals. Man darf auch nicht vergessen, daß es damals weder Radio noch Fernsehen noch Internet gab. Die Leute haben, wenn sie etwas über die Welt erfahren wollten, vor allem und möglichst viele Bücher gelesen. Insofern war der Bildungsstand (natürlich schichtenspezifisch!) in dieser Epoche größer als heute. Deswegen funktionierte diese Idee der "Symphonischen Dichtung" und "Programmmusik" durchaus sehr gut.

Und die Frage ist natürlich: Was ist ein "normaler" Hörer? Heute haben sich eher die "Formalisten" durchgesetzt, die einfach nur die Musik hören wollen und alle diese Weltbezüge als "außermusikalisch" abtun. Nun ist aber z.B. Mahler inziwschen sehr populär geworden. Bei Mahler kommt man mit dieser Haltung auch nicht weiter. Das ist der Listzschen Auffassung ziemlich nahe. Außerdem dürfen wir z.B. die Oper nicht vergessen. Die hat ein Textbuch. Wer Oper wirklich ernst nimmt als musikalisches Drama und sich nicht nur an den schönen Arien berauschen will, muß schließlich einmal den Text lesen. Warum soll das also nicht bei Musik mit programmatischem Inhalt möglich sein?
zatopek hat geschrieben: Solche Bewertungen können hilfreich sein, wenn es darum gebht, bisher "unbedarften" Hörern einen Zugang zur klassischen Musik zu verschaffen. Da wäre Liszt imo eher verzichtbar.
Wenn ich an meine Biographie denke, haben solche Bewertungen überhaupt keine Rolle gespielt. Soll man denn ein Ranking machen und dem Unerfahrenen zuerst Bach, dann Beethoven, dann Mozart zu hören geben? So funktioniert das doch in der Praxis nicht! Man spielt z.B. ein Instrument und hört viel Klaviermusik. Ich habe z.B. in meiner Jugend viel mehr Debussy und Scriabin gehört als Bach z.B. Es gibt bestimmte Stücke, durch die findet man Zugang zur Musik und dann erschließen sich die anderen im Anschluß daran. Manchmal entdeckt man auch bestimmte bedeutende Komponisten und Werke relativ spät. Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle der Interpreten. Wenn ich Klavierunterricht habe und mir dann die großen Pianisten anhöre wie Michelangeli, Arrau, Richter oder Horowitz, dann entdecke ich auch deren Repertoire. Und bei Horowitz, Richter oder Arrau nimmt Liszt eben eine bedeutende Stelle ein. Vladimir Ashkenazy als Pianisten habe ich in meiner Jugend durch seine Aufnahme der Liszt-Etüden entdeckt. Das fand ich umwerfend und habe dann angefangen, Ashkenazy-Platten zu sammeln! Die Wertschätzung von Liszt hat sich auch deshalb erhöht, weil der neusachliche Purismus doch etwas in die Defensive gekommen ist: Die ganze Literatur der Paraphrasen und Transkriptionen wird heute wieder geschätzt: siehe Hamelin und Volodos! :D
zatopek hat geschrieben:
Dr. Holger Kaletha hat geschrieben: Hegel war bekennender Musikdilettant. Von Musiktheorie und ihrer Geschichte wusste er so gut wie nichts.
So etwas relativiert natürlich die Bedeutung solcher Aussagen.
Es ist schon bemerkenswert, daß Kant und Hegel Musik ausschließlich sensualistisch interpretieren und die Tradition der musikalischen Rhetorik überhaupt nicht rezipiert haben. Ein so zentrales Werk wie das von Johann Nikolaus Forkel etwa, einem Zeitgenossen von Kant, war Hegel einfach nicht bekannt! Trotzdem ist Hegel natürlich ein "Riese" als Denker, ihn zu lesen, ist immer ein Gewinn. Man erkennt durch ihn, wo die Probleme der Begründung liegen. Interessant ist z.B., daß er anders als Kant nicht unterschlägt, daß es in der Musik so etwas wie thematische "Gedanken" gibt, sie also nicht nur "Empfindung" ist. Trotzdem durchbricht er die sensualistische Interpretation nicht.

Und die Frage nach der "Objektivität" der Interpretation bleibt natürlich. Gegen Gadamer würde ich sagen, daß man sehr wohl fragen kann nach einem "reproduktiven" Anteil der Interpretation. Hegel meinte, daß ein Kunstwerk eine "Idee" in sich trägt. Und Ideen kann man reproduzieren. Das Problem ist also längst nicht erledigt!

