Lang Lang: wirklich 20 Jahre Beschäftigung mit den Goldberg-Variationen?

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
musikgeniesser
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Beitrag von musikgeniesser »

Liebe Forenten,

für einen ersten Eindruck ist youtube doch sehr praktisch und so dachte ich mir, ich höre mal rein. Ich hatte Herrn Lang in der NDR-Talkshow gesehen, das war jetzt im Sommer, jedenfalls nicht lange her, wo er mit Barbara Schöneberger Abba zum Besten gab. Er ist ein aufgekrazter, wacher Mensch, den man wohl am ehesten mit Spaßvogel bezeichnen würde. Im Gespräch, wie am Klavier, jedenfalls in einer Talkshow und bei Abba.

Um nicht in die Gould-Falle, so möchte ich das mal nennen, zu tappen, bin ich gleich auf youtube geblieben und habe mich treiben lassen, welche Alternative es wohl wird. Bei Herrn Levit bin ich hängengeblieben. Er ist mir im Zusammenhang mit der Preisrückgabe des Echos aufgefallen, wo er der erste war. Den Klassikmarkt als solchen beobachte ich nicht mehr so wie früher, sodass ich da nicht mehr so auf dem laufenden bin. Sonst wäre mir Herr Levit sicher schon früher über den Weg gelaufen.

Auch, wenn Herr Levit in letzter Zeit wegen seiner Beethoven-Einspielung in aller Munde ist, dachte ich mir, dass das einen Versuch wert sein könnte. Ich bin da als einer, der als Schüler zehn Jahre selbst Klavier gespielt hat nicht gänzlich unbeleckt, aber über Hausmusik bin ich nie hinausgekommen, was ok für mich ist. Bachs Wohltemperiertes Klavier, das erste Stück, das mit der C-Dur-Dreiklang-Zerlegung beginnt, könnte ich auch heute noch auswendig spielen, nach 40 Jahren, wobei ich mich im Laufe des Spiels immer verfahre, also im Eifer des Gefechts dann plötzlich Sachen spiele, die Bach nie geschrieben hat und dann weiß ich nicht weiter. Wenn ich Glück habe, verfahre ich mich nicht und komme bis zum Ende durch. Mit Noten ist es natürlich einfacher. Aber für eine Aufnahme reichte es so oder so nicht.

Das musikalische Gedächtnis ist kurz, und so habe ich mir nur 30 - 45 Sekunden der Aria angehört und dann gewechselt. Der Unterschied war, auch abseits der agogischen Verwirrung (5:45 gegenüber 4:50, so um und bei) von Herrn Lang, unmittelbar hörbar. Ich habe dann nur noch einmal zu Herrn Lang zurückgewechselt und dann bei youtube Günter Noris Swing on Bach gesucht und bin dann bei Günter Noris und Vivaldi gelandet. Das habe ich mir dann sehr gerne angehört. Ich musste noch arbeiten. Das passte alles gut.

Zusammenfassung: wenn ich versuchen würde, das Stück zu spielen, hätte ich so etwas wie von Herrn Levit im Ohr: da würde ich hinwollen, wissend, nicht hinzukommen. Alles ok soweit. Ach ja, die Gould-Falle nenne ich die Überhöhung, die Herr Gould mit der Zeit erfahren hat, die einer sachlichen Diskussion eher im Weg steht. Auch Herr Gould war nur ein Mensch, der in späteren Jahren selbst zu gedehnten Tempi neigte. Legendär ist Brahms's Klavierkonzert mit Herrn Bernstein mit der Ansprache von jenem: "Don't be freighned, Mr. Gould is here", wo Herr Bernstein von "extraordinary broad tempi" von Herrn Gould sprach, die die Zusammenarbeit beinahe hat platzen lassen. Und wenn man heute Herrn Goulds Bach-Einspielungen als Referenz nimmt, gemeint sind wohl seine ersten auf dem Küchenstuhl (auch so etwas messianisches), dann kann das die Diskussion schon belasten, weil man da ja nicht zu widersprechen wagt.

Herr Levit also, und, wie gesagt, so würde ich es auch gerne spielen können. Herr Lang lässt mich ratlos zurück. Das ist mir alles viel zu barock, wenngleich diese Formulierung hier erstmal nur verwirrt statt klärt, aber ich meine das umgangssprachlich, was sich auf die Architektur bezieht: reich verziert, auch vorgespiegelt (Marmorwände, die sich als bemalte Holzvertäfelungen entpuppen, wenn man dagegen klopft; meine Standardfrage in Kirchen immer, bevor ich klopfe: "Tong" (hohl, barock eben) oder "Tok" (massiv, eben echt)), eben ganz anders als in der vorausgegangenen Gotik zum Beispiel. Da war Holz noch Holz und Stein noch Stein. Irgendwie hanseatisch...

