Bruckner und seine Symphonien

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
alcedo
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Bruckner und seine Symphonien

Beitrag von alcedo »

Hallo Klassikfreunde,

Anton Bruckners 200. Geburtstag im Jahr 2024 ist ein willkommener Anlass, um mich vergleichend durch seine Symphonien durchzuhören – erscheinen doch zu diesem Ereignis viele Wiederveröffentlichungen und Neuaufnahmen seiner Werke.

Ich muss anmerken, dass ich kein großer Kenner seiner Symphonien bin und bislang hauptsächlich seine Messen hörte. Daher die Eröffnung dieses Threads mit der Idee, eure Erfahrungen und „Lieblingsaufnahmen“ der Symphonien kennen zu lernen. Und damit auch für „Bruckner-Einsteiger“ (wie mich) eine Brücke zu bauen.

Als Standard/ Referenz gelten meines Wissens immer noch die Gesamtaufnahmen unter Günter Wand mit dem Sinfonie-Orchester des WDR Köln aus den 1970´ern oder auch Eugen Jochums Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern 1958-1968 (weniger dagegen der zwischen 1975 und 1980 mit der Staatskapelle Dresden aufgenommene Zyklus). Ich selbst mag sehr den Zyklus von Stanislaw Skrowaczewski mit dem Saarbrücker RSO.

Die Schwierigkeit bei Bruckners Symphonien liegt u.a. in den vielen verschiedenen Fassungen, die es davon gibt. Und in den unnummerierten Symphonien (neben der „Nullten“ gibt es noch eine „Doppel-Null“, eine „annullierte“ und eine „Studien-Symphonie“). Das wollen einige neue Gesamteinspielungen mildern. So etwa das Anton-Bruckner-Orchester Linz, das mit seinem Dirigenten Markus Poschner derzeit nicht nur die bekannten neun, sondern 18 Symphonien aufnimmt. Seit einiger Zeit setzt sich die Einschätzung vermehrt durch, dass die unterschiedlichen Fassungen als eigenständige Werke aufzufassen sind. Das erklärt die Zahl von 18 Symphonien.

Alternativ kann die Gesamtaufnahme des Bruckner-Experten Gerd Schaller mit der Philharmonie Festiva wärmstens empfohlen werden, der seit 2011 (!) akribisch alle Fassungen aufgearbeitet und aufgenommen hat – erhältlich in einer preiswerten 20 CD-Box, die zusätzlich auch die 9. Symphonie in einer Bearbeitung für Orgel (durch Schaller selbst) enthält.

Wer die Symphonien ohnehin lieber über Orgeltranskriptionen kennen lernen mag (schließlich wurde Bruckner durch sein Orgelspiel weltberühmt), dem sei die (noch laufende) Erst-Gesamteinspielung derselben durch Hansjörg Albrecht empfohlen. Bislang sind die Symphonien 0-6 erschienen. Bis 2024 sollen die restlichen aufgenommen sein – „an europäischen Originalschauplätzen und auf repräsentativen Großorgeln in Konzerthallen und Kathedralen“ (so der Marketingtext). Ich habe mir davon die 4. angehört und war sehr positiv davon angetan.

Ein recht guter Überblick aller Aufnahmen findet sich hier https://www.abruckner.com/discography1/ ... o4ineflat/

Apropos Überblick: bislang wurde im Forum nur wenig über Bruckner diskutiert.
Hinweise finden sich u.a. hier:
viewtopic.php?p=211826&hilit=bruckner+symphonie#p211826
viewtopic.php?p=209750&hilit=bruckner+symphonie#p209750
viewtopic.php?p=97921&hilit=bruckner+symphonie#p97921
viewtopic.php?p=91119&hilit=bruckner+symphonie#p91119
viewtopic.php?p=51814&hilit=bruckner+symphonie#p51814

Dies mag als Einstieg genügen.

