Seite 1 von 2

Sprungantwort aus Sinussweep

Verfasst: 24.04.2022, 15:28
von Sebabe
Hallo, ich habe mal eine allgemeine Frage zur Sprungantwort.
Vielleicht für viele ein altes Thema - ich würde es aber gern besser verstehen.

Die meisten Sprungantworten, die wir hier ansehen, sind ja aus einem Sinussweep entstanden.

Ich frage mich, ob man dabei einen Fehler macht, da in der Sinusmessung der Lautsprecher ja ständig in einer Art von eingeschwungenem Zustand ist und eine impulshafte physikalische Bewegung nicht stattfindet.

Sieht man dann nicht vor allem die statischen Eigenschaften in der Gruppenlaufzeit über die Frequenz,
die zB durch die Frequenzweiche usw. entsteht?

Übersieht man dabei vielleicht die unterschiedliche Trägheit verschiedener Chassis? Oder die Steifigkeit des Gehäuses, das bei einem Impuls erstmal Energie speichern würde..

Meine Frage hat zwei Erfahrungen als Hintergrund:
Wenn ich zB. einen Kopfhörer mit Graphenemembran anhöre, dessen Membran um ein vielfaches leichter ist, als herkömmliche Membranen - höre ich das sehr deutlich in den wahrgenommenen Transienten und Details. Würde aber erwarten, das ein Sinussweep hier genau gleich aussieht. Gerade wenn er langsam gespielt wird, würde doch auch eine schwerere Membran die Frequenzänderung sehr gut mitmachen können. (Oder vielleicht nicht?)

Gleiches bei Lautsprechern, sehr steife Gehäuse und leichte schnelle Chassis, können tolle percussive Impulse wiedergeben - auch wenn die Sprungantwort aus dem Sinussweep "schlecht" aussieht.

Wie ist da der Zusammenhang?

Viele Grüße
Sebastian

Verfasst: 24.04.2022, 18:03
von uli.brueggemann
Sebastian,

lineare Systeme, hier Lautsprecher, werden durch ihre Pulsantwort (= Antwort auf einen idealen Puls als Eingangssignal) eindeutig beschrieben. Zwei unterschiedliche LS haben demzufolge unterschiedliche Pulsantworten.

Wird nun ein Sinussweep wiedergegeben verhalten sich die LS gemäß ihrer Pulsantwort. Du kannst dabei die Pulsantwort wie ein Filter betrachten.
Das Ergebnis sind also Sweeps die sich vom Eingangssweep unterscheiden.

Werden nun die Messungen mit einem zum Eingangssweep passenden inversen Sweep gefaltet (= gefiltert), bekommt man wiederum die Pulsantwort als Ergebnis.

In Analogie dazu wäre eine Formel wie
x * y * (1/y) = x

Man bekommt also tatsächlich durch die Faltung mit dem inversen Sweep die Pulsantwort.
Und die Pulsantworten zweier LS zeigen sich denn entsprechend unterschiedlich.

Die Sprungantworten berechnen sich wiederum als Integral der Pulsantworten über der Zeit (= Flächeninhalt unter den Pulsantwort-Kurven).
Insofern entsprechen die Sprungantworten damit auch dem unterschiedlichen Verhalten der LS.

Also: genauso wie die LS Musik hörbar unterschiedlich wiedergeben tun sie es auch bei den Sweeps. Der Trick ist dabei eben die Rückberechnung mit den Inversen.
Es ist eigentlich sogar völlig egal wie das Eingangssignal ausschaut, sofern man die zugehörige Inverse kennt.

Grüsse
Uli

Verfasst: 24.04.2022, 19:27
von Sebabe
Hallo Uli, vielen Dank für deine wie immer gut zusammengefasste Erklärung - soweit gehe ich mit.
Das verstehe ich (so einigermaßen).

