Die Musik von Südamerika

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Winfried Dunkel
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Die Musik von Südamerika

Teil 6: Misa Criolla und Weihnachtliches

Passend zur Vorweihnachtszeit möchte ich zwei Langspielplatten vorstellen, deren Auffindung wahrscheinlich abermals einige Detektivarbeit erfordert, die sich aber unbedingt lohnt.

„Misa Criolla“, LP, Philips 6527 136 (ohne Angabe des Produktionsjahres)
Los Fronterizos und die Cantoria de la Basílica del Socorro, Ltg.: Aríel Ramírez, Padre R. P. Segade

Die bekannte „Kreolische Messe“ des argentinischen Künstlers Aríel Ramírez besteht aus fünf Sätzen; sie sind betitelt: „Kyrie“, „Gloria“, „Credo“, „Sanctus“ und „Agnus Dei“. Das klingt ganz normal, sind doch solche Satzbezeichnungen auch bei hierzulande komponierten Messen und Oratorien üblich. Das besondere an Ramírez’ Werk aber ist die Zugrundelegung einheimischer (eben südamerikanischer) Musikformen, deren Benennungen bereits vor dem Abspielen der Platte Ungewöhnliches erwarten lassen: „Vidala-baguala“, "Carnavalito-Yaraví“, „Chacarera trunca“, „Carnaval cochabambino“ und „Estilo pampeano“. Hierbei scheint mir die Kombination von carnavales mit der uralten, teils abermals mythisch besetzten Form „yaraví“ (schreibt man auch yarawi) deshalb besonders interessant, weil der Komponist das „Gloria“ damit verbindet und dergestalt eine Brücke schlägt zwischen dem christlichen Glauben und den alten Göttern der Inka-Völker. Und „cochabambino“ (vierter Satz) deutet darauf hin, daß bolivianische Formen eingebracht sind (Cochabamba ist eine Stadt in Bolivien, übrigens mit einer hoch angesehenen Universität).
Wie hört sich „sowas“ an? Für den Einsteiger erstmal verwirrend, weil hier nicht die feierlichen Melodien hiesiger Sakralmusik gegeben sind, vielmehr kommt diese Messe „exotisch“ und ungemein rhythmisch daher, wirkt passagenweise gar etwas ruppig. Ramírez gelang mit diesem ungewöhnlichen Werk der Spagat zwischen zwei völlig divergenten Glaubens- und Kulturwelten; konzentriertes Zuhören offenbart ein wahres Kaleidoskop von Feinheiten, besonders, wenn man sich zuvor mit südamerikanischen Klängen vertraut gemacht hat. Vom Komponisten selbst dirigiert, dauert das Werk wenig mehr als 16 Minuten. Dies sollte angesichts gewisser erheblich länger gezogener neueren Einspielungen zu denken geben - ich gehe davon aus, daß Ariél Ramírez mit seinem Dirigat eben seine ureigenen Vorstellungen realisierte.

Auf Plattenseite 2 wird’s so richtig südamerikanisch-weihnachtlich, denn es erklingt „Navidad Nuestra“ (Unsere Weihnacht). Navidad Nuestra erzählt in sechs Sätzen die Weihnachtsgeschichte: „La Anunciación“, „La Perigrinación“, „El Nacimiento“, „Los Pastores“, „Los Reyes“ und „La Huida“ - zu Deutsch: „Mariä Verkündigung“ (in religiösem Kontext), „Die Pilgerfahrt“ (auch: Wallfahrt), „Die Geburt (Jesu)“, „Die Hirten“, „Die Könige“ und „Die Flucht“. Ganz so, wie wir das kennen - allerdings neuerlich mit völlig ungewöhnlich-ungewohnten Melodien und Rhythmen, welche die Weihnachtsgeschichte auf ganz andere Weise erzählen und dabei sehr eindringlich wirken, mit ihrer Buntheit den Hörer in den Bann ziehen. Gleichwohl scheint mir „Navidad Nuestra“ kaum geeignet, anläßlich der heiligabendlichen Bescherung zum Glanz des Weihnachtsbaumes zu erklingen - das nämlich dürfte einige Irritationen auslösen...

„Weihnachten in Lateinamerika“, LP, EULP 1088 (ARC-Musik, Hamburg)
Patricia Salas, Gesang; Arrangements und Tontechnik: Pablo Cárcamo; Lamplight Studios, Hamburg