Und nun würde ich mich freuen, wenn auch ihr die ein oder andere schöne Aufnahme, die euch gut gefällt, hier kurz schildern würdet.

Viele Grüße,
Jörg
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Thomas86
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Beitrag von Thomas86 »

Hallo Jörg,

nur in aller Kürze:

nach intensiver Studie der einzelnen Bruckner Sinfonien, empfehlen sich die Interpretationen von Celibidache.
Sein Gespür für den Entstehungsprozess und Zeit (Stichwort Buddhismus - Hinduismus) sucht m.E.n. seinesgleichen.

Empfehlenswert (falls man Thielemann nahe steht) sind seine Interpretationen mit den Berlinern Philharmonikern.

viele Grüße
Thomas
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Thomas,

Cellis Aufnahmen besitze ich (mit verschiedenen Orchestern) und habe oft (noch) Schwierigkeiten mit seinen Tempi. Ich scheine dafür ausgeruht und in "meditativer" Stimmung sein zu müssen - dann ist es herrlich! Aber wenn ich nicht in dieser Stimmung bin ... :oops: Sagt natürlich nichts gegen Celibidache, sondern nur etwas über meine Rezeptionsfähigkeit aus.

Thielemann mit den Berlinern kenne ich noch nicht, dafür die mit den Dresdnern und den gerade entstehenden Zyklus mit den Wiener Philharmonikern. Werde ich mir auf die LIste schreiben ...

Viele Grüße
Jörg
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Horse Tea
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Beitrag von Horse Tea »

Hallo Jörg,

ich habe, wenige Jahre vor seinem Tod, er dirigierte schon im sitzen, ein Konzert von Günther Wand mit den Berliner Philharmonikern in der Philharmonie gehört. Es gibt aus dieser Zeit (um das Jahr 2000) auch Aufnahmen bei RCA (https://www.rondomagazin.de/kritiken.ph ... ken_id=479), die ich nicht zu Hause habe. Auch aus der Digital Concert Hall sind sie nicht abzurufen. Aber die schöne Erinnerung an dieses Konzert ließ mich diese Aufnahmen suchen und hier erwähnen.

Viele Grüße
Horst-Dieter
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Guten Abend, Horst- Dieter

Schöner Tipp. Die Symphonien 7-9 mit Wand und den Berlinern sind in meinem Bestand und die 7. habe ich mir gerade angehört. Farbenreich und spannend. Sehr ähnlich allerdings wie seine Interpretation mit dem NDR SO.

Viele Grüße
Jörg
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Thomas86
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Beitrag von Thomas86 »

Hallo Jörg,

ein Studienkollege von mir meinte, er schätze die Interpretation von Muti. Es gibt wohl nur wenige (Wiener + Chicago), jene sollen allerdings explizit seine Handschrift tragen.

Viele Grüße
Thomas
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Thomas,

Muti ist eine für mich überraschende Empfehlung. Ein Dirigent, den ich immer noch nicht so richtig einordnen kann - wenn das denn überhaupt sinnvoll ist. Habe ihn schon öfter live gehört - zuletzt in Berlin im Mai 2017 mit den Berlinern: eine schrecklich lahme (langweilige?) 4.Symphonie von Schubert und eine famose 4. von Tschaikowsky. Seine Verdi-Aufnahmen finde ich fast alle spannend und sehr gelungen. Auch seine Respighi-Interpretationen oder Brahms 3. Symphonie. Aber mit Bruckner habe ich ihn noch nie ... Ich bin gespannt.

Viele Grüße
Jörg
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo,

In den letzten Wochen habe ich mich intensiv mit der 4. Symphonie, der „Romantischen“ beschäftigt. Eine kleine Werkseinführung gibt dem Interessierten einen guten Überblick (https://de.wikipedia.org/wiki/4._Sinfonie_(Bruckner)).

Knapp 30 Aufnahmen wurden miteinander verglichen. Interessant: ein wirklich „schlechtes“ Album war nicht dabei.