Dennoch habe ich Zweifel (die vielleicht unbegründet sind).
Ich denke mal, dass der Sinussweep von verschiedenen Lautsprechern mit linerarem Frequenzgang kaum hörbar zu unterscheiden ist.
Ein dynamisches Signal wird sich aber deutlich unterscheiden. Nehmen wir mal ein Schlagzeugsolo zB. :-)
Einen Sinus abzuspielen ist doch für den Lautsprecher die denkbar einfachste Aufgabe. Wir sehen dann vielleicht auch so eine Art ideale Impulsantwort - die vielleicht schon mit einem MultiSinus und evtl. auftretenden Intermodulationsverzerrungen nicht mehr stimmt.
Vielleicht ein anderes Beispiel:
Koax Lautsprecher und der Doppler Effekt. Den würde ich ja nur sehen können, wenn ich den Tweeter und das Chassis dahinter anrege.
Das wird sich doch auch auf die Impulsantwort auswirken. (?)

Mir gehts nicht um die Methode der inversen Faltung, sondern darum, ob nicht ein anderes Anregungssignal besser geeignet wäre.
Vielleicht wäre so eine Art gepulste ML Sequenz besser geeignet? Oder ein gepulster MultiSinus. Vielleicht könnte man sich ein musikalisches Testsignal ausdenken. (Klaviertöne mit schönen Transienten am Anfang?) Gerade wenn du sagst man könnte jedes beliebige nehmen, wäre da mal spannend zu sehen welchen Unterschied das macht.

Und - der Sinus beschreibt den Lautsprecher nur bei einem Pegel. Impulse werden in den Peaks wahrscheinlich Lautstärken haben, bei denen wir ungern einen Sinus abspielen.. Vielleicht würde man da mehr Unterschiede sehen..

Letztendlich münden meine Gedanken wahrscheinlich eben genau darin - ob ein Lautsprecher wirklich linear genug ist, um die Impulsantwort aus einem Sinus zu bestimmen..

Viele Grüße
Sebastian

Verfasst: 24.04.2022, 21:45
von Dipolaktiv
Hallo

bei linearen Systemen spielt die Anregung keine Rolle. Praktisch ist es immer eine Frage der Präzision d.h. z.B. des Rauschabstandes.

Um nichtlineares Verhalten zu identifizieren, lässt sich mit Sinus-Powersweep arbeiten.

Also Sinusweeps mit Pegel der bei jedem Durchgang z.B. 3dB erhöht wird.

Diese Verfahren sind altbekannt. Hewlett Packard HP hat da sehr viel publiziert, heute Keysight.

Gruss

Peter

Verfasst: 25.04.2022, 07:16
von Buschel
Hallo Sebastian,
Sebabe hat geschrieben: 24.04.2022, 19:27 Dennoch habe ich Zweifel (die vielleicht unbegründet sind).
Ich denke mal, dass der Sinussweep von verschiedenen Lautsprechern mit linerarem Frequenzgang kaum hörbar zu unterscheiden ist.
Ein dynamisches Signal wird sich aber deutlich unterscheiden. Nehmen wir mal ein Schlagzeugsolo zB. :-)
Die von Uli beschriebene Messmethode erfasst auch das Phasen- und damit das Zeitverhalten. Als ich mit solchen Messungen angefangen habe, war ich auch neugierig, ob das soweit "in echt" funktioniert. Ich habe dann einfach ein Rechtecksignal erstellt, das abgespielt, aufgenommen und in einem Audio-Editor angeschaut. Es kommt derselbe Verlauf dabei heraus wie er von Acourate, REW oder auch Carma als Sprungantwort angezeigt wird.

Vielleicht beruhigt dich das etwas.

Viele Grüße,
Andree

Verfasst: 25.04.2022, 10:47
von uli.brueggemann
Wenn ein Lautsprecher genau das wiedergeben soll, was er zugespielt bekommt, muss er eine lineare Funktion aufweisen. Damit sind dann definitiv Nichtlinearitäten ausgeschlossen. Das gilt auch für ein Schlagzeugsolo.
Wobei: das lineare Verhalten kann auch mit einschliessen, dass ein Frequenz- bzw. Phasengang eben nicht perfekt ist. Linearität bedeutet hier, dass das Zuspielen eines Signals mit Verstärkung um den Faktor f eben auch ein Ausgangssignal verändert um den Faktor f ergibt.