Meine Einführung in die "Annees de Pelerinage" wird folgen! Vielleicht hört der eine oder andere die Musik dann neu! Es macht nur ein bisschen Arbeit! Den kleinen "Bildungsauftrag" im Dienste von Vater Liszt übernehme ich gerne! :cheers:

Beste Grüße
Holger
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Dr. Holger Kaletha
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Années de Pèlerinage Heft I Suisse

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Années de Pèlerinage
Heft I Suisse (Schweiz)

!
Aufnahmen:

1.Lazar Berman: (Ges.-Aufn.) DGG, einzelne Stücke in der Box von Brilliant-Classics mit Dokumenten aus den russischen Archiven

2.George Cziffra (Ges. Aufn.): EMI

3.Vladimir Horowitz: Einzelaufn. Vallée d´Oberman (CBS Carnegie Hall 1966) u. Au bord d´une source (CD Horowitz Rediscovered)

4.Claudio Arrau (Einzelstücke), Philips, u.a. Tellslegende u. Vallée d´Oberman

5.Arturo Benedetti Michelangeli: Eglogue (Zugabe Konzert Stuttgart 1982)

6.Alfred Brendel (Ges. Aufn. Heft I u. II): Philips, auch DVD mit Erklärung. Es ist derzeit nur die 2., die Digitalaufnahme, erhältlich

7.Jorge Bolet (Ges. Aufn. Heft I u. II): Decca

8.Michael Korstick (Ges. Aufn. Heft I): jpc

9. Arcadi Volodos plays Liszt : Vallée d´Oberman

Liszt gab der ersten Fassung der Sammlung den Titel „Album d´un voyageur“ („Album eines Reisenden“), was auf eine quasi touristische Reisetätigkeit hindeutet. Der Alpentourismus wie auch die Bildungsreise nach Italien waren damals in „Mode“ und auch die daraus resultierenden Reisebeschreibungen. Der wohl berühmteste Bildungsreisende in dieser Hinsicht war Johann Wolfgang v. Goethe, der sowohl Italien als auch die Schweizer Alpen durchwanderte. Liszt änderte den Titel der überarbeiteten Fassung in „Années de Pèlerinage“, was man mit „Wanderjahre“ oder „Pilgerjahre“ übersetzen kann. Die Auswechslung des Titels zeigt, dass die Reise nun eine „philosophische“ Dimension bekommen hat. Der Titel „Wanderjahre“ verweist einmal auf den Bildungsroman, den exemplarisch Goethes „Wilhelm Meister“ verkörpert. In diesem Sinne bedeutet die Wanderschaft einen bestimmten Lebensabschnitt der Reife – den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Darüber hinaus leitet sich „Pilger“ ab von lat. peregrinus, was den Ausländer oder Fremden bezeichnend. In der christlichen Tradition wird das Leben überhaupt als Pilgerschaft begriffen: In der irdischen Welt ist der Mensch nicht zuhause, sondern ewig auf der Suche nach seinem ihm eigentlich vorbestimmten heimatlichen Ort, der nicht in dieser Welt liegt. Josef v. Eichendorff: „Das Leben ist nicht des Philisters Fahrt vom Buttermarkt zum Käsemarkt, sondern eine unendliche Reise in das Himmelreich.“

Die Schweiz als Reiseort fasziniert einmal durch das Naturerlebnis: die Schweizer Alpen. Andererseits beflügelt der eidgenössische Freiheitsgeist die Sehnsüchte einer Zeit, die sich im revolutionären Umbruch befindet. Liszt, der vom sozialrevolutionären Geist seiner Epoche beseelt war, beginnt deshalb seine Rundreise durch die Schweiz nicht zufällig mit der Tellslegende:

1. Chapelle de Guillaume Tell

Liszts erstes Reiseziel ist die Tellskapelle am Vierwaldstädter See, hier ein schönes zeitgenössisches Gemälde aus dem 19. Jahrhundert:

http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tell ... er_See.jpg

Liszt stellt das musikalischen Geschehen unter das Motto von Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“: Einer für Alle – Alle für Einen.