Bei den Neuaufnahmen der 4. Symphonie hat mir die vielgelobte von Thielemann mit den Wiener Philharmonikern aus dem Jahre 2021 nur mäßig gefallen. Dagegen hat mir seine Interpretation mit der Dresdner Staatskapelle 2017 deutlich mehr imponiert. Thielemann nimmt zurzeit alle Symphonien auf. Erschienen sind bislang 2-5 und 8-9. Kurios: das wäre dann die erste Gesamtaufnahme der Wiener Philharmoniker unter einem einzigen Dirigenten mit Bruckners Symphonien! Vor 2 Jahren hat Thielemann übrigens die 4. mit den Wienern in Barcelona in der Sagrada Família aufgeführt – ich vermag mir nicht vorzustellen, wie „schräg“ die Musik in dieser riesigen Kathedrale geklungen haben muss – mit ihrem irre langen Nachhall.

Beeindruckend ist die kürzlich veröffentlichte Aufnahme der 1. Fassung der Symphonie durch das Gürzenich Orchester Köln unter Xavier Roth (bereits hier viewtopic.php?p=230619#p230619 empfohlen). Geht es noch besser?

Zumindest editorisch: Die Bamberger Symphoniker haben unter Hrusa gerade eine Box mit der 4. Symphonie auf vier CDs herausgebracht. Es werden neben den drei Fassungen auch noch Varianten eingespielt, gleichsam Fußnoten der wissenschaftlichen Ausgaben. Darüber hinaus weist die Aufnahme noch ein offenes, transparentes Klangbild sowie ein recht informatives Booklet auf. Hier (viewtopic.php?p=230549#p230549) hatte ich bereits kurz darüber berichtet. Sehr empfehlenswert.

Bewährte und immer noch sehr schön anzuhörende Interpretationen (neben Skrowaczewski und Wand) haben meines Erachtens Wilhelm Furtwängler (1951) mit den Wiener Philharmonikern (leider in miserabler Klangqualität), Eugen Ormandy (mit einem packenden Beginn des 1. Satzes) und auch – für mich völlig unerwartet – Karl Böhm (1973) mit den Wienern abgeliefert.

Hier seien noch 2 Extreme genannt, beide mit ihrem eigenen, sehr individuellen Ansatz (und entsprechender Fangemeinde): einerseits Celibidache, der mit den Münchener Philharmonikern beispielsweise für den 4. Satz 1988 als auch 1998 knapp 28 Minuten benötigt (mit toller kammermusikalischer Durchhörbarkeit, sehr filigran) und andererseits Otto Klemperer, der dafür 1954 mit dem WDR SO nur knapp 17 Min. braucht (mit einer atemberaubenden Wirkung).

Nun – schlussendlich haben mich aber 3 andere Aufnahmen am stärksten beeindruckt (quasi meine persönlichen favorites bei den „etablierten“ Interpretationen):

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Mariss Jansons (2008) mit dem Concertgebouw Orchestra: neben einem tollen Klangbild mit weitem Raum wird hier wunderbar vibrierend-lebendig musiziert.

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Bruno Walter (1960) mit seinem Columbia SO: herrlich sonorer warmer Klang und mit einer live-haftigen wunderbaren Atmosphäre

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Muti (1987) mit den Berliner Philharmonikern: (Danke für den Tipp, Thomas!): klar; schnörkellos; pathosfrei, aber leidenschaftlich; transparent mit geradezu leuchtenden Instrumenten; die Berliner spielen wie im Rausch („flow“) – und brillant wie selten.

