Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Einige werden mich hier schon kennen; ich habe mich allerdings in der letzten Zeit etwas rar gemacht - unter dieser Rubrik werde ich künftig meine Hörberichte einstellen - von Musik und Aufnahmen, die ich empfehlen kann! Ich hoffe zur allgemeinen Zufriedenheit! Mich freut jedenfalls die Resonanz! :)

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Gustav Mahlers Siebte Symphonie - Kondrashin

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Die Siebte Symphonie von Gustav Mahler ist mit seine schwierigste, sowohl was das Verständnis des hochkomplexen Werks angeht, das wohl eine Auseinandersetzung Mahlers mit Friedrich Nietzsches philosophischer „Zarathustra“-Dichtung darstellt, als auch die erheblichen Anforderungen an die Musiker. Wer diese Symphonie mal im Konzert erlebt hat mit einem „Provinzorchester“, der wird das leicht nachvollziehen können.

Kyrill Kondrashin hat eine wahrlich außergewöhnliche Studioaufnahme hinterlassen mit Mrawinskys „Leningradern“ – zugleich wunderschön und überlegen virtuos. Das französische Label Thara hat nun – endlich, muß man sagen! – Kondrashins Konzertmitschnitt mit dem Concertgebouw-Orkest von 1979 wiederveröffentlicht. (Kondrashin war emigriert aus der Sowjetunion und Principal Guest Conductor dieses Orchesters – er verstarb leider schon 1981 an einem Herzanfall.) Für die St. Petersburger Aufnahme hat er schon den Orden und Ritterschlag als einer der großen Mahler-Dirigenten verdient – dieser Konzertmitschnitt bedeutet da noch einmal eine Steigerung! Kondrashin und das Mahler-Orchester aus Amsterdam mit dieser Tradition (Mengelberg, Haitink) – das ist schlicht sensationell! Man merkt, da spielt das Orchester „seine“ Musik – was allein die Bläser an Rhetorik zu bieten haben, ist atemberaubend. Und Kondrashin dirigiert mit höchst ungewöhnlicher Akribie – da wird die Musik bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet – die Tempi entsprechen übrigens ziemlich exakt denen seiner Melodia-Aufnahme. Den ersten Satz beginnt er episch breit – es wird nicht knallig bunt, wie bei so vielen anderen. Für die Vielschichtigkeit des Ausdrucks sorgt das fabelhafte Orchester. Schon hier fällt Kondrashins Fähigkeit auf, klug auf die dynamischen Höhepunkte zuzusteuern. Seine ebenso klug dosierten Tempowechsel wirken immer organisch. Man hat das Gefühl, Dirigent und Orchester kommen in dieser Konzertsituation erst allmählich so richtig in Fahrt. Die erste der beiden Nachtmusiken ist ein Traum – einzigartig! Besser kann man das nicht spielen! Das dämonische Scherzo kann man kafkaesker kaum vortragen und die zweite Nachmusik beeindruckt durch ihre Beschwingtheit und die sich aus der scheinbaren Harmlosigkeit herausbildende schmerzliche, dramatische Spannung. Das berühmte – um nicht zu sagen berüchtigte (Adorno hat es ja geradezu denunziert als bloß hohlen Pomp!) – Rondo-Finale verschlägt einem den Atem. Das ist nicht nur virtuos, sondern unglaublich virtuos! Das Atemberaubende liegt in der Mühelosigkeit und Leichtigkeit – man meint, da erklingt ein leichtfüßig tänzelnder Mozart. Wo ist eigentlich das schwere, schwerfällige Blech geblieben, das einen bei vielen anderen Aufnahmen förmlich erdrückt? Da ereignet sich ausgelassene Lebensfreude, ohne dass es jemals lärmig würde. Auch hier versteht es Kondrashin meisterhaft, mit den Tempowechseln umzugehen und damit nicht nur monoton „knallig“ zu wirken, sondern eine große Ausdruckspalette zu zeigen. Das ist leidenschaftliche Lebensbejahung in allen ihren Facetten – das Leben wird in seinen verschiedenen Tempi der Freude wahrlich ausgekostet – da wirkt nichts irgendwie aufgesetzt, etwa wie bloßer „Theaterdonner“. Kaum zu glauben, dass die Ansterdamer hier mit ihrer Spontaneität und Mühelosigkeit in dieser Konzertsituation sogar die fabelhafte St. Petersburger Aufnahme noch ein klein wenig toppen können. Wahrlich „fabel“-haft!