Herr Langs Spiel klingt für mich gar nicht wie Klavierspiel, überspitzt formuliert. Also nicht wie Bach oder Bartok jedenfalls, die ich häufig spielen musste oder durfte. Ich habe auch Chopin gespielt, was das andere Extrem ist, aber mein Blick auf Bach hat das nicht verändert.

Zum Tempo wollte ich noch was sagen. Herr Beaujeans dürfte es gewesen sein, der in der stereoplay, die nach Übernahme der HiFi-Stereophonie seine neue Heimat wurde, die Celibiache-Edition der Bruckner-Sinfonien rezensiert hat. Der späte, also der Münchner Celibidache war ja für jede Tempo-Diskussion gut, wobei der relative Unterschied zu Standard-Einspielungen, etwa der von Herrn Wand mit dem NDR, noch größer ist als der zwischen Herrn Lang und Herrn Levit (1. Satz 8. Sinfonie 35 zu 26 Minuten, um und bei). Ich erinnere Herrn Beaujeans Einlassung zum Tempo: "die Coda der 8. Sinfonie ist ein Erlebnis." Das kann ich sofort unterschreiben.

Was dort wunderbar funktioniert, zumindest für meinen Geschmack, geht hier nicht. Wahrscheinlich hat Gert (Fortepianus) recht, der vor Jahren einmal schrieb, als es um Bach und Romantik (da weiß ich den Komponisten nicht mehr) ging, sinngemäß: "da sieht man, was Substanz ist und was Pose." Ich denke, da ist was dran, denke sogar, dass das der Schlüssel, jedenfalls für mich, zum Verständnis des Problem sein könnte: romantische Musik hält das gut aus, wenn man sie mit bourgeoiser, großer Pose darbietet. Bach verträgt das weniger gut, so scheint mir.

Ich werde mir Herrn Langs Interpretation nicht kaufen, wohl auch nicht in einem Jahr oder so, wenn man es bei amazon gebraucht für 'nen Appel und 'nen Ei bekommen kann.

Danke für Euer Interesse

Peter
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uli.brueggemann
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Beitrag von uli.brueggemann »

Nun, ich habe mitr auf 3sat mal den Bericht zu Lang Lang angeschaut.
Es scheint nicht wirklich schwierig zu sein, mich Klassik-Greenhorn zu beeindrucken. Das hat der Film jedenfalls zustande gebracht.
Ich hatte nicht den Eindruck, als wären die Goldberg-Variationen nur eine Nebenbeschäftigung für ihn. Ganz im Gegentum.
Es gibt den Film bis zum 11.12. noch in der Mediathek, siehe https://www.3sat.de/kultur/musik/lang-l ... n-100.html

Grüsse
Uli
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musikgeniesser
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Beitrag von musikgeniesser »

Lieber Uli,
liebe Forenten,

ich möchte nicht den Eindruck erwecken, auf Herrn Lang eindreschen zu wollen. Die Dokumentation habe ich noch nicht gesehen, mir aber fest vorgenommen, dies noch zu tun. Ich schätze Herrn Lang, meine Titulierung als Spaßvogel ist da einseitig und das möchte ich nicht unkommentiert lassen. Vielleicht tut sich etwas in meiner Wahrnehmung von seiner Bach-Interpretation.

Eine grundsätzliche Anmerkung erlaube ich mir aber doch: ich würde empfehlen, die Einspielung von Herrn Lang nicht als erste zu wählen. Als Ergänzung zu einer mit größerer Allgemeingültigkeit, von denen hier im Strang einige erwähnt sind, ist sie aber immer eine Bereicherung.

Danke für Euer Interesse

Peter
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Horse Tea
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Beitrag von Horse Tea »

Lieber Peter,

Deine Einschätzung der drei genannten Pianisten, Glenn Gould, Lang-Lang und Igor Levit deckt sich mit meinem Geschmack. Ich hatte dies weiter oben im Faden in einem Nebensatz schon angedeutet. Mein Urteil beruht weder konkret auf der Interpretatlon der Goldbergvariationen (ist in sofern also off-topic) noch auf den unzweifelhaften pianistischen Fähigkeiten der drei, sondern schlicht darauf, welche Wirkung der Interpret beim Spielen in mir hervorruft :oops: .

Viele Grüße
Horst-Dieter
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo zusammen,

in der Zwischenzeit habe ich mir mal wieder Alternativen angehört - diesmal bewusst auf einem anderen Instrument, nämlich dem Cembalo.

Schon die polnische Pianistin Wanda Landowska war ja der Meinung, man könne die Goldberg-Variationen richtig nur auf dem Cembalo aufführen - und führte Anfang der 30´er Jahre als erste diese Variationen komplett und ungekürzt öffentlich auf.
Ihre Interpretation als auch die etwa von Leonhardt oder Keith Jarrett (Clavichord) berühren mich emotional jedoch nicht so sehr wie die beiden, die ich hier vorstellen möchte:

2003, Pierre Hantai


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und

2010, Celine Frisch (eine Aufnahme, die ich gerade erst kennengelernt habe - ich spare mir den Kalauer hier)

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Beide spielen sehr verinnerlicht und bringen (für meine Ohren) die Zusammenhänge sehr schön rüber.
Celine Frisch eher spontan, intuitiv, einfach. Hantai dagegen stärker gegliedert, souveräner, durchdachter. Beide haben ihre Meriten und üben auf mich einen großen Reiz aus.