Anmerkung: die genannten Aufnahmen stellen lediglich meine persönliche Auswahl dar – zumal ich auch nicht alle verfügbaren Aufnahmen gehört habe. Es sollte also nicht als Referenzliste interpretiert werden ;-)

Beste Grüße,
Jörg
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alcedo
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7. Symphonie

Beitrag von alcedo »

Guten Morgen,

leider kommen hier kaum Reaktionen oder Anregungen zu Bruckners Symphonien, so dass ich mich entschlossen habe, diesen Faden von meiner Seite nicht weiter zu führen. Wer will, kann dies irgendwann gerne übernehmen ...

Da ich inzwischen auch die 7. Symphonie verköstigt habe, will ich den Interessierten hier mein Fazit nicht verheimlichen.

Bruckners Symphonien werden oft mit gothischen Kathedralen verglichen - und das kann ich in der 7. besonders deutlich nachempfinden: viel Symmetrie im Aufbau, die musikalische Architektur der Symphonie ist an den „Goldenen Schnitt“ angelehnt, viele Zäsuren finden in Takten statt, deren Ordnungsnummer durch Sieben teilbar ist, Kopf- und Finalsatz beziehen sich eng aufeinander. Und die Herkunft des Komponisten von der Orgel ist in der 7. mit ihren registerartigen Klangfarbenwechseln und Choralzitaten unüberhörbar. Doch dieser sakrale Raum wird hier erweitert um deutliche Wagner-Anklänge. So bringt die Siebte beide Glaubenswelten Bruckners zusammen: das Fundament seiner streng katholischen Frömmigkeit, aber auch die mystische Erfahrung des Wagner’schen Klangtempels.

Auffallend ist - wie auch schon bei der 4. Symphonie - dass es eigentlich keine wirklich schlechten Aufnahmen davon gibt. Dies kann allerdings auch daran liegen, dass ich noch kein ausgesprochener Bruckner-Kenner bin ;-)

Wer z.B. mal diese himmelsstrebende Hoheit gotischer Kathedralen im Finale des 1. Satzes erleben möchte, in dem Klangschicht für Klangschicht aufgetragen wird und sich ins Unermeßliche steigert bis man förmlich glaubt, den Glockenturm mit seinem Geläut hören und sehen zu können, dem sei die Aufnahme mit Celibidache und den Münchener Philharmikern aus dem Jahre 1990 ans Herz gelegt. Dieses sich unaufhaltsam in die Höhe schraubende "Getöse" muss erst mal beherrscht und geformt werden - und mittendrin hört man mehrmals Celibidache noch "höher - höher" rufen ...
Sehr emotional und mitreissend. Der 2. Satz zerfällt dagegen durch seine schier unglaublich gedehnte Langsamkeit ins langweilige Nichts. Schade ...

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Karajan hat die 7. mindestens drei mal aufgenommen und alle sind sehr gut. Mir gefällt vor allem die 1972 noch bei EMI mit den Berliner Philharmonikern aufgenommene Interpretation sehr gut: mit dem typischen (aber noch nicht übertriebenen) Breitwandsound und für meinen Geschmack immer die richtigen Tempi.

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Otto Klemperer hat die 7. ebenfalls mehrmals aufgezeichnet und seine Interpretationen wandeln sich von Mal zu Mal, wobei Klemperers Handschrift immer erkennbar bleibt. Seine ganz eigene Vorstellung davon hat er für meine Begriffe am Klarsten (und am Schönsten) in der Aufnahme von 1962 mit dem Philharmonia Orchestra festgehalten.

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Auch Jansons (diesmal mit dem RSO des Bayerischen Rundfunks) und Bruno Walter haben wieder sehr gute Interpretationen aufgenommen und sind empfehlenswert.

Wen ich völlig unterschätzt habe, ist Christoph von Dohnanyi mit dem Cleveland Orchestra, dem eine schlanke Struktur ohne Mystik und Tamtam und unter Beibehaltung der Spannung gelingt. Famos!

Hier Erwähnen möchte ich aber zum Abschluß auch wieder eine Aufnahme mit Karl Böhm und den Wiener Philharmonikern aus 1977: romantisch interpretiert, ohne kitschig zu sein - geht unter die Haut! Böhm ist für mich die absolute Entdeckung bei Bruckner Symphonien!