Wie immer, wenn sich der großartige Musiker Pablo Cárcamo hinters Mischpult setzt, tauchen tontechnische Fragezeichen auf: Offenbar dreht und schiebt er allzugerne an allzuvielen Reglern herum. In einem Take fand er es gut, die wunderschöne Stimme der wunderschönen Patricia Salas im Mehrspurverfahren zu „chorisieren“, will sagen, die Solistin singt mehrstimmig... Und der auf dieser Scheibe gebotene Klang reißt einen auch nicht vom Hocker, erreicht er doch in summa nur Durchschnittsqualität. Diese Minuspunkte sollten aber niemanden davon abhalten, auf die Suche nach der Schallplatte zu gehen! Sie bietet musikalisch sehr viel, denn es werden weihnachtliche Lieder aus Lateinamerika dargeboten, genauer gesagt, solche aus Mexico, Argentinien, Chile, Kolumbien und Perú; sogar ein afro-kubanisches Stück ist dabei. Mitreißend vortragend, führt Patricia Salas uns durch das gänzlich divergent geartete, zum Fest erklingende Liedgut jener Länder, dessen fröhliche Stimmung und oftmals treibender Rhythmus keinen Vergleich mit unseren besinnlichen Weihnachtsliedern gestattet - das wirkt oftmals eher wie Tanzmusik. Daher auch hier: Ungeeignet zur akustischen Untermalung der Bescherung. Statt „... still und starr ruht der See ...“ ein Wiegenlied aus den Anden, mit mexikanischen Rhythmen erklingt die Lobpreisung Jesu’, und eine musikalische Hymne an das gute Weihnachtsessen ist auch zu hören - und vieles mehr. Mit hiesigen Weihnachtsklängen halt nicht vergleichbar. Diese Schallplatte führt uns auf die andere Seite der Welt, zeigt die dortigen weihnachtlichen Vorstellungen mit ebenso ungewohnten wie dennoch unbedingt hörenswerten Formen. Trotz der tontechnischen Einschränkungen daher eine klare Empfehlung!

Nach den Feiertagen und dem Jahreswechsel werde ich, wie angekündigt, Euch auf eine musikalische Kreuzfahrt durch Südamerika einladen, im „Zick-Zack-Kurs“ geht es dann von Venezuela bis Paraguay, indem ich entsprechende CDs und LPs vorstelle und dabei noch das eine oder andere zu bestimmten Formen und Rhythmen sage.

Ich wünsche allen Forummitgliedern und -besuchern ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr! ¡Felíz Navidad y Año Nuevo!

Gruß: Winfried
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Die Musik von Südamerika, Teil 7

Musikalische Kreuzfahrt (1)

Wie Ende vergangenen Jahres angekündigt, möchte ich nun abschließend zu einer Rundreise durch den südamerikanischen Teil des Kontinents einladen. Hierfür habe ich diverse Schallplatten und CDs aus dem Regal gegriffen; auf alphabetische Sortierung wird ebenso verzichtet wie auf eine „Reihenfolge nach Wertigkeit“. Letzteres, weil jede Musikform und jedes Ensemble bzw. jeder Solist seine ganz eigenen Vorstellungen entwickelt, die Ausdruck des Empfindens sind. Kritik im Wortsinne kann sich bei den unten genannten Tonträgern folglich nur auf aufnahmetechnische Aspekte beziehen - und dazu geben sie kaum Anlaß. Sicher, es gibt sehr gute, gute und eher durchschnittliche Einspielungen, allen aber ist gemeinsam, daß die Musik durchweg den Hörer in ihre Welt hineinzieht. Unter genau diesem Aspekt wählte ich die vorzustellenden LPs und CDs aus. Im Verlaufe der Besprechungen werden wir zudem weitere interessante musikalische Formen und Rhythmen kennenlernen.

„Entre Vallées et Montagnes“
Gruppe Los Calchakis
ARION ARN 64090 (CD)

Wiederum verfolgte Arion das Prinzip der thematischen Neuordnung der zugrundeliegenden Masterbänder. Auf dieser CD hören wir insgesamt 19 Titel, geordnet nach Ländern: Bolivien, Perú und Ecuador. „Negra Tuntuna“, Take 6, ist ein Paradebeispiel für die Übernahme afrikanischer Formen in die tradierte Musik - und Los Calchakis brillieren einmal mehr mit beeindruckender Interpretation sowie der Fähigkeit, nahtlos von einer Stilform in die andere zu wechseln: Springt man von Titel 6 auf 11 („Torito Mata“), wird dies plakativ deutlich. Take 15, „Alturas de Machu Pikchu“, stammt aus der zuvor veröffentlichten LP „Pueblos del Sur“ und klingt, das muß leider gesagt werden, nicht so zupackend-voll-dynamisch wie auf der (vorbildlich gemasterten und gepreßten) LP. Diese kleine Einschränkung sollte aber niemanden vom Kauf abhalten!

„Prestige de la Musique Latino-Américaine“
Gruppe Los Calchakis
ARION ARN 64025 (CD)

Auf dieser vorzüglich klingenden CD stellen Los Calchakis 14 überwiegend tradierte Werke vor. Dem fleißigen „Südamerika-Hörer“ dürften die meisten bekannt sein, dennoch - oder gerade deshalb - fasziniert die Interpretation des Liebesliedes „Papel de Plata“ ebenso wie jene von „Quiero Contarte“. Quiero Contarte hatte ich 1983 in Cuzco mit der Gruppe Huancarute aufgezeichnet und war von der Melodie begeistert ... die Profis Los Calchakis zeigen hier, wie das in perfekter Darbietung an Tiefe gewinnt. Die Tontechnik begeistert rundum: Dreidimensional weiträumig, wunderbare Durchzeichnung der guitarra und nicht zuletzt der Stimmen. Anspieltip: Titel 1 („Quiero Contarte“), 6 („Rasguido para La Paz“) und natürlich Nr. 8, „Papel de Plata“. Diese CD ist ein Muß in jeder Sammlung.

