Von Pierre-Laurant Aimard, der vor allem mit seinen Interpretationen Neuer Musik bekannt wurde und sich erst in den letzten Jahren mit klassisch-romantischem Repertoire einen Namen als universeller Interpret machte, erwartet man kein „normales“ Liszt-Programm und ist beglückt: Da wird Liszt programmatisch gezeigt als der große Innovator und Anreger für die Moderne. Das Programm ist ungemein avanciert, enthalt 2 CDs von jeweils über 70 Minuten Spieldauer zum Preis von einer! Und was für gewichtige „Brocken“ darunter sind: Liszts große H-Moll-Sonate, die Alban-Berg-Sonate, die 9. Sonate von Alexander Sciabin. Eine Platte, die Bezüge herstellen will vorwärts und rückwärts, Musikhören als lebendige Musikgeschichte, der Wandlung und Verwandlung von geistig-musikalischen Ideen. Das ist ihm zweifellos gelungen. Es empfiehlt sich jedoch, das Hören mit der zweiten CD zu beginnen:
Wirklich verblüffend ist die Verwandtschaft der Klagelieder von Liszt („Aux cyprès de la Villa d´Este aus „Anneés de Pèlerinage Heft III) und Bartok (Nénie op. 9a). Der Liszt-Verehrer Bartok sinniert hier gewissermaßen über Liszt und spinnt daraus seine eigenen musikalischen Gedanken weiter. Es folgt eine der Franziskus-Legenden Liszts (fälschlich im Klappentext als zum Zyklus „Anneés de Pèlerinage“ gehörig angegeben!) – das Thema der Vögel findet dann seine Fortsetzung bei Marco Stroppa und Olivier Messiaen: Romantische Naturreligiosität – in Messiaens Frömmigkeit findet sie ihren Widerhall, bei Stroppa wird sie transformiert in eine rein ästhetische Studie über Bewegungen und Klänge. Auch Liszts berühmtes Wasserstück „Les Jeau d´eau à la Villa d´Este“ fand seinen Bewunderer in Maurice Ravel, das ihn zu seinen „Jeux d´eau“ inspirierte. Auch hier vollzieht sich eine Ästhetisierung der ursprünglich religiösen Idee – die Wasserspiele bei Liszt im Garten der Villa d´Este bei Rom, wo Liszt sich aufhielt, sind Symbol der göttlichen Emanation im christlich-neuplatonischen Sinne: Das Wasser fließt von einer Brunnenschale in die nächste wie der Ausfluss des Seins aus dem ursprünglichen Einen in verschiedenen Seinsstufen, so wie es Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“ ausspricht:
- Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Die Bewegung, das „Strömen“, ist zugleich Ausdruck von Ruhe, des in sich ruhenden göttlichen Seins. Liszts Wasserspiele sind entsprechend kein naiv-naturalistisches, tonmalerisches Wassergeplätscher: Genau diesen kontemplativen Sinn muss der Interpret dieser Musik treffen, sonst verfehlt er die religiöse Dimension dieser Musik. Liszt ist der Erfinder des religiösen Klavierstücks. An den Schluss seines Programms setzt Aimard Liszts Vallée d´Oberman aus dem ersten Heft der „Anneés de Pèlerinage“ und betont (Klappentext) im Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert (den ich letzte Woche in München bei einer Konferenz kennenlernen durfte): Bei Messiaen gehe es „objektivierend“ um die „geordnete“ Natur „als meditatives Erleben der Zeit im Durchschreiten eines Tages, bei Liszt subjektivierend als Ringen des Künstlers mit der Nacht als Symbol des Durchschreitens der menschlichen Zeit.“ Aimard hält hier, was er verspricht. Die Interpretation von Vallée d´Oberman ist der krönende Abschluss des Recitals, eine musikalische Sternstunde! Er verzichtet völlig auf jede Attitüde des Tastenlöwen und bringt die Musik zum „Sprechen“, arbeitet die hochexpressiven Klanggesten heraus. So wird die Musik zum Drama eines Subjekts, das sich zu zerreißen droht zwischen Schwermut und Überschwang. Das ist Liszts Virtuosität in einer Verwandlung in Seriosität, statt dem Rausch zu verfallen bleibt es bei gefasster Innerlichkeit. Bezeichnend wählt er die melodische Ossia-Variante, um den Aufbau des Schlusshymnus nicht allzu prunkend-triumpfal wirken zu lassen. Auch die Interpretationen der Legende wie der Wasserspiele überzeugen durch Aimards Zurückhaltung, der inneren Ruhe, mit der er die atmosphärischen Klänge sich ausbreiten lässt. Dass ihm die „moderne“ Musik des 20. Jahrhunderts liegt, darüber braucht man bei Aimard natürlich kein Wort zu verlieren. Einzig Ravels „Jeux d´eau“ wirkt ein bisschen spröde. Das erlebt man bei der französischen Altmeisterin Monique Haas doch deutlich klangvoller und auch avancierter, „moderner“, was die Herausarbeitung der Bewegungsstrukturen angeht. Aber vielleicht liegt es auch etwas am Flügel?