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Viele Grüße
Jörg Paczkowski
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Thomas86
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Beitrag von Thomas86 »

Hallo Jörg,

Danke für deine ausführliche Antwort auf deinen eigenen Faden! Hat mir großen Spaß gemacht zu lesen.

Was du bei Celi und den 2. Satz beschreibst ist m.M.n. genau die Gefahr, bzw. die naheliegende Schlussfolgerung, wenn man mit Celi noch nicht "warm" geworden ist.

Ich finde das Tempo größtenteils grandios und es ist genau herauszuholen, warum er es so wählt und was er hervor heben will. (Du nanntes weiter oben "Kathedrale". Dabei dachte ich nir schon: "oha, das kann mit Celi SEHR langsam werden. Celi wählte seine Tempi auch dergestalt aus, je in welchem Aufführunggebäude er war. Viel Nachhall bedeutet bei ihm langsamer, je trockener umso schneller kann er aufführen lassen. Quasi ein "Raumakustiker" :cheers: )

Viele Grüße
Thomas

Ps: Karajan finde ich dagegen tempomäßig zu oberflächlich. Ist oft mehr horizontal als vertikal gedacht ...
Aber was weiß ich schon, im Gegenlicht zu solchen Größen
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Thomas,
Thomas86 hat geschrieben: 07.07.2023, 11:33 Celi wählte seine Tempi auch dergestalt aus, je in welchem Aufführunggebäude er war. Viel Nachhall bedeutet bei ihm langsamer, je trockener umso schneller kann er aufführen lassen. Quasi ein "Raumakustiker" :cheers: )
Das kann ich nachvollziehen. Ich habe Celibidache 2mal live erleben können - und es war jedes Mal ein Ereignis. Live passte es für mich beidemale genau. Mir scheint, Celibidache hat schon sehr genau gewusst, warum er gegen Schallplattenaufnahmen SEINER Aufführungen war. Es gibt ja auch Sänger/-innen, die live genial, aufgenommen oft eher mittelmäßig klingen wie z.B. Anja Harteros.
Thomas86 hat geschrieben: 07.07.2023, 11:33 Ps: Karajan finde ich dagegen tempomäßig zu oberflächlich. Ist oft mehr horizontal als vertikal gedacht ...
Nun, bei der 1975 mit den Berlinern und der 1989 mit den Wienern (Karajans allerletzte Aufnahme überhaupt - man beachte den kölsche Superlativ ;-)) kann ich dem "mehr horizontal als vertikal" durchaus zustimmen. Bei der 1972 in der Jesus-Christus-Kirche dagegen empfinde ich es anders: eine enorme Räumlichkeit und Atmosphäre, mit beträchtlicher Tiefenschärfe und noch angenehmen Nachhall, aber auch mit entsprechender Schärfe in den schnelleren Teilen des Scherzos und des Finales. Der Beginn ist magisch und hält den gesamten Satz über an. Und im Finale traut sich Karajan, auch die heitere Seite von Bruckner zu zeigen - fast schon Haydnscher Humor schwingt hier für mich mit.

Natürlich ist das alles nur subjektives Empfinden und keine musikwissenschaftliche Herleitung. Mir gefällts halt ;-)

Viele Grüße
Jörg
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Guten Abend,

heute möchte ich eine Empfehlung der 3. Symphonie, aufgenommen durch Francois-Xavier Roth abgeben.