„Quechua Music“
Gruppe Boliviamanta
A.S.P.I.C. France X 55502 (CD)

Boliviamanta, eine erstklassige Formation, machte sich im Tonträgermarkt stets rar, es war (und ist heute erst recht) schwierig, dieses bolivianische Ensemble auf CD oder sonstwie zu finden. Mir liegt ein Rundfunkmitschnitt (1980) auf Tonband vor; seinerzeit trat die Gruppe im Großen Sendesaal des WDR (Köln) auf und der erste Teil des Konzertes ging über den Sender. Ach ja ... ich hatte meinen Tuner Sansui TU 9900 rechtzeitig „vorgewärmt“, dito die gute alte Revox A 700, und konnte so damals ein Ereignis festhalten, das mein Interesse für die südamerikanische Musik entscheidend prägte. Um 1990 herum fand ich dann diese CD. Klar, mußte ich kaufen. Leider ist die Tonqualität bestenfalls guter Durchschnitt und das Booklet strotzt von haarsträubenden Schreibfehlern (der Quechua-Sprache): Die Gruppe heißt Boliviamanta, das bedeutet: Aus Bolivien (Suffix -manta: aus, her, von [räumlich, zeitlich, materialbezogen]). Auf dem Booklet hat man das völlig falsch in zwei Wörter zerlegt, da steht Bolivia Manta. Die Schreibweise der Titel irisiert munter zwischen spanischer Orthographie und dem Alfabeto Oficial, in dem Quechua zu schreiben ist. Dies aber - und die suboptimale Tontechnik - kann man angesichts der Seltenheit von Boliviamanta-Scheiben übersehen, handelt es sich doch um ein wertvolles Dokument einer erstklassigen Musikgruppe.

„Folklore aus Südamerika“
Gruppen Los Koyas, Los Chacos; Solisten: Facio Santillan, Gerardo Servin
Barclay DALP 2/1931 (2 LPs)

Diese Schallplatte kaufte ich um 1989 herum aus zweiter Hand, sie weist diverse kleine Störgeräusche auf, die nicht unbedingt serientypisch sein müssen. In solider Tontechnik erklingen wunderschöne Melodien - und Facio Santillan, Meister der kena, macht die Sache rund. Soweit der erste Eindruck. Die Überraschung kommt zweifach beim Weiterhören: Auf Plattenseite 4 fasziniert die Gruppe Los Chacos - sie besteht aus vier Herren und einer Dame ... allesamt Franzosen, welche die südamerikanischen Instrumente virtuos beherrschen und sie in frappierenden Interpretationen erklingen lassen. Bitte gut festhalten: Los Chacos intonieren auf andinen Instrumenten u.a. Werke von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel! Bachs „Badinerie“ auf kena, guitarra, charango et cetera ... herrlich! Man sitzt da und staunt, wie perfekt das rüberkommt: Die „Badinerie“ (ein Menuett) - ja, unverkennbar Bach, und doch ganz anders. Der große Komponist hätte, da Neuem stets zugetan, gewiß seine reine Freude daran gehabt. Ich stelle mir das vor: In den Gewändern des 17./18. Jh., mit gepuderten Perücken, aufspielend vor den durchlauchtigsten Herrschaften - mit andinen Instrumenten. Dem Herrscher von Köthen hätt’s gewißlich convenieret, so der Monsieur Bach, einen Spaß sich machend, derley musikalisch Kurtzweyl präsentiret...

„Flûte, Harpe et Guitares du Venezuela“
Gruppe Maracaïbo
ARION ARN 64160 (CD)

Vorauszuschicken wäre, daß ich in der Musik Venezuelas nicht sattelfest bin, daher keine Analysen liefern kann und darf und lediglich Eindrücke schildere. Mir scheint karibischer Einfluß unüberhörbar, die Musik wirkt bunt, melodiös und auf Anhieb ansprechend. Die Flöten klingen mehrheitlich härter als die peruanischen und ecuatorianischen Bauarten, wirken „autoritärer“. Die venezolanische Arpa (Harfe) ist, wie ich entsprechenden Abbildungen entnehme, deutlich kleiner als jene Varietäten, die in Perú und Paraguay gespielt werden. Rhythmisch, tänzerisch - diese Begriffe kennzeichnen die Musik Venezuelas wohl zutreffend, welche, und das ist nun wieder typisch für Südamerika, Thematisierungen vornimmt, die hierzulande kaum denkbar sind: Titel 20 heißt „El Pilon“ - laut Langenscheidt bedeutet das „Wasch-, Brunnentrog“, „Zuckerhut“, „Laufgewicht“ (Waage), „Mörser“, „Trinkgeld“ ... tja, was nun? Eine elegisch geblasene Flöte im Raumhintergrund ... nach Abfolge jeweils einer bestimmten Taktfolge erklingt weit links hinten ein hölzern-schepperndes Geräusch, so, als ob jemand mit einem Holzscheit einen Hohlkörper repetierend anschlüge. Es kann sich daher um eine Ode an den Waschzuber oder den Mörser (des Apothekers) handeln; die zweite Deutung scheint in Hinblick auf die elegische Flöte sinnvoll.
Tontechnisches: Für die Aufnahmen zeichnete Tonmeister Claude Morel verantwortlich - und abermals begeistert und beeindruckt er mit ungemein weiträumiger Abbildung und exakter Positionsortung und Instrumentenzeichnung in der Basis sowie auf Achse und in der vertikalen Differenzierung. Eine Aufnahme mit Suchtfaktor. Anspieltip: Titel 18 „Maracaïbo en la Noche“ ... ja, und „El Pilon“, Titel 20.