Hat nun ein LS z.B. einen Höhenabfall um -20 dB bei 10 kHz wird ein Schlagzeugsolo sich anders anhören als ein LS ohne den Höhenabfall. Dabei werden eben auch die Transienten entsprechend beeinflusst. Das gilt aber auch für einen Sinussweep, der eben denselben Höhenabfall aufzeigt.
Also, das Signal ist in diesem Sinn egal. Der Sweep eignet sich eben nun einmal prima fürs Messen, weil man auch prima eine Inverse erstellen kann.
Ein logarithmischer Sweep hat dazu weitere Vorteile als dass er noch Nichtlinearitäten herausfiltert.

Ich hab übrigens mal vor langer Zeit ein Testsignal mit Pulsen gemacht, auch hier liess sich eine Inverse dazu konstruieren. Das hörte sich dann beim Abspielen an wie eine Wunderkerze zu Weihnachten. Reine Transienten. Das Ergebnis war dann dieselbe Pulsantwort wie beim Logsweep.

Grüsse
Uli

Verfasst: 25.04.2022, 12:13
von Sebabe
uli.brueggemann hat geschrieben: 25.04.2022, 10:47 Wenn ein Lautsprecher genau das wiedergeben soll, was er zugespielt bekommt, muss er eine lineare Funktion aufweisen. Damit sind dann definitiv Nichtlinearitäten ausgeschlossen. Das gilt auch für ein Schlagzeugsolo.
Meine Frage ist ja in wie weit diese Annahme, dass
der Lautsprecher linear ist, stimmt.
Das er es idealerweise ist - ist ja klar.
uli.brueggemann hat geschrieben: 25.04.2022, 10:47 Wobei: das lineare Verhalten kann auch mit einschliessen, dass ein Frequenz- bzw. Phasengang eben nicht perfekt ist. Linearität bedeutet hier, dass das Zuspielen eines Signals mit Verstärkung um den Faktor f eben auch ein Ausgangssignal verändert um den Faktor f ergibt.

Hat nun ein LS z.B. einen Höhenabfall um -20 dB bei 10 kHz wird ein Schlagzeugsolo sich anders anhören als ein LS ohne den Höhenabfall. Dabei werden eben auch die Transienten entsprechend beeinflusst. Das gilt aber auch für einen Sinussweep, der eben denselben Höhenabfall aufzeigt.
Also, das Signal ist in diesem Sinn egal. Der Sweep eignet sich eben nun einmal prima fürs Messen, weil man auch prima eine Inverse erstellen kann.
Ein logarithmischer Sweep hat dazu weitere Vorteile als dass er noch Nichtlinearitäten herausfiltert.

Ich hab übrigens mal vor langer Zeit ein Testsignal mit Pulsen gemacht, auch hier liess sich eine Inverse dazu konstruieren. Das hörte sich dann beim Abspielen an wie eine Wunderkerze zu Weihnachten. Reine Transienten. Das Ergebnis war dann dieselbe Pulsantwort wie beim Logsweep.

Grüsse
Uli
Wahrscheinlich hast du schon recht. Wenn du sogar diesen Test schon gemacht hast - ok. Dann hab ich nix gesagt :-)
Danke!


VG
Sebastian

Verfasst: 25.04.2022, 12:22
von uli.brueggemann
Sebabe hat geschrieben: 25.04.2022, 12:13 Meine Frage ist ja in wie weit diese Annahme, dass
der Lautsprecher linear ist, stimmt.
Das er es idealerweise ist - ist ja klar.
Den perfekt linearen LS gibt es vermutlich nicht.
Allerdings: je mehr ein LS nichtlinear ist, umso schlechter ist er. Im Sinn einer korrekten Wiedergabe. Der Rest ist dann Sounding. Ein verzerrter Gitarrenamp und -LS kann ja nett klingen. Wird aber für Vokalübertragungen dann eher seltener verwendet.