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Eigentlich ist es noch viel mehr eine Empfehlung zu diesem Dirigenten. Ich hatte hier schon einmal seine Aufnahme der 4. Symphonie besprochen. Von den gerade entstehenden Bruckner-Zyklen (kürzlich haben Christian Thielemann und Andris Nelsons ihre Zyklen vollendet, Christoph Eschenbach und Paavo Järvi sind wie die beiden folgenden noch dabei) gefallen mir besonders die mit Markus Poschner und eben Francois-Xavier Roth. Wobei letzterer sich auf die jeweiligen Erstfassungen (hier also die von 1873) konzentriert. Und das ist deutlich hörbar in der 3. Symphonie mit seinen Wagner-Zitaten an den verehrten Meister (Tannhäuser, Tristan, Ring des Nibelungen) sowie Beethovens 9. Symphonie. Das ist bei den späteren Fassungen kaum noch so zu hören. Roth arbeitet präzise auch die kleinsten Details heraus, lässt einen weichen runden Klang entstehen - wunderbar.

Für mich wird dieser Dirigent immer interessanter - habe ich mit ihm in den letzten 10 Jahren doch noch nie ein schlechtes Konzert erlebt oder eine schlechte Aufnahme (egal mit welchem Orchester) gehört!

Auch technisch ist die Aufnahme wieder ein Leckerbissen geworden: Volle Dynamikpegel (DR23), sehr gute Instrumentenortung und Raumabbildung.

Ergänzung: am 18. Mai 2024 wird Roth diese Symphonie auch mit den Berliner Philharmonikern spielen - und das Event kann per Stream miterlebt werden.

Viele Grüße
Jörg
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nihil.sine.causa
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Beitrag von nihil.sine.causa »

Liebe Bruckner-Fans,

für mich ist Bruckner-Hören ein sehr emotionaler Zustand. Ich kenne vor allem die Sinfonien. Besonders gefallen mir die Celibidache-Aufnahmen aber (natürlich) auch die von Bruno Walter und von Mariss Jansons. Danke für die vielen Anregungen, ich muss mir die auch mal anhören, wenn ich wieder einmal Bruckner höre. Dazu muss ich mich regelrecht entschließen und dann ist es ein Zustand, der über Tage andauern kann.

Ich will versuchen, das zu erläutern. Bruckner hat eine etwas rohe, direkte Tonsprache. Auch wenn die Urfassungen noch unbehauener daherkommen, höre ich diese „Ursprünglichkeit“ auch bei seinen Überarbeitungen. Es ist als hätte er nie eine ausgefeiltere, abgeklärtere Ausdrucksmöglichkeit gefunden, wie wir sie z.B. von Mahler kennen. Das klingt jetzt wertend, aber ich meine das nicht negativ. Die Abgrenzung zu Mahler drängt sich mir eben auf.

Bruckner-Hören ist für mich, wie gesagt, ein emotionaler Zustand. Ich nenne ihn „Brucknern“, genauer „es Brucknert in mir“. Auch wenn die Musik eigentlich verklungen ist, geht es in meinem Inneren immer weiter. Beim Spazierengehen, beim Kochen, beim Lesen, was auch immer ich mache, Bruckner ist dann in meinem Kopf. Es Brucknert halt, das kann über einige Tage hinweg so gehen.

Meine Auseinandersetzung mit Bruckner ist jedenfalls keine intellektuell-reflektierte wie bei anderer klassischer Musik. Ich höre sonst eher strukturell. Aber wenn 12mal das gleiche Motiv hintereinander in identischer Weise kommt (etwa bei der 8 Sinfonie in der Urfassung), dann wird Struktur nebensächlich. Ungeschliffen, ursprünglich, kraftvoll, packend, emotional - Bruckner halt. Nach einigen Tagen hat es sich ausgeBrucknert. Dann ist es still und ich höre wieder andere Komponisten, bis zur nächsten Bruckner-Session.

Auf ein spannendes Bruckner-Jahr 2024!
Harald
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Jupiter
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Beitrag von Jupiter »

Hallo Jörg,
alcedo hat geschrieben: 07.07.2023, 09:53 leider kommen hier kaum Reaktionen oder Anregungen zu Bruckners Symphonien, so dass ich mich entschlossen habe, diesen Faden von meiner Seite nicht weiter zu führen. Wer will, kann dies irgendwann gerne übernehmen ...
bitte nicht aufhören, zumal ich es zwar gerne übernehmen würde, doch wegen mangelnder Kenntnisse der klassischen Musik, mich dazu nicht im Stande sehe.