Gruß: Winfried

P.S.: Diverse CDs mit den Gruppen Inti Illimani und Los Calchakis sind bei Amazon.de und Amazon.com erhältlich.
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Winfried Dunkel
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Die Musik von Südamerika

Musikalische Kreuzfahrt (2)

In diesem zweiten Teil unserer „Kreuzfahrt“ sind mehrere Langspielplatten vertreten - ich bin mir bewußt, daß es nicht leicht sein wird, diese noch irgendwo aufzufinden. Hoffen wir auf die Kontakte im Internet... Grundsätzlich empfiehlt sich auch der Besuch von Plattenbörsen: Südamerikanische Musik ist nicht jedermanns Sache und wenn irgendwer eine solche Platte - beispielsweise zum Geburtstag oder als Weihnachtsgeschenk - erhalten und verkauft hat, besteht die Chance, ein wenig oder nicht gespieltes Exemplar zu finden. Frei nach Loriot: Freudiger Ausruf des Beschenkten: „Eine Platte, eine Platte!“ Und wenn der großzügige Spender fort ist, wandert sie in die Abteilung „Schallplatten, die ich nie hören werde“ oder landet halt im Verkauf. Ich habe (aus diesem Grunde?) im Second-Hand-Shop bereits diverse schöne LPs gefunden, wie z.B. „Inti Illimani 2 - La Nueva Cancion Chilena“, EMI Italiana 3C 054-62161: wie neu, kaum gespielt, für damals DM 5,00! Problematischer zeigt(e) sich Inti Illimanis „¡Viva Chile!“, pläne S 88111: Der Protestsong „Venceremos“, der sich vehement gegen Chiles Militärdiktatur unter Pinochet wandte, war in den siebziger Jahren bei allen demokratischen (Links)intellektuellen sowas wie eine Hymne und entsprechend oft ist dieser Titel auf gewiß nicht stets optimalen Plattenspielern „durchgefräst“ worden - und das hört man leider in Form verzischelter Textstellen. Kauft man Platten aus zweiter Hand, sollte man solche präferieren, deren Inhalt nicht „hitverdächtig“ dem Massengeschmack entspricht. Ein Beispiel aus der E-Musik (Klassik): Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“ oder „Schwanensee“ werden gewiß öfter gehört als etwa Bernsteins „Kaddish“, folglich wird man mit „Kaddish“ eine eher wenig oder gar nie gespielte LP erwerben - allerdings muß man die Musik auch mögen... Für alle, denen Südamerikas Musik gefällt, hier nun weitere Empfehlungen:

„Folklore der Anden“ Vol.2 (CD)
Gruppen Ichu, Ichumanta, Inti Punchai, Inti Mujus
Bell Records BLR 89 037

Weitestgehend gilt für die zweite CD (Vol.2), was ich bereits zu Vol.1 dieser aus drei Veröffentlichungen bestehenden CD-Serie sagte. Wiederum gefallen mir die Darbietungen von Inti Punchai intuitiv am besten. Am Namen der Gruppe „knabbere“ ich seither herum - Inti bedeutet Sonne (in der alten inkaischen Naturreligion gar Sonnengott), aber Punchai ... es dürfte eine dialektale Verformung des Begriffes punchaw (Tag)* sein, dann hieße die Gruppe übersetzt Sonnentag oder Tag der Sonne (... des Sonnengottes). Mental könnte das passen. Tontechnisch hält Vol.2 nicht ganz das Niveau der ersten Folge, dennoch kann man sich zurücklehnen und mit Freude zuhören, denn auch auf diesem Tonträger erklingen rezente Musikformen, wobei die Gruppe Ichumanta sogar mit dem traditionellen Tanz „Auqui-Auqui“** aufwartet. Sie spielt ihn in autochthoner Form nur mit Blas- und Perkussionsinstrumenten. Sicher etwas gewöhnungsbedürftig, doch jedem, der nach vielfältigen Weisen Ausschau hält, bietet die CD mit ihren 18 Titeln hinreichend Abwechslung.

* Den Diphtong /au/ schreibt man im Quechua /aw/.
** Gemäß dem Alfabeto Oficial müßte dies folglich "Awki-Awki" geschrieben werden - doch da es sich möglicherweise um einen Begriff aus der Aymara-Sprache (südliches Perú/Bolivien) handelt, habe ich ihn so übernommen, wie es auf dem Booklet steht.