Ich habe empfohlen, nicht gleich mit der ersten CD zu beginnen. Denn bei den späten Liszt-Stücken lässt Aimard die Expressivität, welche er in Vallée d´Oberman zu zeigen vermag, nahezu völlig vermissen. Die Trauergondel Nr. 1 wirkt wie der vergebliche Versuch, Liszt zu einem verfrühten Debussy zu machen. Alfred Brendel oder auch Maurizio Pollini spüren in der Bassbegleitung die beunruhigenden Pendelbewegungen auf – die Anklänge einer Berceuse, das Wiegen eines Totenschiffes in unruhiger Wasserbewegung, in dem sich ein verzweifeltes Wühlen des Subjektes verbirgt. Das erscheint doch bei Aimard alles sehr indifferent und ausdruckslos. Ähnlich „Unstern! Sinistre!“ Maurizio Pollini versteht es hier, den Wut und den Trotz, die Verkehrung von Herorismus in Verzweiflung hören zu lassen. Dass davon bei Aimard auch gar nichts zu spüren ist, liegt an der Reduktion der Musik auf Klangflächen, welche ihr jegliche Bewegungsdymamik raubt. Nicht gelungen ist auch „Nuages gris“ („trübe Wolken“), vielleicht das radikalste Musikstück, was Liszt komponiert hat: Eine zur Atonalität tendierende Tritonusharmonik und musikalische Abstraktion, welche die Musik „entsprachlicht“, die Phrasen in einen Wechsel von Tonfarben und Bewegungen auflöst. Die Interpretation kann hier den Weg gehen, dieses musikalische Wolkenbild als ein impressionistisches Stimmungsbild, eine Graustudie in Tönen, zu deuten, wie das bei Maurizio Pollini geschieht. Oder es wird zum existenziellen Ausdruck von Trübsinn und Trostlosigkeit, einer Erstarrung der Zeit, welche keine Zukunft kennt, wo alles gleichsam schon zuende gegangen ist, bevor es anfängt, wie dies Svjatoslav Richters eindringlicher Vortrag zu vermitteln vermag. Aimard fehlt hier offenbar ein interpretatorisches Konzept. Schon das eröffnende Pendelmotiv hat weder Atmosphäre, noch hat es Ausdruck: ein positivistischer, geradezu „dinglicher“ Ton ohne jegliche Kraft an Wirkung und Aussage. Und auch von der dramatischen Teleologie des per aspera ad astra (durch das Dunkel zum Licht), welche Liszt hier andeutet, um sie im Keim zu ersticken und unmöglich zu machen, ist rein gar nichts zu spüren. Die Programmauswahl ist auch hier ungemein aufschlussreich: Eine Klaviersonate von Richard Wagner – ausgerechnet Wagner, dem unerbittlichen Kritiker der Sonatenform, der sie musikdramatisch dynamisiert. Spannend! Auch die Berg-Sonate kann man als Antwort auf „Nuages gris“ hören. Aimards ungemein sorgfältige Interpretation bleibt für meinen Geschmack aber letztlich zu akademisch steif. Da ist Maurizio Pollinis dramatischer Zug mitreißender und auch Glenn Goulds Episierung aussagekräftiger. Die Scriabin-Sonate liegt Aimard, da gibt es „Valeurs“ und die Vorbereitung der Apotheose des Themas, seine Entstehung aus Motivsplittern, wird in ihrer Entwicklung vorbildlich vorgeführt. Und die H-moll-Sonate? Klar und sauber ohne jeden Pomp, stets wachsam und intelligent mit einigen wirklich sehr gelungenen, schönen Momenten. Doch insgesamt fehlt auch hier der „große Wurf“, die Geschlossenheit und die Umsetzung einer poetischen Idee wie auch die letzte Überlegenheit im pianistischen Sinne, über diesen Koloss zu jeder Zeit souverän zu gebieten. In der großen Fuge geht ihm doch etwas die „Puste“ aus. Nein, in die allererste Reihe würde ich diese Vorführung von Liszts Monumentalwerk nicht stellen wollen. Das alles ist jedoch kein Grund, Aimards Liszt-Projekt im CD-Regal stehen zu lassen. Es gibt keine bessere Werbung für den Komponisten Liszt, seine musikgeschichtliche Bedeutung aufzuzeigen mit einer Reihe von seinen wahrlich bedeutendsten Kompositionen. „Hut ab“ vor einem solchen Liszt-Projekt von wirklicher musikalischer Intelligenz!
Beste Grüße
Holger