Schon hier wird deutlich, wie Liszt Musik versteht: Ausgangspunkt ist eine Landschaft mit einem symbolischen Ort. Daran knüpfen sich dann reichlich Assoziationen: Wilhelm Tell und der Schweizer Freiheitskampf. Da gibt es Fanfaren und ihre mehrfachen Echos, die von den Gebirgswänden zurückgeworfen werden. Zum Schluss steigert sich das majestätische Thema zu einem Hymnus, die Fanfarenmotive der Freiheitskämpfer werden zu Glockenschlägen: Der Frieden wird eingeläutet, die Freiheit hat gesiegt. Also „Mut zur Fantasie“, zur bildlichen Fantasie, kann man dem Hörer von heute nur empfehlen!

II. Au lac de Wallenstadt

Andante placido (=ruhig)

Motto von Byron:

Thy contrasted lake
With the wild world I dwelt in, is a thing
Which warns me, with its stillness, to forsake
Earth´s troubled waters for a purer spring


Auf dem Wallenstätter See – offenbar befindet sich der Reisende in einem Boot. Dabei kommt ihm das Byron-Gedicht in den Sinn. Dieses Reisebild kontrastiert mit dem vorherigen: Ging es zuvor um die Revolutionswirren und den glücklich gewonnen weltlichen Frieden, so wird das Naturerlebnis, die Stille des spiegelglatten Sees, zum Ort der Weltabgeschiedenheit, eines himmlischen Friedens.

III. Pastorale

Ohne Motto ist der Titel „Pastorale“ vielsagend genug: Wer denkt da nicht an Beethovens Sechste Symphonie, die „Pastorale“? Liszt schildert freilich nicht das Landleben, gibt also keine „realistische“ Reisebeschreibung, sondern zeichnet ein Idealbild pastoralen Lebens, eine „Idylle“. Im ersten Heft der Années... gibt es davon deren zwei, neben der Pastorale noch eine Egloge. Hier zündet der geistige Funke von Jean-Jacques Rousseau – seine Maxime „Zurück zur Natur!“, welche in der europäischen Kultur ein Erdbeben auslöste, dessen Druckwellen noch heute zu spüren sind. Liszt komponiert eine schlichte Melodie, die vor allem eines ausstrahlt: Ungekünstelte Natürlichkeit.

IV. Au bord d´une source

Allegretto grazioso

Motto (Friedrich Schiller):

In säuselnder Kühle
Beginnen die Spiele
Der jungen Natur


Die Alpenwanderung führt an den Rand einer Quelle. Auch hier wird das Naturerlebnis zum Symbol und dieses wiederum versinnlicht durch eine musikalische „Impression“. Liszt komponierte im dritten Haft der Années... ein weiteres Wasserstück, welches zweifellos das berühmtere von den beiden ist („Les jeux d´eaux à la Villa d´Este). Aber „Au bord d´une source“ ist kaum weniger eindrucksvoll, eines der poetischsten und zugleich „avantgardistischsten“ Liszt-Stücke. Das Motto von Schiller bedarf diese Musik wahrlich nicht, um verstanden zu werden, das ist eine wirkliche „Ton“-Dichtung, die in Empfindungen vollständig umsetzt, was die Sprache nur andeutend auszusprechen vermag: ein impressionistisches Stimmungsbild „säuselnder Kühle“. Die Quelle in der vom Menschen unberührten Natur wird dem Wanderer zum gebürtlichen Ort einer Wiedergeburt, erscheint als so etwas wie ein ewiger Jungbrunnen, ein Ort der Läuterung, Symbol für die Kraft des Lebens, sich beständig zu erneuern.

V. Orage

Motto (Byron):

Bat where of ye, oh tempests! Is the goal?
Are ye like those within the human breast?
Or do ye find, at length, like eagles, some high nest?

Aber wo von Euch, oh Stürme, ist das Ziel?
Seid ihr wie die in der menschlichen Brust?
Oder wollt ihr finden, wie Adler endlich, ein hohes Nest?


Auf die idyllische Ruhe folgt der Sturm, das Gewitter (Orage). Das 18. Jahrhundert entdeckte das „Erhabene“ des Naturerlebnisses: In den Naturgewalten bekundet sich die Größe der Natur, welche alle menschlichen Maße übersteigt. Die Landschaft ist letztlich eine Seelenlandschaft, das bedrohlich überwältigende Naturereignis lediglich der Spiegel des eigenen Inneren, eines Sturmes der Leidenschaften. Der Klaviersatz umgreift die ganze Spannweite der Tastatur, fährt auf in die höchsten Höhen des Diskants, um im nächsten Moment in die tiefsten Baß-Tiefen abzustürzen: der Schwindel des Erhabenen einer zerklüfteten Berglandschaft.