Grüsse
Uli

Verfasst: 25.04.2022, 12:26
von Sebabe
Hallo Uli,

das ist doch mein Punkt - wir vergleichen zwei Lautsprecher mit vielleicht idealer Impuls/Sprungantwort, übersehen aber vielleicht, dass einer von beiden viel weniger linear ist. Also klingen sie sehr unterschiedlich trotz gleicher Impulsantwort..
Und die Nichtlinearitäten sind dann ja sehr viel komplexer als nur der THD (klirr).

VG
Sebastian

Verfasst: 25.04.2022, 12:50
von uli.brueggemann
Sebabe hat geschrieben: 25.04.2022, 12:26 das ist doch mein Punkt - wir vergleichen zwei Lautsprecher mit vielleicht idealer Impuls/Sprungantwort, übersehen aber vielleicht, dass einer von beiden viel weniger linear ist. Also klingen sie sehr unterschiedlich trotz gleicher Impulsantwort..
Und die Nichtlinearitäten sind dann ja sehr viel komplexer als nur der THD (klirr).
Sebastian,

klar, ich kann mir auch zwei LS mit gleicher Sprungantwort vorstellen. Die müssen noch nicht mal ideal sein. Z.B. zwei LS genau derselbsen Bauart mit gematchten Treibern. Also der Einfachheit halber den linken und den rechten LS. Gemessen ergeben sich dann gleiche Pulsantworten. Die Pulsantworten enthalten dann nur den linearen Anteil, nicht aber z.B. harmonische Klirranteile. Und wenn die unterschiedlich sind (simples Beispiel kratzende Schwingspule), klingen die LS anders. So denn der Klirr auch wahrnehmbar hoch ist.

Nur:
a) suchen wir üblicherweise nicht nach gut klingenden LS mit hohem Klirr sondern im Gegenteil eher nach Klirrarmut
b) hat dieses Thema nichts mit Deinem Eingangspost zu tun, wo es ja darum geht ob denn die Sinusmessung die Transientenwiedergabe mit abdeckt oder nicht.

Grüsse
Uli

Verfasst: 25.04.2022, 15:34
von Hornguru
uli.brueggemann hat geschrieben: 24.04.2022, 18:03 Es ist eigentlich sogar völlig egal wie das Eingangssignal ausschaut, sofern man die zugehörige Inverse kennt.
Hi Uli

Das versteh ich noch.

Aber warum wird der Messsignal eigentlich von Tief-nach-Hoch gesweept, und nicht umgekehrt?
Hat das Vorteile?

Gruß
Josh

Verfasst: 25.04.2022, 15:54
von uli.brueggemann
Hornguru hat geschrieben: 25.04.2022, 15:34 Aber warum wird der Messsignal eigentlich von Tief-nach-Hoch gesweept, und nicht umgekehrt?
Hi Josh,

vermutlich Tradition. Andersherum würde auch genauso funktionieren (inkl. reversierter Inverse). Hätte das Vorteile?

Grüsse
Uli

Verfasst: 25.04.2022, 16:42
von Sebabe
Hallo Uli, wenn wir schon dabei sind - wie errechnet man den die Sprungantwort aus der Impulsantwort?
Ganz grob?

Grüße
Sebastian

Verfasst: 25.04.2022, 16:51
von uli.brueggemann
Sebastian,

die Pulsantwort liegt ja als diskrete Zahlenfolge in Form von Samples vor.
Die einfachste Form um daraus die Sprungantwort zu rechnen ist eben eine numerische Integration per Summenbildung.
Wenn also die Zahlenfolge der Pulsantwort z.B. 0, 1, 2, 3,-1, -2,0,1 ist ergibt sich die Sprungantwort als Summe mit 0, 1, 3, 6, 5, 3, 3, 4
Genaugenommen müssten die Ergebnisse noch mit einem Faktor multipliziert werden, spielt hier keine Rolle für die Kurvenform.

Grüsse
Uli

Verfasst: 25.04.2022, 16:53
von Sebabe
Hallo Uli,

klasse, Danke!

VG
Sebastian