„El Condor Pasa“ (LP)
Facio Santillan, kena; begleitet von zwei nicht benannten Musikern
Riviera RLP 16016

Eine der Schallplatten „der frühen Jahre“, soll heißen: ich kaufte sie zu Beginn meines erwachten Interesses an südamerikanischer Musik. Damals griff der „Fußgängerzoneneffekt“ (siehe Einleitung) - „El Condor Pasa“, das kannte ich, also mußte ich diese Platte haben! Dennoch habe ich keinen Fehlkauf getan, auch heute, nach rund 30 Jahren Beschäftigung mit der Materie, gefällt sie mir beim Wiederhören stets auf Neue. Facio Santillan, Meister der kena, spielt sich nicht in den Vordergrund, führt zwar die Melodien, duch tut er dies dezent im Raumhintergrund und nicht „an der Rampe“. Die beiden ungenannten Mitinterpreten überzeugen mit ihrer kraftvollen Darstellung, unterstützt von sehr guter Tontechnik, die die tieftönigen Impulse von wankara und bombo sauber in den Raum stellt, die guitarra präzise durchgezeichnet präsentiert und exakte Raumabbildung realisiert. Auffallend die hohe Dynamik dieser LP, welche in der Tat Live-Charakter vermittelt. Von den erklingenden zehn Titeln sind acht sich an rezenten andinen Formen orientierende Kompositionen, die restlichen zwei dagegen Folklore, wie halt „El Condor Pasa“. Das andere Folklore-Stück heißt „Campamento 111“. Mit dem Wort „campamento“ bezeichnet man in Mittel- und Südamerika eine Arbeitsgruppe, ein Team. In diesem Titel geht es unverkennbar um peones, Feldarbeiter, die nach Feierabend zum Tanz aufspielen und - so die zuweilen eingeworfenen Textfragmente - dabei den patron, den Besitzer und Herrn also, auf die Schippe nehmen. Eine rundum hörenswerte Schallplatte - die Suche lohnt sich.

„Die paraguayische Harfe“ (LP)
Marcelino Benitez, arpa (Harfe)
Gold Records LP 11 168

Auch eine jener „Haben-müssen-LPs“. Mit 16 komponierten - sich an klassisch-andinen sowie den bunt-tänzerisch wirkenden Formen Paraguays orientierenden - Titeln, davon einer aus der Feder des Interpreten selbst, begeistert diese erstklassig aufgenommene und gepreßte Schallplatte mit frappierender Klangfülle. Die dicht mikrophonierte große arpa (sie entspricht in den Ausmaßen etwa der peruanischen Bauart) steht greifbar vor dem Hörer und fordert die Wiedergabeanlage nicht wenig, ist, rein tontechnisch betrachtet, ideales „Futter“ für aktive Monitore. Marcelino Benitez erweist sich als brillanter Virtuose mit tiefem Einfühlungsvermögen, der es vermag, das vielzitierte Herzblut in seinen künstlerischen Vortrag zu legen. Faszinierend, welche klanglichen Schattierungen er seiner arpa entlockt, welche verblüffende Dynamik dieses üblicherweise mit Darmsaiten bespannte Instrument ermöglicht. In einigen Stücken hören wir Begleitgitarren, und sogar zwei kleine Klanghölzer gesellen sich in einem Titel hinzu, akzentuieren den Rhythmus und gestalten das Zuhören noch interessanter. Vermutlich zogen sich die Aufnahmen mehrere Tage hin, denn es fällt auf, daß die arpa je nach Stück auf unterschiedlichen Positionen erklingt. Ob die Technik da nicht aufgepaßt hat oder es der Wunsch des Interpreten war (künstlerische Erwägungen hinsichtlich der Ausage des jeweiligen Takes), will und kann ich nicht beurteilen; es fällt halt auf. Gleichwohl: Eine großartige Schallplatte, interpretatorisch wie klanglich - unbedingt suchen!

Soweit für heute. Im dritten und letzten Teil unserer musikalischen Kreuzfahrt durch Südamerika werde ich zwei weitere LPs und zwei äußerst interessante CDs vorstellen, deren eine mit jener Klangqualität aufwartet, welche sämtliche Vorbehalte gegenüber diesem Tonträger ausräumt.

Gruß: Winfried
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Die Musik von Südamerika

Musikalische Kreuzfahrt (3)

Im letzten Teil dieser Tonträgerübersicht möchte ich noch zwei Langspielplatten und zwei CDs vorstellen sowie abschließend eine dreiteilige Zusammenfassung versuchen:

„Les Flûtes Indiennes“ (LP)
Los Calchakis
ARION ARN 30 091

Eine Langspielplatte, die in keiner Sammlung fehlen darf - so würde die typisch kritikerdeutsche Schlußbemerkung lauten. Wenn jene Floskel auch verschlissen wirkt, stimmt sie dennoch: Bei dieser LP stimmt einfach alles. Das beginnt beim aufwendigen Doppelcover mit vielen interessanten Informationen auf den beiden Innenseiten, geht über Zeichnungen diverser andiner Blasinstrumente bis hin zur vorzüglichen Aufnahmequalität. Was bei den CD-Booklets (aus Platz- und Druckkostengründen?) fehlt, hier finden wir es: Die Namen der Interpreten, ihren jeweils gespielten Instrumenten zugeordnet. Und man erfährt, daß sich die Gruppe „Los Calchakis“ im Jahre 1960 zusammenfand; ein Photo des Gründers und Leiters, Hector Miranda, ist auch dabei. Die Covertexte sind ausschließlich in Französisch gehalten - ich kann’s leider nicht, doch helfen (romanische Sprache) gedankliche Querbezugnahmen zu Lateinisch und Spanisch weiter, zumindest so, daß man den Sinn mitbekommt.
Wie bei ARION-LPs (und anderen Labeln gleichfalls) üblich, lag die Tonaufnahme in Händen eines Tonmeisters; für diese hier zeichnete Claude Morel verantwortlich - und begeistert den Zuhörer einmal mehr mit Weiträumigkeit, warm-natürlicher Klangzeichnung und punktgenauer Ortung in drei Dimensionen. In diesem tontechnisch rundum gelungenen Habitus erklingen klassisch-andine, mithin auf rezenten Traditionen basierende Musikstücke, reizvoll ergänzt (S.2, Take 1) durch Ariél Ramírez’ „La Perigrinacion“ aus „Navidad Nuestra“, hier von Los Calchakis gekonnt mental vom Alten Ägypten in die argentinischen Pampas übertragen... Oder der Titel „Kapullay“ - u.a. mit pinkillo und Violine im Takt des spanischen „pasacalle“ (= „Gassenhauer“) beginnend, geht die Musik nahtlos in den wayño-Takt über (wir erinnern uns: 1 - 2 - 3, 1 - 2 - 3) und nimmt auch zunächst skeptische Hörer einfach mit. Autochthone Anklänge tun ihr übriges. Aus meiner Sicht der Dinge eignet sich diese LP ganz besonders, in das Innere der südamerikanischen Musik hineinzufinden, da sie ebenso klangschöne wie musikalisch bunt-abwechslungsreiche Stücke präsentiert. Und abermals brillieren Los Calchakis mit perfekter Beherrschung der unterschiedlichsten Musik- und Stilformen des Kontinents, stellen Klänge aus Ecuador ebenso vor wie solche aus Paraguay, Argentinien, Perú und Bolivien - ein wundervolles Kaleidoskop!

„Canciones Tropicales“ (LP)
Los Paraguayos
Philips 6303 052

Ich werde den Verdacht nicht los, daß Philips diese LP(s) aus der Sechziger-Jahre-Serie „Super Stereo Sound“ (sie kam in teuren Covern mit Metallicsilber-Prägedruck daher!) als Antwort auf die (m.E. tontechnisch überbewertete) Decca-Silberband-Serie gesehen hat. Jedenfalls realisierte der ungenannt gebliebene Tonmeister ein wahres Klangbad mit verblüffender Räumlichkeit und Dynamik, das hier und da durchaus an die Manierismen der genannten Deccas gemahnt - waren es dort beispielsweise zuckergußdicke Mitten, füllige Bässe und schlicht falsch positionierte Instrumente, versuchte Philips akustisch zu punkten, indem der Hochtonbereich prononciert wurde, was den Lautsprechern der sechziger Jahre, in denen nicht selten eher träge Konushochtöner werkelten, durchaus entgegenkam. Heutigentags fällt das natürlich eher unschön auf, weshalb ich diese LP mit aktivierten Filterfeldern höre: Mitten bei 500 Hz +3 dB, Höhen bei 14 kHz -2 dB. Dann entfaltet sich das eingangs erwähnte „Klangbad“ ohne Negativismen. Solche finden sich nur noch hinsichtlich der Musik, die, bei aller mitreißenden Farbigkeit und Rhythmik, letzten Endes der Sparte U-Musik zuzurechnen ist. Warum stelle ich die Schallplatte denn überhaupt vor? Nun, einerseits ist sie ein tontechnisches Zeitdokument, andererseits macht sie - je nach Stimmungslage - richtig Laune, weil man einfach „alles vergessen“ kann, Tiefschürfendes beiseite legt, sich schlicht und ergreifend fallenlassen darf. Quirlig und kunterbunt, bringt diese LP einfach nur Klänge zu Gehör, die Spaß machen und gar nicht mehr wollen. Und warum sollte man nicht ab und an Unterhaltungsmusik aus Südamerika hören?