VI. Vallée d´Oberman

Vallée d´Oberman ist ohne Zweifel ein virtuoses Bravourstück – und mit Abstand das meist Gespielte und Bekannte des Zyklus. Erst hier bekommt die Virtuosität im Rahmen des Zyklus diejenige Dimension, welche man mit dem romantischen Virtuosen Liszt so gerne in Verbindung bringt: Sie wird zur Selbstinszenierung des Künstlers, der sich und seine magischen Fähigkeiten einem Publikum zur Schau stellt. So bildet dieses Stück nicht zufällig den finalen Höhepunkt in Horowitz´ Carnegie-Hall-Konzert von 1966 mit seinem atemberaubenden Tastenzirkus tanzender Oktaven am Schluss, welcher dem Publikum fast schon hysterische Beifallsstürme entlockt. Und auch Arcadi Volodos wählt Vallée d´Oberman in sein exquisites Liszt-CD-Programm – und erstellt eine den virtuosen Klaviersatz betonende Bearbeitung, welche auf Liszts Frühfassung zurückgreift, welche Liszt selbst – offenbar in der Absicht, deren virtuoses Figurenwerk in die Schranken der poetischen Idee zu weisen – bereinigt hatte.

Vallée d´Oberman verlangt in besonderen Maße das Eingehen auf den programmatischen Inhalt, gerade, um dessen virtuoser Artistik gerecht zu werden, sie nicht als puren Showeffekt mißzuverstehen. Sénancours Briefroman, das 1804 erschienene Standardwerk der französischen Frühromantik, gehörte zu Liszts bevorzugter Lektüre, hatte auf ihn, wie er selbst bekundete, eine gewisse läuternde Wirkung für sein „Leiden“. Die Stimmung des Romans ist tiefe Melancholie und Enttäuschung über das Leben; die Einsamkeit der Schweizer Alpen wird zum Zufluchtsort einer im Weltschmerz gefangenen Seele.

Liszt hat dem Notentext von Vallée d´Oberman drei literarische Dokumente – zwei von Sénancour und eines von Byron – programmatisch vorangestellt, welche diese Etappe der Lebenswanderung als das Durchleben einer fundamentalen Lebenskrise entschlüsseln:

„Was will ich? Was bin ich? Was erbitte ich von der Natur? Alle Ursache (cause) ist unsichtbar, alles Ziel trügerisch (trompeuse); jede Form wechselhaft, alle Dauer erschöpft sich (s´épuise) ... Ich fühle, ich existiere, um mich zu verschwenden in unbändigen Sehnsüchten, um mich zu überschütten mit dem verführerischen Zauber (séduction) einer fantastischen Welt, um niedergeschlagen zu verharren (rester atterré) in ihrem wollüstigen Irrtum (voluptueuse erreur).“

Etienne de Sénancour : Oberman, Lettre 53


Die Grundbefindlichkeit der Existenz, in der sich Oberman befindet, ist ein selbstzerstörerischer Zweifel: Die Ursachen des Daseins sind verborgen wie die Ziele trügerisch, es gibt keinen Halt, alles ist dem Werden ausgeliefert und nichts von Dauer. Was Sénancour hier vorwegnimmt ist das, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum beherrschenden Thema in Literatur und Philosophie werden wird: das Problem des Nihilismus.

„Unaussprechliche Empfindsamkeit (sensibilité), Zauber und Marter (charme et tourment) unserer eitlen (nutzlosen) Jahre (vaines années); unermessliches Bewusstsein einer Natur allerorts erstickend und allerorts undurchdringlich; universelle Leidenschaft, Indifferenz, frühreife Weisheit (sagesse avancée), wollüstige Verlassenheit; alles was ein sterbliches Herz enthalten kann an Nöten (Bedürftigkeiten) und tiefer Langeweile (d´ennuis profond); ich habe alles gefühlt, alles durchgemacht (éprouvé) in dieser denkwürdigen Nacht. Ich habe einen unheilvollen Schritt gemacht gegen das Lebensalter der Erschlaffung (l´âge d´affaiblissement), ich habe zehn Jahre meines Lebens verschlungen.“