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Chopins Nocturnes - Vasary

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Chopins Nocturnes haben es inzwischen in die Fernsehwerbung geschafft: Als verschlafene Romantik! Schaut man sich die aktuellen Chopin-Interpreten besonders aus China an, dann ist die seriöse Musikwelt daran nicht ganz unschuldig: Atmosphärische Klangbildchen werden da produziert, so, als wolle man nächtliche Stimmung dadurch fassen, dass alles in einen Nebel getaucht wird, wo die Konturen verschwinden, die harten Kontraste sich in luftigen Rauch auflösen. Chopin als Biedermeier-Komponist, der sich „ins Private“, die wohlige Stube zurückzieht und das große Welttheater ignoriert, als romantischer Pseudoimpressionist, der narzistisch in Stimmungsbildern schwelgt. Dass dies eine wirkliche problematische Rezeptionsgeschichte ist, zeigt die grandiose Interpretation von Tamas Vasary, die es sich lohnt wiederzuentdecken. Schon das erste Nocturne op. 9 Nr. 1 lässt aufhorchen: Dort notiert Chopin zu Beginn: piano expressivo! Und der große Lyriker Vasary spielt Expressivo. Keine glatten Linien, da wird vom Rubato-Spiel ausgiebig Gebrauch gemacht, aber auf eine zugleich sehr individuelle und organische Weise. So sehr Vasary auch die Musik „aufbricht“, er verliert nie den Blick auf den melodischen Bogen, die gesangliche Seite der Musik. Die Pianistik ist exquisit, auf höchstem Niveau: Zartestes Pianissimo, hingehauchte Läufe, wie es nur ganz Wenige können. Aber Vasary verbreitet eben keinen pseudoimpressionistischen Klangnebel! Nehmen wir z.B. das Nocturne op. 27 Nr. 1. Die Nocturnes beginnen meist sehr zart, aber im Mittelteil werden oft wahrlich stürmische Gewalten entfesselt. Chopins dynamische Abstufungen reichen in op. 27,1 von pp bis fff (!) – das ist eine gewaltige Spanne und Vasary spielt sie auch aus. Was ihm hier gelingt ist zu zeigen, dass Chopins Nocturnes eben mehr sind als bloße Stimmungsromantik, sie vielmehr in der Nachbarschaft zu seinen Balladen stehen. Die Ballade lebt von dem Wechsel der Charaktäre: Lyrischem, Epischen und Dramatischen. Und diesen Wechsel lässt Vasary hören – auf kleinstem Raum. Hier kann man erleben, welche Seelendramen in den scheinbar so harmlosen Nocturnes schlummern, das große Welttheater seinen Widerhall in der Seele des Künstlers findet. Diese Aufnahme kann man einfach nicht nur einmal hören! Sicher, manchmal nähert sich Vasary, der Ungare, seinem Wahl-Landsmann Liszt. Aber so nahe er auch dem Listzschen Expressionismus kommen mag, so wahrt er doch das, was Chopin auszeichnet: die aristokratische Noblesse. Das ist ein Klavierspiel von lyrischer Intensität – weder glatt noch manieriert. Für mich gehört diese Aufnahme zu den unverzichtbaren Referenzen – gleich neben Rubinstein und Arrau.

Beste Grüße
Holger
Bild
Fortepianus
Aktiver Hersteller
Beiträge: 3692
Registriert: 17.12.2008, 12:41
Wohnort: Stuttgart

Beitrag von Fortepianus »

Hallo Holger,

ich bin höchst erfreut, Dich hier wieder zu lesen! Deine Besprechungen sind einfach klasse, das macht direkt Lust, sich die Aufnahmen zu besorgen. Ich freue mich auch deshalb so, weil wir hier - obwohl es uns allen letzlich doch um Musik geht - eine recht geballte technische Kompetenz versammelt haben und über Technik eifrig schreiben und dikutieren, über Musik jedoch - von Ausnahmen selbstverständlich abgesehen (Sigi et al.) - meist etwas laienhafter als über Technik geschrieben wird. Da kommt ein Ausgleich in Form Deiner geschliffen geschriebenen, treffend formulierten und von tiefer Werkkenntnis geprägten Rezensionen wie gerufen. Danke, Holger!