„Flûtes des Terres Incas“ (CD)
Los Calchakis
ARION ARN 64002

Ein wunderbares Kompendium aus zehn Jahren des Schaffens des Labels Arion: 1970 bis 1980, insgesamt 20 Musikstücke aus Argentinien, Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Perú, von Los Calchakis wie immer perfekt und landestypisch intoniert. Wie bei allen Arion-CDs finden wir nicht nur gut bis erstklassig aufgenommene Musik, auch diese bietet neuerlich die Möglichkeit, die „Handschriften“ diverser Tonmeister zu goutieren. Daß mir persönlich die Arbeiten von Claude Morel am besten gefallen, soll keineswegs die Tonmeister Chaubaroux, Menny und Pellissier (letzteren schon gar nicht) abwerten! Wer das Glück hat, bereits Arion-LPs zu besitzen respektive solche noch aufgefunden zu haben, kann zudem Vergleiche zwischen LP- und CD-Wiedergabe anstellen, da die Inhalte der LPs - wie bereits gesagt - auf den CDs in neuer thematischer Verkoppelung veröffentlicht wurden.
Alle 20 Titel en detail besprechen zu wollen, wäre etwas arg umfangreich, daher möchte ich nur den für mich bemerkenswertesten erwähnen: „Sanjuanero“ (Take 17, gleichzeitig Anspieltip). In Kolumbien, dem Ursprungsland des Musikstückes, bin ich weder geschichtlich noch musikalisch „zu Hause“ und daher erwartete ich etwas ähnliches wie die in Ecuador oft gespielte Rhythmusform „Sanjuanito“ ... alle Sanjuanitos, die ich bislang hörte, werden im 2/4-Takt intoniert und erinnern irgendwie an den rhythmisch treibenden Duktus des Häns’che-Weiss-Quintetts („Musik deutscher Zigeuner“, Da Camera Song SM 95040) - zugegeben, weit hergeholt, aber stimmig. Der Sanjuanero auf dieser CD erweist sich als „musikalisch komplizierter“. Berufsmusiker mögen jetzt schmunzeln, aber ich gebe unumwunden zu, daß es eine Weile dauerte, bis ich die „Konstruktion“ dieses Stückes erkannte: Es läuft basierend auf einem 6/4-Takt, der nicht von einem Membranophon, sondern von den reco-reco (jene geraffelten Klanghölzer, hier vermutlich eine Variante) vorgegeben und permanent gehalten wird, derweil die Trommel - ebenso wie die guitarra - abweichende Taktfolgen zeigen und sich mittels Fermaten bzw. auch Kadenzen immer wieder an den Grundrhythmus anpassen. Da verzählt man sich rasch, aber ich bin sicher, das schlußendlich halbwegs verstanden zu haben. Für eventuelle Berichtigungen seitens entsprechender Fachleute wäre ich auf jeden Fall dankbar.
Zur Tontechnik ist nur Positives zu vermelden: Wie für Arion typisch, bietet auch diese CD ein „vollmundiges“ und sehr weiträumiges Klangbild mit allen Dimensionen (L/R, V/H, U/O). Sie ist mit Pre-Emphasis encodiert, was entsprechend ausgerüstete Wandler anzeigen.