Etienne de Sénancour : Oberman, Lettre 4

Dieses zweite von Liszt ausgewählte Selbstbekenntnis Obermans ist Ausdruck einer tiefen Lebenskrise. In dunkler Nacht kommt Oberman die Nutzlosigkeit seiner ganzen Existenz zu Bewusstsein. Liszt, der sich mit den literarischen Bekenntnissen Obermans identifiziert, wird hier seine eigenen Krisen wiedererkennt haben – nicht zuletzt seinen Überdruss und Ekel angesichts einer gefallsüchtigen Virtuosenexistenz. Hat nicht der Komponist Liszt, welcher sich schließlich zu höheren Weihen berufen fühlt, seine kostbare Zeit allzu leichtfertig, den Verlockungen des Ruhmes erlegen, nutzlos vergeudet? Das Byron-Zitat fügt nun noch einen dritten Aspekt dieser fragwürdigen Künstlerexistenz hinzu, die Sprachlosigkeit:

„Könnte ich jetzt verwirklichen und offenbaren
Das was am meisten in mir ist – könnte ich auslassen
Meine Gedanken über Ausdruck, und deshalb freigeben
Seele, Herz, Gedanken, Leidenschaften, Gefühle, kräftig oder schwach
All das, was ich begehrt, und alles was ich versuchte,
Tragen, wissen, fühlen und jetzt atmen – hinein in eine Welt,
Und wäre ein Wort ein Blitz, ich würde sprechen;
Aber wenn es so ist, lebe ich und sterbe ungehört,
Mit einem höchst stimmlosen Gedanken, ihn als ein Schwert in die Scheide steckend.“

Lord Byron: Childe Harold´s Pilgrimage


Dass Liszt diese literarischen Bekenntnisse programmatisch ernst nimmt, zeigt ihre genaue musikalische Umsetzung. Da ist einmal jener tumultiöse Abschnitt, der mit „Recitativo“ überschrieben ist – der sich auf Byrons „Wort wie ein Blitz“ bezieht. Im Geiste Sénancours beginnt Vallée d´Oberman mit der gequälten Schwermut des Oberman-Themas, einer dominierenden, in Sekundschritten kontinuierlich abfallenden melodischen Linie, welche die zaghaften Aufschwünge wie ein Bleigewicht in die Tiefe zieht. Das bravouröse Finale folgt einer Dramaturgie des per aspera ad astra („durch Dunkel zum Licht“). Das chamäleonartig-wandlungsfähige Oberman-Thema, das alle emotionalen Höhen und Tiefen durchläuft, steigert sich schließlich zum Triumpf, zu einer kolossalen Schlussapotheose, wo Liszt die Oktaven über die Tastatur tanzen lässt. Liszt endet – nach einer ausgedehnten Pause, die den Oktavendonner verrauschen lässt – mit einem „einsamen“ Zitat des Oberman-Themas – im dröhnenden Fortissimo. Aber auch das bleibt letztlich vom Gift der Skepsis angenagt.

VII. Eglogue (Hirtenweise)

Motto (Byron):

Der Morgen ist wieder aufgestanden, der taufrische Morgen
Mit dem Atem von allem Weihrauch, und den Wangen voll von Blüten
Lachend die Wolken hinweg mit spielerischer Verachtung
Und lebend als enthalte die Erde kein Grab!


Eine schlichte Hirtenidylle im Anklang an Vergil, welche sich an der erfüllten Gegenwart berauscht – mit der Taufrische eines neuen Morgens die existenziellen Nachtzweifel aus Vallée d´Oberman vergessen macht, wie die Auferstehung von den Toten des Nihilismus.

Darauf folgt ein literarisches Bild – zwei Seiten über den romantischen Ausdruck, ein Auszug aus Sénancours Briefroman Oberman. Darüber wird noch zu sprechen sein. Hier zeigt sich die romantische Idee der Einheit aller Künste: das Reisetagebuch enthält nicht nur Reisebilder zum Hören, sondern auch zum Lesen.


VIII. Le mal du pays

Das „Heimweh“, eines der Grundbefindlichkeiten der Romantik. Der heimatliche Ort ist immer gerade dort, wo man sich nicht befindet. Das Leben bleibt eine unabschließbare, unendliche Reise – wenn es nicht die Liebe gäbe. Das Stück mit seiner kühnen Harmonik weist voraus auf Liszts Spätwerk.

IX. Les cloches de Genève (Nocturne)

Hochromantische Klangpoesie, die in allen Farben schillert: Die Glocken läuten das Ziel der Reise ein, Genf, der Wohnort von Liszt Geliebter Gräfin Marie d´Agoult.

Viel Spaß beim Hören! :D

Beste Grüße
Holger
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