Ich habe versprochen, noch einen
Nachtrag zu machen zu dem
„literarischen“ Stück in Liszts „Années... im ersten Band „Suisse“, den umfangreichen, zweiseitigen Auszug aus
Sénancours Briefroman „Oberman“. Das Versprechen löse ich hiermit ein!
![Very Happy :D](./images/smilies/icon_biggrin.gif)
Der Titel ist
„De l´expression romantique et du ranz-des-vaches“ (Über den Ausdruck des Romantischen und den Kühreihen“) und platziert zwischen Stück Nr. 7 („Eglogue“) und Nr. 8 („Le mal du pays“).
Der Kühreihen ist ein Schweizer Hirtenlied (Küher ist auf Schweizerdeutsch der Kuhhirte) mit großer Bedeutung für die nationale Identität. Nachlesen darüber kann man etwa hier:
http://www.swissinfo.ch/ger/Ranz_des_va ... id=7687958
Der Text ist wirklich wunderbar – es gibt wohl kaum ein schöneres literarisches Beispiel für eine wahrlich grandiose Naturschilderung der Alpenlandschaft, deren Ausgangspunkt Rousseaus Kultur- und Gesellschaftskritik ist, der Versuch, die „Natur“ wiederzufinden, weswegen der Text durchsetzt ist mit einer Reflexion über die romantische Empfindung in der Einsamkeit der Natur, welche die Gesellschaft vergessen hat, die Rolle von Sehen und Gehör und letztlich über die Musik. Sénancour geht hier im übrigen kritisch ein auf Rousseaus Artikel über den „Ranz-des-vaches“ in seinem berühmten
Dictionaire de la musique.
Der Bezug zur „klingenden“ Musik wird klar letztlich vom Schluss des Textes her, einer Anmerkung, wo Sénancour den Liedtext einer solchen Egloge, wie ihn das Schweizer Küherlied darstellt, wiedergibt (ich habe mir die Mühe gemacht, den Text komplett zu übersetzen!):
„Eine von dieser Art komponierter Eglogen, sagt man, aus Appenzel, in deutscher Sprache, endet ungefähr auf diese Art: „Tiefe Abgeschiedenheiten, vergessene Ruhe! O Frieden der Menschen und der Gegenden; ach, Frieden der Täler und der Seen! Unabhängige Hirten, ungebildete Familien, naive Bräuche! Gebt unseren Herzen die Ruhe der Sennhütten und die Entsagung unter dem strengen Himmel. Ungezähmte Berge! Kalter Zufluchtsort! Letzter Rastplatz einer freien und einfachen Seele!““
Liszts „Eglogue“ sucht also nach einem solchen „Asyl“ (Zufluchtsort) der Seele, nach den Verwirrungen der Skepsis und des Nihilismus in „Valée d`Oberman", wo die geplagte Seele endlich Ruhe findet. Und die Therapie heißt: Entsagung – sich mit dem Einfachen, den elementaren Bedürfnissen, zufrieden geben und darüber den Weltschmerz vergessen.
Nun stellt sich aber die Frage: Warum hat Liszt denn diesen Text nicht seiner „Eglogue“
vorangestellt, sondern ihn
nachfolgen lassen? Auch darauf gibt es bei Sénancour eine Antwort. Sénancour schreibt nämlich – in seiner Diskussion von Rousseaus Artikel – dem Kühreihen die Fähigkeit zu, ein solches ursprüngliches Naturerlebnis wachzurufen, wieder zum Leben zu erwecken und kritisiert Rousseau, wenn er das bestreitet. Immer dann, wenn wir ein solches Hirtenlied hören, versetzt uns das quasi zurück in eine solche erhabene Alpenlandschaft und alle Bilder und Empfindungen dieses Naturerlebnisses kehren auf diese Weise in unserer Erinnerung zurück. Liszt vollzieht also damit, dass er Sénancours Beschreibung der Alpenlandschaft auf seine „Eglogue“ folgen lässt, diese assoziative Wirkung nach, welche auch er offenbar der Egloge zuschreibt, die bei ihm freilich eine zusätzliche Reflexionsebene bekommt: Die Egloge erinnert Liszt nicht nur an die Alpenlandschaft, sondern an seine Lektüre von Sénancours Darstellung eben dieser Landschaft. Das zeigt eine „Literarisierung“ des Erlebnisses, die literarische Verarbeitung, die Reflexionen über Natur und Kunst, über die Rolle der Musik überhaupt werden in das Naturerlebnis mit eingeflochten. Letztlich ist es gerade die Einheit von Naturerlebnis, literarischem Zeugnis sowie der erklingenden Musik, welche der Musik ihre „existenzielle“ Dimension gibt, wo es nicht nur um den bloßen Hörgenuss, sondern um die Selbstfindung des Subjektes geht: Romantische Kunst als Lebensweise.
Beste Grüße
Holger