Ich nehme deine Beiträge, damit meine ich nicht nur die in diesem Faden, sowie die deiner kommentierenden Kollegen, Horst-Dieter, Jochen, Hironimus, Thomas, und in letzter Zeit auch wieder Harald, worüber ich mich sehr freue, gerne zum Anlass mich mal wieder in klassischer Musik zu baden sowie damit zu beschäftigen.

Daher sind mir eure Sichtweisen auch wenn sie zum Teil unterschiedlich ausfallen sehr wertvoll.

Haben sie mich doch dazu gebracht die Biografie von Mozart, Beethoven in Buchform und weitere in Wikipedia, so auch Bruckner, die leider immer viel zu kurz sind zu lesen, weitere werden folgen, zumal sie wenn man sich darauf einlassen kann sehr spannend sind.

Für mich erschließt sich eine Symphonie, leider nicht so vollständig wie bei euch, auch dadurch, dass ich die Hintergründe ihrer Entstehungsgeschichte bzw die Biografie des Komponisten kenne. Im Prinzip ein Thema für einen neuen Faden.

Das Bruckner erst mit 40 Jahren mit Hilfe eines Fernstudiums der Musiktheorie bei Simon Sechter die Abschlussprüfung an der Orgel bestand sagt doch einiges über den Mensch Bruckner aus.

Johann von Herbecks Kommentar über Anton Bruckner bei seiner Orgelprüfung am Konservatorium in Wien
„ Er hätte uns prüfen sollen!“

zeigt mir schon den außergewöhnlichen Willen und Ehrgeiz des Menschen Bruckner.


Ein großes Problem für mich ist die Qualität der Interpretation der alten Meister zu erfahren, wenn die Qualität der Aufnahme schlecht ist, die Differenzierung gelingt mir nicht.

Die Unterschiede in Tempo, Intensität und Feinheiten der verschiedenen Dirigenten sowie Orchester bei den Interpretationen die ihr bei Bruckners Symphonien anspricht bleibt mir leider in den meisten Fällen verborgen, schade eigentlich.

Der Hinweis von Thomas, dass Celibidache sicherlich auch andere Komponisten das Tempo der Raumakustik anpasst, ist somit ein wertvoller Hinweis darauf, die Interpretation zu verstehen, zumal den Dirigenten nicht der gleiche Konzertsaal zur Verfügung steht.

So nehme ich die nächsten Tage den Faden zum Anlass es brucknern zu lassen.

Vielen Dank an euch, uns Klassiknovizen die Klassik näher zu bringen.
Eigentlich wollte ich nur Danke sagen, jetzt ist ein wenig mehr geworden, sorry

Gruß
Harald
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Melomane
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Beitrag von Melomane »

Hallo in die Runde,

ich denke, dass das relativ geringe Feedback auch daran liegt, dass Bruckner kein Komponist ist, dessen Werke täglich beim Musikfreund zu Gehör gebracht werden. Und vermutlich auch nicht bei jedem Klassikfreund an der Spitze der Beliebtheit steht. Man muss eben wirklich in der Stimmung sein und sich Zeit nehmen. So eben mal nebenbei "geht" Bruckner nicht. Und deswegen äußern sich vermutlich in erster Linie die, die sich intensiver mit ihm auseinandergesetzt haben. Die unterschiedlichen Versionen der Symphonien machen es auch nicht unbedingt leichter. Man kann nicht eben mal über die 3. Symphonie reden.

Jedenfalls lese ich gerne die Beiträge und nehme die Empfehlungen mit, auch wenn ich sie keineswegs alle schon gehört habe.

Viele Grüße

Jochen
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