Der gute Vasary geht ja so langsam auf die 80 zu - von wann ist die Aufnahme der Nocturnes, die Du besprichst?

Viele Grüße
Gert
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Fortepianus hat geschrieben:Der gute Vasary geht ja so langsam auf die 80 zu - von wann ist die Aufnahme der Nocturnes, die Du besprichst?
Hallo Gert,

soviel ich weiß ist er inzwischen Direktor des ungarischen Rundfunks oder war es zuletzt! Die Aufnahmen sind von Mitte der 60iger Jahre bei der Deutschen Grammophon-Gesellschaft. Er hat von Chopin die Nocturnes, Walter, Scherzi, Balladen, Etüden, Sonaten, Impromptus u.a. sowie die Klavierkonzerte eingespielt. Das alles ist wirklich exquisit, maßstabsetzendes, präzisöses Klavierspiel. Die DGG hat das veröffentlicht in zwei Boxen mit jeweils 3 CDs. Die gibt es - noch - im Internet zu bekommen, am günstigen sind die Importe aus den USA via Amazon. Da bezahlt man 15 Euro pro Box plus 3 Euro Versand. Das sollte man sich rechtzeitig bestellen, bevor die CDs endgültig vergriffen sind. So ist es ja leider heute - manche Interpreten werden einfach "vergessen". Bezeichnend: Brilliant-Classics hat eine Box herausgebracht "A Tribute to Tamas Vasary" - sehr billig mit Liszt, Brahms und Debussy. Das alles sind Lizenzausgaben von Aufnahmen der DGG! Auch diese Box sollte man sich als Liebhaber von Klaviermusik unbedingt zulegen!

Einen schönen Abend!
:cheers:

Beste Grüße
Holger
Bild
Rudolf
Webmaster
Beiträge: 4946
Registriert: 25.12.2007, 08:59
Wohnort: Bergisch Gladbach

Beitrag von Rudolf »

Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:Einige werden mich hier schon kennen; ich habe mich allerdings in der letzten Zeit etwas rar gemacht - unter dieser Rubrik werde ich künftig meine Hörberichte einstellen - von Musik und Aufnahmen, die ich empfehlen kann! Ich hoffe zur allgemeinen Zufriedenheit! Mich freut jedenfalls die Resonanz!
Lieber Holger,

ich freue mich sehr über deine Ankündigung, dich fortan wieder aktiver an unserem Forum zu beteiligen. Wie Gert schon schrieb, neigen wir (zumindest ich) etwas zur Technikverliebtheit. Umso interessanter und spannender sind für mich deine fundierten Berichte zu lesen, die mir eine Art der Musikrezeption vermitteln, die ich bewundere, für die mir aber das Hintergrundwissen (und wahrscheinlich auch einfach die Fähigkeit) fehlt.

Ich werde mir aber mit Sicherheit dann und wann erlauben, dir - genauso wie unseren Technikern, die gelegentlich schon mal mit den Augen kullern :roll: - die eine oder andere naive Frage zu stellen.

Viele Grüße
Rudolf
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Rudolf hat geschrieben:
Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:Ich werde mir aber mit Sicherheit dann und wann erlauben, dir - genauso wie unseren Technikern, die gelegentlich schon mal mit den Augen kullern :roll: - die eine oder andere naive Frage zu stellen.
Hallo Rudolf,

nur zu! Die vermeintlich "naiven" Fragen sind eigentlich immer die besten! Was die Technik angeht: Von der "Silbersand" bei Franz war ich ja wie ich auch berichtet habe schwer beeindruckt! Eure Leidenschaft kann ich sehr gut verstehen!
:cheers:

Beste Grüße
Holger
Bild
Franz
inaktiv
Beiträge: 4422
Registriert: 24.12.2007, 17:07
Wohnort: 53340 Meckenheim

Beitrag von Franz »

Mit Holger haben wir einen weiteren kompetenten Schreiber und vor allem Hörer und Liebhaber der Klassischen Musik hier an Bord. Freue mich auch sehr, von ihm einige interessante Vorstellungen darüber lesen zu dürfen. Klassische Musik beginne ich gerade erst für mich zu entdecken. Daran ist insbesondere Sigi schuld, der mir schon einige wirklich unter die Haut gehende Stücke vorgespielt hat. Also, Holger, gib Gas. :D Und auf unser Wiedersehen freue ich mich auch schon, machen wir Anfang des nächsten Jahres.