Eine Anmerkung: ich habe mich immer gefragt, wie ich mir ein Quodlibet vorstellen könne.
Im Internet finden sich Hinweise wie

"...Über die Gepflogenheiten der Bach’schen Großfamilie, sich bei ihren Zusammenkünften am gemeinsamen Stegreifsingen von Quodlibets zu delektieren, berichtet Forkel:
„Sie sangen nehmlich nun Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich mit einander aus dem Stegreif so, daß zwar die verschiedenen extemporirten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporirter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst recht von ganzem Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein eben so herzliches und unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte.“


Auf der CD des Café Zimmermann sind nun 2 Quodlibets auch zu hören - wovon mir "Die Wasserrüben und der Kohl" ausserordentlich gut gefallen

VG,
Jörg
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Guten Abend in die Runde,

hier nur ganz kurz noch eine aktuelle Ergänzung, da in diesem Podcast neben den Goldberg-Variationen von Keith Jarret, Murray Perahia, Glenn Gould, Andras Schiff, Igor Levit, Esfahani und Rosalyn Tureck auch die Aufnahme von Lang-Lang im Vergleich zu hören ist:

https://www.rbb-online.de/content/rbb/r ... stung.html

Viele Grüße,
Jörg
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Piano Pianissimo
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Beitrag von Piano Pianissimo »

Kimiko Ishizaka

.....oder auch auf Spotify

martin
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Piano Pianissimo hat geschrieben: 13.04.2021, 23:45 Kimiko Ishizaka

.....oder auch auf Spotify

martin
Hallo Martin

Entschuldige meine Nachfrage: aber was wolltest du damit sagen???

Grüße, Jörg
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Marbello
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Beitrag von Marbello »

Neben den bereits erwähnten sind auch die Aufnahmen von Zhu Xiao-Mei und Angela Hewitt, deren Bach Spiel ich generell mag, hervorzuheben.
Bei Lang Lang habe ich oft das Gefühl er hat gar nicht begriffen was er da spielt, es wirkt aufgesetzt, maniriert und irgendwie künstlich. Das finde ich z.B. auch bei seiner Mozart Einspielung. Er sollte mit seinem Show Piano besser bei den Romantikern bleiben.

P.s. Sehr gut auch die Einspielung von Grete Sultan.)

Gruß Friedrich
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Piano Pianissimo
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Beitrag von Piano Pianissimo »

alcedo hat geschrieben: 14.04.2021, 08:08
Piano Pianissimo hat geschrieben: 13.04.2021, 23:45 Kimiko Ishizaka

.....oder auch auf Spotify

martin
Hallo Martin

Entschuldige meine Nachfrage: aber was wolltest du damit sagen???

Grüße, Jörg
das ist ein einfacher schneller Zugang um der Dame zu zuhören.
auf dem angebotenen Link bin ich leider nicht fündig geworden.
mehr nicht.
martin
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Martin,

ich dachte, du meinst irgendetwas Spezielles :lol:

Auf diese Aufnahme wurde ja durch Thomas (music is my escape) weiter oben im Thread und vor etlichen Jahren hier viewtopic.php?f=17&t=3681&p=59679&hilit ... erg#p59679 durch snilax hingewiesen.

Grüße
Jörg
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JoDeKo
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Beitrag von JoDeKo »

Toller Thread hier, danke! :cheers:

Aber die hier
Die bekannteste dürfte (zumindest für Jazz-Fans) die vom Jacques Loussier Trio in ihrer "Play Bach"-Serie sein.
gibt es nur auf CD, richtig? :|

:cheers:
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Jodeko

In Auszügen findest du auch einige Variationen und die Aria auf seinem Album "My Personal Favorites" - und die gibt es bei Streaminganbietern.

Grüße
Jörg
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JoDeKo
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Beitrag von JoDeKo »

Danke, Jörg. Streaming, ja, nutze ich, aber meine Suche richtet sich primär nach Vinyl. :cheers:
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Horse Tea
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Beitrag von Horse Tea »

Marbello hat geschrieben: 14.04.2021, 11:46 Neben den bereits erwähnten sind auch die Aufnahmen von Zhu Xiao-Mei und Angela Hewitt, deren Bach Spiel ich generell mag, hervorzuheben.
https://www.arte.tv/de/videos/100767-üange]la-hewitt-spielt-die-goldberg-variationen/

Voila!

Viele Grüße
Horst-Dieter
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