Zu meinen Lieblingsstücken von Liszt gehört „La bénédiction de dieu dans la solitude“ Nr. 3
aus dem Zyklus „Harmonies poétiques et réligieuses“. Die Titel sind beide von dem französisch-romantischen Dichter Alphonse de Lamartine übernommen, dessen Dichtungen romantische Naturreligiosität in reinster Form verkörpern. Die Segnung Gottes geschieht in der Einsamkeit – gemeint ist natürlich: der Einsamkeit der Natur fern von der Menschenwelt. Die Natur wird zum Zufluchtsort der Selbstfindung, zu einer Art Exil der romantischen Seele, die von der Welt enttäuscht in der Natur Erfüllung, Ruhe und Frieden findet. Gott begegnet dem Menschen in der Natur – und nicht in der verlogenen Menschenwelt. Die beiden ersten Strophen des Gedichtes lauten:
Woher, mein Gott, strömt dieser Friede mir?
Woher quillt dieser Glaube, der mein Herz
Erfüllet, mir, der eben schwankend noch,
Umhergeschleudert auf des Zweifels Wellen
Von jedem Windstoß, in den Träumerei´n
Der Weisheit dieser Welt das Wahre, Gute
Gesucht, und in der sturmbewegten Brust
Den Frieden? Wen´ge Tage zogen kaum
mir über´m Haupte hin, und schon bedünkt
Es mich, dass ein Jahrhundert, eine Welt
Entflohen sey, ein unermesslich Grab
Mich scheide von den Hingeschwundenen;
Daß ich ein neuer Mensch auf neuer Bahn
Erwache und Begönne!
Dies ist´s allein, dass ich das Weltgewühl,
Das allen Frieden mordet, oder trübt,
Verlassen für die stille Einsamkeit;
Daß ich mein ländlich Thal hier wiederfand,
Das Murmeln meiner Quelle, meiner Buche
Hellgrünes Schattendach; die Berge dort
Die blauen Säulen eines Strahlenbogens,
Und meinen Sternenhimmel, der auf mich
Das seligste Entzücken niedergießt.
Lamartines Sammlung erschien 1830 und schon 1831 wurde sie ins Deutsche übersetzt. Die Resonanz gerade auch in Deutschland war groß, erfüllte das damalige Bedürfnis nach metaphysisch-religiöser Dichtung, eine Religiosität, die freilich nicht dogmatisch und kirchengebunden war, sondern an das „Gefühl“ appellierte. So schreibt Friedrich Schlegel über Lamartines Dichtungen:
„Diese hohe Begeisterung und Tiefe des Gefühls, oder innige Beseelung ist nun die Region, in welcher wir mit diesem neuen Dichter zusammen treffen, so daß die große Scheidewand seiner und unsrer Sprache verschwindet. Man hört verwandte Töne im Wiederklang der innersten Herzgefühle, und glaubt die eigne Sprache zu vernehmen, weil es die Eine, Ewige ist, die allen zersplitterten Nationalsprachen zum Grunde liegt, und das innere Leben giebt.“
Genau das war auch Liszts Inspiration. Das Stück beginnt schon sehr eindrucksvoll mit einer langgezogenen Melodie, die wirklich „atmet“, frei ausschwingt in eine quasi überdimensionale Weite. Die „klassische“ Melodie – auch die des Volkslieds – folgt dem einfachen Schema der achttaktigen Periode. Bei Liszt wird diese Periode ausgeweitet auf nahezu 20 Takte und dann mehrfach wiederholt und zu einem Hymnus gesteigert. Die Bewegung lässt sich damit in kein vorgefertigtes Periodengerüst, kein konventionelles Schema mehr einzwängen, es gibt keine Zäsuren mehr, lediglich „Kommas“, die Melodie scheint endlos weiterzuschwingen, zur „unendlichen Melodie“ zu werden, wie es der Unendlichkeit der „freien“ Natur entspricht, wo alles aus innerem Antrieb heraus und nichts durch äußeren Zwang geschieht. Zweifellos wollte Liszt damit einen Ausdruck des „Erhabenen“ geben in der grenzenlosen Dimensionierung dieser melodischen Bewegung. Das andere Moment, was den Hörer in den Bann zieht, ist die „impressionistische“ Klanglichkeit und Klangfülle, die sich fast schon wie Debussy anhört. Auch das ist ein Aspekt romantischer Naturreligiosität. Der Regenbogen und seine Spektralfarben bei Lamartine – da wird die reine Materie zum Erlebnis und von allem menschlichen Ausdruck – aller Sprachrhetorik – gereinigt. So ist es auch in der Malerei: Die Romantiker malen das menschenfeindliche Hochgebirge. Die göttliche Natur ist nicht die auf den Menschen bezogene, sondern die menschenleere Natur, die sich der einsame Wanderer lediglich schauend erschließt – Caspar David Friedrich und sein „Wanderer über dem Nebelmeer“. Die elementaren Qualitäten, die „Farben an sich“, der „Klang an sich“, die reine Impression, bekommt einen Eigenwert und verstärkt den Enthusiasmus des Naturerlebens. Das Stück hat einen deutlich gemessener wirkenden Mittelteil (mit „Andante“ überschrieben). Cortot sagt hierzu, dass sei der Geschmack Robert Schumanns. Ich denke da immer an einen griechischen Tempel, wie Winckelmann ihn im 18. Jahrhundert beschrieb, als „edle Einfalt und stille Größe“: die Antike als Ideal eines schlichten Lebens im Einklang mit der Natur. Wirklich aufregend – das erzeugt geradezu eine Gänsehaut – die mit „Piu sostenuto. Quasi Preludio“ überschriebene Überleitung. Nach einer wiederum ungemein atmenden Pause wächst aus der marmornen Starre leidenschaftliche Gefühlsbewegung wie aus dem Nichts heraus, wie eine „Geburtsstunde“ des Menschlichen. Es folgt die Apotheose des melodischen Themas und eine wahrlich impressionistische Auflösung der Musik in reinen Klang, einen Klangrausch von Farben geradezu, die Formen auflösend. Das hochromantische Stück endet mit einem schlichten Andante – im Volksliedton als Ausdruck des ungekünstelt Naturhaften.
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Empfehlenswerte Aufnahmen: Jorge Bolet, Cyprien Katsaris, Claudio Arrau. Hamelin habe ich leider (noch) nicht!
Beste Grüße
Holger