:cheers:
Gruß
Franz
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Franz hat geschrieben: Also, Holger, gib Gas. :D Und auf unser Wiedersehen freue ich mich auch schon, machen wir Anfang des nächsten Jahres.
Hallo Franz,

wunderbar, da freue ich mich natürlich besonders drauf! :D

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Chopins Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 35

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Historischer Interpretationsvergleich

Joachim Kaiser verfasste eine Streitschrift („Chopin und die Sonate“, in: Musik-Konzepte Heft 45, 1985) wo er das Paradox der Beliebtheit der Chopin-Sonaten bei den Pianisten und beim Publikum schildert – das gilt besonders für die Sonaten b-moll und h-moll – welcher die Ratlosigkeit und Ablehnung gegenübersteht, die sie durch Musikkritik und Musikwissenschaften immer wieder erfahren haben. Das reizt zu einer Beschäftigung sowohl mit dem Werk als auch der Interpretationsgeschichte. Dieses Thema erschöpfend zu behandeln, dafür ist sicherlich ein Internetforum der falsche Ort. Da es aber wie ich weiß in diesem Kreis einige Interessenten für mein Projekt gibt, möchte ich hier doch anlässlich des Chopin-Jahres zumindest einen Einblick in seinen „Aufbau“ gewähren.

Mein Chopin-Projekt zieht sich nun über zwei Jahre hin. Ein Grund dafür ist die nicht unerhebliche Schwierigkeit, manche unverzichtbaren Aufnahmen zu beschaffen. So habe ich nun endlich ein historisches Tondokument von Arthur de Greef, den Grieg als Interpret seiner Werke über alles schätzte, bestellen können, zum anderen die bei Nimbus-Records erschienene Studioaufnahme von Vlado Perlemuter nach einer vergeblichen Bestellung nun endlich doch bekommen. Eine empfindliche Lücke war Lazar Berman, von dem es zumindest auf dem Papier drei Konzertmitschnitte gibt – zwei ältere aus New York und Moskau sowie einen neueren aus Birmingham (BBC). Sehr froh bin ich, seinen Carnegie-Hall-Mitschnitt nun doch bekommen zu haben – die Interpretation ist eine Sternstunde. Ein Glücksfall ist auch, dass ich nun ein annähernd geschlossenes Bild der russischen Schule bekomme: Dazugekommen sind die Aufnahmen von Grigory Ginsburg sowie solcher prägenden Persönlichkeiten wie Heinrich Neuhaus (Mitschnitt von 1949), dem Lehrer u.a. von Gilels und Richter sowie Yakov Flier, dem Lehrer u.a. von M. Pletnev. Für Ergänzungen und Hinweise auf solche hier nicht erscheinenden besprechungswürdigen Aufnahmen und ihre Beschaffungsmöglichkeit bin ich natürlich dankbar! Etwas schwach vertreten ist z.B. noch die französische Schule, zu der natürlich auch die Türkin I. Biret (sie studierte in Paris bei Nadia Boulanger) und H. Grimaux gehören in der Rubrik „Pianistinnen“. Erfreulich: EMI hat kürzlich eine Box mit Aufnahmen von Emil Gilels herausgebracht, darin befindet sich auch die Sonate op. 35. Er hat also eine Studioaufnahme hinterlassen!

