Guten Abend,
am Sonntag kam der Lehrer von Lukas Sternath in die Kölner Philharmonie. Das Programm war äußerst anspruchsvoll (Bach, Brahms, Beethoven/Liszt) und ich war gespannt, wie Igor Levit - auch im Verhältnis zu seinem Schüler - spielen würde. Hatte ich ihn doch vorher eher in die Kategorie "analytisch, perfektionistisch, sachlich" verortet. Ich muss ihn wohl schon lange nicht mehr live erlebt haben, denn diesmal spielte er ganz anders: emotional, sensibel, mit Gänsehauteffekt, kurz: genial! Die Finger schwebten förmlich über der Tastatur, wenn er seine zarten Pianissimotöne platzierte, die Klänge durften oft lange ausschwingen und Fortissimo war dann auch fortissimo. Nebengeräusche störten Levit (im Gegensatz zu einigen anderen Pianisten) nicht.
Nun - so ganz stimmt das nicht - schließlich spielte er in der Kölner Philharmonie. Und deren Publikum ist bekannt dafür, dass es aktiv bei Konzerten mitmacht. Nicht umsonst hat uns sogar Alfred Brendel seinerzeit ein eigenes Gedicht gewidmet: "Die Huster von Köln". Ja, es ist die kalte Jahreszeit. Aber in Köln wird unabhängig davon oft ungeniert (also nicht verhalten) laut gehustet, diese Kunst wird geradezu zelebriert. So wird dem Kennerohr vom sonoren Bass-Huster mit crescendo-Verlauf bis zum helltrötenden Benjamin Blümchen-Trompetenstoß alles geboten, was die Kunst zu bieten hat. Brendel vermutete in Köln sogar einen "Hust- und Klatschverein", für dessen Mitglieder die Philharmonie den idealen Lebensraum darstelle. Levits Konzert wäre dann die jährliche Hauptversammlung des Vereins gewesen

Auch besitzt das Kölner Publikum genaueste Kenntnisse der Musikwerke, damit bei leisen Stellen - besonders in der lähmenden Stille von Generalpausen - deutlich gehustet werden kann.
Auch die 2. Abteilung des Vereins (die Klatscher) waren am Sonntag gut vertreten. Bei Brahms op.118 ließ Levit das 2. Intermezzo wunderschön ausklingen, was eine Dame dazu verleitete, laut "bravo!" zu brüllen. Levit war völlig raus, musste das Weiterspielen unterbrechen und - lächelte nur. Im Gesicht konnte man deutlich lesen "ach ja, ich bin ja heute in Köln". Das Publikum sah das als Bestätigung an und klatschte und lachte um die Wette. Als Levit dann das Stück zu Ende spielen wollte, musste er zweimal abbrechen, schüttelte mehrmals den Kopf und rief "ich weiß gar nicht mehr, wo ich war" - und lächelte trotzdem. Respekt.
Danach fand er direkt wieder ins Spiel - und wie!
Nach mehreren wohlverdienten Standing Ovation-Bezeugungen setzte er sich für eine Zugabe an den Flügel und sagte zum Publikum gewandt: "Ich spiele jetzt Dimitri Schostakowitsch …" Zu mehr kam er nicht, da bereits eine vorwitzige Dame ein lautes "Ach nee" von sich geben musste. Wieder ein Lachen bei Levit und ein kurzes "Doch, ich spiele jetzt Schostakowitsch!", dann drehte er sich schnell zum Flügel und begann den Walzer.
Ein unvergesslicher Klavierabend!
Viele Grüße
Jörg