Ich bemühe mich gar nicht erst um numerische Vollständigkeit – das wäre von vornherein ein aussichtsloses Unternehmen. Mir geht es vor allem um eine aussagekräftige, repräsentative Auswahl. Die Gruppierung kann selbstverständlich unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen – ich sehe die getroffene Wahl als einen vorläufig getroffenen Komproniß an. Die gut 100 Jahre Interpretationsgeschichte dieser Sonate, die auf Tonträgern dokumentiert ist, zeigt folgendes sehr deutlich: Einfache Klassifizierungsversuche welcher Art auch immer versagen! Es gibt zwar bestimmte Pianistenschulen wie die polnische oder russische. Aber letztlich erweist sich das individuelle Profil des Interpreten als weitaus prägender als seine Abstammung aus einer bestimmten „Schule“. Weit eher lassen sich individuelle Abhängigkeiten erkennen in stilistischen Verwandtschaften zwischen Lehrer und Schüler wie etwa die zwischen Josef Hofmann und Shura Sherkassky. Völlig verfehlt wäre die Annahme, dass es nach dem 2. Weltkrieg einen großen Einschnitt gäbe zwischen einer historischen Aufführungspraxis, die sich an Traditionen des 19. Jahrhunderts orientierte und einer interpretatorischen Moderne. Aufnahmen wie die von Percy Grainger oder Alexander Brailowsky aus den 20iger und 30iger Jahren zeigen ein sehr modernes Klavierspiel, das seiner Zeit weit voraus ist. Von der Postmoderne-Diskussion kann man sicher lernen, dass der Versuch einer „Metaerzählung“ eine Konstruktion ist: Es gibt auch in diesem Fall weder eine kontinuierliche Einheit, noch so etwas wie eine Fortschrittsteleologie der Interpretationsgeschichte. Sicher, der neusachliche Interpretationsstil ist prägend geworden seit den 60iger Jahren. Aber nicht alle Interpreten liegen auf dieser Linie und es wäre auch eine modernistische Vereinfachung, die „Abweichler“ als obsolete, hoffnungslose Romantiker darstellen zu wollen. Statt ein Interpretationsschema „reguläre Norm“ und „Abweichung“ zugrunde zu legen, wird hier der Vielgestaltigkeit möglicher Interpretationsansätze Rechnung getragen, die durchaus bewusst ihre Quellen in verschiedenen Traditionslinien haben können, die sie ganz individuell zu einer neuen Synthese vereinen.

Die mir vorliegenden Aufnahmen habe ich erst einmal in 18 Gruppen eingeteilt, die noch nicht besprochenen kursiv gesetzt. Die Kriterien sind nicht einheitlich und deshalb auch nicht in jeder Hinsicht konsequent – es gibt also mehr oder weniger glückliche Kompromisse, das ist mir selbstverständlich bewusst! Die Zahlen in Klammern stehen für die Zahl der Aufnahmen (Studio und Konzert) eines Interpreten (mehr als eine).

Noch zu bearbeiten habe ich 17 (!) Aufnahmen. Bei Cortot noch nachzutragen: Aufnahmen von 1949 und 1953 sowie die Bearbeitung seiner kommentierten Ausgabe von op. 35. Bei Gilels ist noch die EMI-Studioaufnahme zu ergänzen und bei Pogorelich der Vortrag vom Chopin-Wettbewerb. Dazu: de Greef, Vasary, Perlemuter, Ginsburg, Kapell, Bulva, Ohlsson, Fialkowska, Kern, Lazic, Stern, Nat, Neuhaus.

I. Historische Aufnahmen I: De Greef, Hofmann, Paderewski, Friedman, Grainger
II. Historische Aufnahmen II: Godowsky, Rachmaninow, Brailowsky, Cortot (3)
III. Die Deutschen: Kempff und Backhaus
IV. Poeten und Virtuosen I: Horowitz (2), Cziffra (3), Cherkassky
V. Artur Rubinstein (4)
VI. Arturo Benedetti Michelangeli (ABM) (7)
VII. Emil Gilels (5)
VIII. Die polnische Schule: Askenase, Harasiewitz, Oleiniczak (2)
IX. Chopin modern: Weissenberg (2), Argerich, Anda
X. Die neue Sachlichkeit: Barenboim, Pollini (3), Vasary, Ashkenazy
XI. Frankreich: Nat, Perlemuter, El Bacha
XII. Chopin angelsächsisch: Katchen, Kapell, Perahia, Katin, Ohlsson, Shelley
XIII. Bulva, Moravec, Andsnes
XIV. Poeten und Virtuosen II: Janis, Freire, Hamelin
XV. Exzentriker und Individualisten: Francois, Pogorelich (2), Katsaris
XVI. Die russische Schule: Neuhaus, Flier, Ginsburg, Berman, Gawrilow, Sokolov, Pletnev, Kissin
XVII. Pianistinnen: Biret, Ousset, Fialkowska, Grimaux, Kern, Stern
XVIII. Die Youngstars: Lazić, Tokarev, Trpceski, Y. Wang

Beste Grüße
Holger
Bild
zatopek
inaktiv
Beiträge: 56
Registriert: 09.12.2008, 16:02

Beitrag von zatopek »

Hallo Holger,

schön, dass du dich endlich überwunden hast, einen Einblick in das Prokjekt zu gewähren. Ich warte ja schon lange genug darauf :wink:

Wieviele Aufnahmen hast du denn insgesamt ?

Ich hoffe, es bleibt nicht bei diesem kursorischen Überbrlick ?! Vielleicht kannst du einfach mal ein paar besondere Aufnahmen - besonders gut oder besonders schlecht - auswählen und vorstellen ?

Viele Grüße,

Bernd
Fortepianus
Aktiver Hersteller
Beiträge: 3692
Registriert: 17.12.2008, 12:41
Wohnort: Stuttgart

Beitrag von Fortepianus »

Bernd, Geduld. Holger hat doch gerade erst mit der Einleitung begonnen. Er schreibt doch
Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:Dieses Thema erschöpfend zu behandeln, dafür ist sicherlich ein Internetforum der falsche Ort. Da es aber wie ich weiß in diesem Kreis einige Interessenten für mein Projekt gibt, möchte ich hier doch anlässlich des Chopin-Jahres zumindest einen Einblick in seinen „Aufbau“ gewähren.
Welche Arbeit hinter einem so umfassenden Interpretationsvergleich steckt, können wir nur ahnen. Freue mich sehr darüber, Holger!

Viele Grüße
Gert
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

zatopek hat geschrieben:schön, dass du dich endlich überwunden hast, einen Einblick in das Prokjekt zu gewähren. Ich warte ja schon lange genug darauf :wink:

Wieviele Aufnahmen hast du denn insgesamt ?

Ich hoffe, es bleibt nicht bei diesem kursorischen Überbrlick ?! Vielleicht kannst du einfach mal ein paar besondere Aufnahmen - besonders gut oder besonders schlecht - auswählen und vorstellen ?
Hallo Bernd,

ich komme beim Durchzählen aktuell auf 84 - eingeschlossen die mehrfachen Zeugnisse eines Interpreten, die ja oft sehr, sogar extrem, unterschiedlich sind. Beispiel: Horowitz. Das habe ich auch so vor, einzelne vorzustellen! Der de Greef ist heute versandt worden, dann habe ich alle komplett aber noch einige MP3-Datein zu konvertieren, damit ich sie auch mit dem CDP abspielen kann.

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Chopin op. 35 - Horowitz und Sherkassky

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hier zwei Kostproben: Horowitz und Cherkassky. Bei Cherkassky sieht man, daß sich so ein historischer Vergleich lohnt: Seine Spielweise erklärt sich durch seinen Lehrer, den großen polnischen Pianisten Josef Hofmann (dessen Rollenaufnahme der Sonate allerdings weniger berauschend ist!). Das sind kurze Zusammenfassungen (H. und Ch. waren allerdings schon relativ bescheiden im Umfang) - mit der Zeit haben sich meine Besprechungen zu richtigen Artikeln ausgeweitet:

1. Dass Vladimir Horowitz ein höchst wandlungsfähiger Proteus war, das bezeugen seine beiden Aufnahmen der b-moll Sonate vom 13.5. 1950 (RCA) sowie die CBS-Studioaufnahme vom April-Mai 1962, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die 1950igerAufnahme ist wohl die exzentrischste und rücksichtslos-subjektivste, die jemals gemacht wurde. Antiklassisch ist zu milde ausgedrückt: Horowitz lässt auch jede Regel guten Geschmacks außer acht! In seiner absolut übertrieben Theatralik bleibt Horowitz jedoch Horowitz: ein Exzentriker nicht nur, sondern eben ein großes Genie. Ihm gelingt es, Chopins Empfindungswelt so vollkommen in die eigene zu transformieren, dass diese Verwandlung einfach zwingende Kraft gewinnt. Was so herauskommt ist ein bewegendes Drama extremer Seelenzustande, das es so nicht noch einmal gibt. Ganz anders die 1962iger Aufnahme, mit der sich der begnadete Klavierpoet Horowitz zu Wort meldet: Hier verzichtet der „Gott des Klaviers“ (Joachim Kaiser) auf alle Übertreibungen. Wieder ist seine Fähigkeit zu bewundern – gerade in den lyrischen Teilen – im Einfachen das verborgene Komplexe zu entdecken, welches damit Perspektivität und seelische Tiefe bekommt. Bei Horowitz gibt es so etwas wie betörende Schönheit – keine naive Naturschönheit freilich, sondern eine höchst kunstvolle, unendlich gebrochene. Auch der Trauermarsch vollzieht in der 1962iger Aufnahme die Wandlung vom theatralischen Tastendonner ins unaufdringlich Poetische. Das Presto-Finale beeindruckt durch seine stupende Trockenheit, eine seelenlose Maschinenrhythmik, die fast schon an Prokofieffs Toccata gemahnt. Zu sagen ist da nur noch: Horowitz Aufnahmen sind wahrlich olympische Gipfel großer Kunst geistvoll-begeisternden Klavierspiels!

3. Shura Sherkassky (geboren in Odessa, eigentlich Alexander Isaakowitsch (Schura) Tscherkassky (Anm.: ein Transkriptionsproblem, im kyrillischen Alphabet gibt es den Buchstaben „tsch“), 1909-1995) war ein virtuoser Klavierpoet, der die Seele des Augenblicks liebte. Er hinterließ keine Studioaufnahmen, jedoch sind von ihm eine Fülle von Konzertmitschnitten überliefert, darunter auch ein solcher der b-moll-Sonate aus dem Jahr 1982. Ein Präzisionsfanatiker ist Cherkassky freilich nicht. Klaviertechnisch ist vieles nicht ganz sattelfest – aber dem Poeten Cherkassky geht es nicht um Perfektion, sondern um den Gesamteindruck. Das macht etwa die Expositionswiederholung im Kopfsatz deutlich. Sherkasskys Musizieren im lebendigen Moment kennt keine identischen Wiederholungen: dasselbe wird immer wieder anders vorgetragen. Dieses Gestaltungsprinzip hat er von seinem Lehrer Josef Hofmann übernommen und zu einer Form spontaner Ausdrucksgestaltung weiter entwickelt. In Cherkasskys Aufnahme gibt es immer wieder überraschende, einfach beglückend-gelungene Momente wie etwa seine originelle, hochpoetische Deutung des Trauermarsches. Das Presto-Finale lässt keine Wünsche offen. Technisch souverän gespielt, keineswegs übermäßig virtuos, aber das ist hier auch gar nicht nötig: Cherkassky trifft einfach den poetischen Kern der Musik. Fazit: Eine musikalisch überragende Darstellung – eine der schönsten überhaupt!

Nr. 2 war der Cziffra - den habe ich, der großen Cziffra-Box wegen - überarbeitet, es kam noch eine Aufnahme hinzu! Davon gibt es keine Kurzfassung... :D

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Chopin op. 35 - Tokarev und Trpceski

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Und dann noch zwei Besprechungen ganz unten auf meiner Werteskala: Da hat einer wieder einmal einen Echo-Klassik bekommen für eine mäßige Leistung, was alles sagt über diese komerzielle Trophäe. Bei Trpceski muß man sich wirklich beherrschen, nicht auf die Stop-Taste des CD-Players zu drücken um dieses Hör-Martyrium zu beenden!

Für seine Debut-Platte bei Sony-Classics (Aufnahmen vom Februar 2007) erhielt Nikolai Tokarev den „Echo Classics“. Man erwartet also eine überdurchschnittliche, herausragende Leistung. Doch offenbar ist es etwas ganz anderes, von der Musikindustrie zum „Star“ hochgejubelt zu werden, als sich einen Platz in der Ahnengalerie großer Interpretationen zu sichern. Zu Tokarevs Vortrag der b-moll-Sonate kann man nur sagen: Musikalisch unreif und pianistisch blass. Die Einleitung beginnt eigentlich vielversprechend, nicht gewaltsam, sondern verhalten nachdenklich. Doch Verhaltenheit schlägt mit dem Beginn des Hauptthemas in Belanglosigkeit um. Diese rhythmische Bewegung ist weder Fisch noch Fleisch. Wenn sich Tokarov auch vornimmt, eine dynamische Steigerung zu entwickeln, so fehlt ihr jedoch jeglicher dramatische Impuls. Den Akkorden mangelt es an tonlicher Substanz – der tonlos-metallische Klavierton klingt verdächtig nach Klavierwettbewerb. Das Seitenthema singt Tokarev eigentlich schön aus mit rundem Ton. Die Fortspinnungen allerdings wirken dann doch mehr jungburschenhaft ungelenk. Die finalen Steigerungen und Schlußapotheosen sind einfach schwach: hausbacken gespielt, da kommt keine dramatische Sprengkraft zum Vorschein. Die vorwärtsstürmenden Triolen Takt 81 ff. langatmig. Auch er wiederholt – wie Maurizio Pollini in seiner Aufnahme von 2008 – in der Expositionswiederholung die Grave-Einleitung. Die Durchführung mit einem Wort: blass, ohne jede Dramatik. Bei den Steigerungspartien fällt eine gewisse Glätte auf, dieser gewisse etwas sportliche Klavierwettbewerbsstil. Das Scherzo wie nicht anders zu erwarten: sportlich! Doch im Vergleich mit Altmeister Ashkenazy fehlt Tokarev die stupende technische Präzision. Das alles ist ein musikalisches Nichts – man kann es getrost überhören! Das Trio: ausdruckslos. Hier möchte man den Echo-Preisträger zurück in die Meisterklasse schicken. Einfach unreif, da mangelt es an grundlegendem musikalischen Rüstzeug: Wie gestaltet man eine Phrase? Der Trauermarsch breit und zäh von indifferentem Ausdruck. Das ist Musik ohne jedes Gewicht – einfach nichtssagend! Nicht nur, dass Tokarev die Dynamik reduziert. Es ist ein doch begrenztes Ausdrucksvermögen zu konstatieren. Beim lyrischen Intermezzo kann man nur fragen: Was soll es bedeuten? Eine weitere musikalische Nichtigkeit. Bei der Reprise des Trauermarsches hat man Mühe, nicht auf die Stop-Taste des CD-Players zu drücken! Das Presto-Finale ist im großen und ganzen akzeptabel. Das ist bewegt-beweglich und er bemüht sich, Strukturen herauszuarbeiten. Ein unterhaltsames Geplätscher zum Schluss – von erhabener Größe der Musik Chopins keine Spur!

Bei Simon Trpceski sieht es leider nicht besser aus. Auch er gibt ein Zeugnis dafür ab, dass die b-moll-Sonate nur etwas für den reifen Interpreten und nichts für profilierungssüchtige Youngstars ist. Lasst die Finger davon, möchte man all diesen Tokarevs und Trpceskis, die wohl leider Gottes noch kommen werden, zurufen! Die Einleitung ist an gedankenloser Unbedarftheit kaum zu überbieten. Das Hautthema: Sportlich, oberflächlich und ohne wirkliche Präzision. Das Seitenthema breit ausgesungen, etwas langatmig. Die Fortspinnungen wie bei Tokarev zu jugendlich einfältig. Die Triolenpassage wird etüdenhaft gehetzt. Man glaubt sich auf dem Klavierwettbewerb, wo Geschwindigkeitsrekorde immer noch belohnt werden. Die Durchführung verbreitet durchaus Unruhe, aber was ihr fehlt ist dramatische Sprengkraft. Nichts Subversives also! Die technisch schwierige Stelle Takt 138 f. technisch ordentlich bewältigt. Das Scherzo einmal mehr: Etüdenhaft und sportlich-wettbewerbsmäßig. Das Trio ähnlich unausgegoren wie bei Tokarev mit schwammigen Phrasierungen. Auch beim Trauermarsch kann man nur sagen: Siehe Tokarev! Die Ausdruckslosigkeit des Trauermarsches wird um so auffälliger durch die unendlich lang gehaltene Fermate ganz zum Schluss der Reprise – da wird etwas musikalisch gewichtet, wo kein Gewicht ist. Das lyrische Intermezzo zeigt eine geradezu unbeholfene Phrasierung. Man wünschte ihm, er könnte zu Rubinstein in die Lehre gehen und die Kunst erlernen, was es heißt, die ideale Linie zu treffen! Das Presto-Finale: Technisch sehr gut und dynamischer gestaltet als bei Tokarev. Aber auch hier fehlt so etwas wie subjektive Einfühlung, welche dem ganzen Sinn und Bedeutung geben könnte.

Beste Grüße
Holger
Bild
Antworten