„Quejas de Bandonéon“ (CD)
Sexteto Mayor
WorldNetwork 52.988

Im April 1984 brachte das damals seit 20 Jahren bestehende argentinische „Sexteto Mayor“ anläßlich eines Live-Konzertes im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunk (Köln) das Publikum auf den Siedepunkt. Die großartigen Musiker erhielten Ovationen, die teilweise auf dieser CD aufgezeichnet sind - einer CD von wahrhaftem Seltenheitswert: Dieses Konzert war ein einmaliges Ereignis, alles paßte, alles stimmte, die Musiker hatten eine „Sternstunde“, nie zuvor und niemals danach kam meines Wissens eine Aufzeichnung mit arrangierten, traditionellen Tango-Rhythmen zustande, die so mitreißend ist, den Hörer auf dergestalt zupackende Weise an und in den Ort des Geschehens portiert. Kurzum: Man wähnt sich live dabei. Dies gilt logischerweise für die Titel 9 bis 18, die jenen Ausschnitt aus dem Live-Auftritt des Sextetts enthalten; Titel 1 bis 8 sind Aufnahmen, die in einem der WDR-Studios entstanden sind, aber auch die bringen urmusikalische Spielfreude rüber. Sexteto Mayor - hinter diesem Namen stehen die Musiker José Libertella (Bandonéon), Luís Stazo (Bandonéon), Eduardo Walczak (Violine), Mario Abramovich (Violine), Oscar Palermo (Piano) und Osvaldo Aulicino (Double-bass). Die „apellidos“, die Nachnamen der Künstler, verdeutlichen, daß nicht zuletzt Argentinien während des 19. und bis etwa zum Beginn des 20. Jahrhunderts bei zahlreichen Immigranten als Hoffnungsträger für die Zukunft galt.
Tango - diese für Argentinien typische Musik wird oftmals als „Bar- und Tanzmusik“ abqualifiziert. Sicher, Tango ist Tanzmusik par excellence, doch enthält Tango - wie praktisch stets in Südamerika - kulturelle und historische Elemente, zudem vermischt mit Volkstümlich-Derbem. Als Beispiel mag Titel 18 dienen, „El Choclo“ („Der Maiskolben“, auch choqllo geschrieben) ... ich möchte nicht ungebührlich plakativ werden, daher sei nur angedeutet, daß Maiskolben und Mangofrüchte (in ihrer bildlichen Verbindung) im Lande vorstellungsseitig mit gewissen Analogien befrachtet sind... Der Tango ist eben nicht nur Musik an sich, sondern - das verwundert uns nun nicht mehr - gleichfalls auf langer Tradition fußendes soziokulturelles Ausdrucksmittel. Tango basiert nämlich auf der „Habanera“, selbige wurde von farbigen Matrosen von Kuba aus in die Hafenstädte Argentiniens und Uruguays gebracht und ist damit schwarzafrikanischen Ursprungs - wie viele Musikformen des südamerikanischen Teilkontinents. Geht man geschichtlich weiter zurück, zeigt sich, daß man die Habanera aus Elementen des Rokoko entwickelte, den sogenannten Contre-Dances, spanisch: Contradanzas. Diese wurden durch afrikanische Melodiebildungs- und Rhythmisierungtechniken einem rigiden Einfluß unterworfen - es entstand im Laufe der Zeit eben die typische Tangoform aus dem 2/4-Takt der Habanera, mit dem ihr entstammenden Muster einer verlängerten Achtel-, einer Sechzehntel- und zwei Achtelnoten zum 4/8-Takt, der regelmäßig zu synkopieren ist; auch im Tango aber gibt es individuelle Abweichungen und situative Modifizierungen, die für Südamerikas Musikformen so typisch sind.
In den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden gänzlich neue Formen, welche die Variabilität des Tango unterstreichen, ihn jedoch von seinem gewachsenen Charakter entfernen und völlig neue musikalische Welten eröffnen; weg von der „Tanzmusik“, hin zu anspruchsvollen Kompositionen, die, betrachtet man es aus dem Blickwinkel der „Klassik“, weitgehend der „Neuen Musik“ zuzurechnen sind. Hier muß der Name Astor Piazzolla genannt werden. Als der gebürtige Italiener Astor Piazzolla (1921 - 1992), lebend in Buenos Aires (Argentinien), in den bereits angesprochenen vierziger Jahren seinen „Tango nuevo“ kreiert hatte, gab es Zeiten, in denen er sich nicht auf die Straße traute. Er fürchtete tätliche Angriffe seitens jener Musiker, welche den traditionellen Tango befürworteten - und die ihm teils nach dem Leben trachteten. Piazzollas Schöpfung nämlich brach radikal mit jeglicher Tradition. Er integrierte Elemente aus Klassik, argentinischer Folklore und Neuer Musik in seine Werke; später kamen Formen aus Pop und Rock hinzu. Die Tonsprache enthält des weiteren Ingredienzien der Stile von Igor Strawinsky und Bela Bartók, deren Harmonik bekanntlich eigenständige Konstruktionen zeigt. Damit dürfte klar sein, daß Tango nuevo mit Tanzmusik nichts gemeinsam hat und dementsprechend hohe Anforderungen an Musiker und Hörer stellt. (Übrigens bringt das Sextett auf der vorliegenden CD ein Arrangement aus Werken von Piazzolla [Titel 17] zu Gehör.) Salopp formuliert, ist Tango nuevo etwas für den Konzertsaal, spricht eher den „hauptberuflichen“ Klassikhörer an, der tradierte Tango dagegen repräsentiert ethnisch basierte Musik. Man wird beide Formen nicht gemeinsam in den berühmten Topf werfen dürfen: Die eine besitzt ebenso ihren Anspruch wie die andere - alles zu seiner Zeit
Kommen wir nach obigem Exkurs wieder zurück zum Sexteto Mayor und dieser großartigen CD. Als Ensemble quasi wie ein Mann agierend, erweist sich jeder einzelne Musiker als ebenso virtuos wie intuitiv-einfühlsam spielender Solist. Sexteto Mayor beherrscht in faszinierender Weise ad hoc eingestreute Improvisationen, die schlußendlich scheinbar „komponiert“ wirken - ebenso verblüffend wie begeisternd, steht die Gruppe damit doch in der nationenübergreifenden Weise südamerikanischen Musizierens. Das Gesamtklangbild wirkt immer vielgestaltig und überrascht mit unzähligen Feinheiten, die sich aus dem Zusammenwirken der Instrumente ergeben - speziell mit jenem für Argentinien typischen Bandonéon. Dieses klingt beim ersten Hinhören etwa wie ein Akkordeon und hat in der Tat rein funktionstechnisch gewisse Ähnlichkeiten mit dem hierzulande wohlbekannten Instrument. Über die Entstehung des Bandonéon existieren divergierende Lesarten; bei Zurateziehung unterschiedlicher Quellen erkennt man uneinheitliche Darstellungen. Ich halte mich daher an das Standardwerk „Reallexikon der Musikinstrumente“ (Hildesheim, New York, 1979) von Prof. C. Sachs, Zitat: „Bandonéon nennt man eine Konzertina mit mehr als 88 Tönen. Der Name rührt von einem Crefelder Händler Heinrich Band her, der das Instrument in den 1840er Jahren herstellen ließ.“ (Zitat Ende) Weitere Untersuchungen brachten mich zu dem Ergebnis, daß Bands Konzertina („vieleckige Konzertina“) auf die sogenannte Handaeoline nach Whitstone zurückgeht. Wahrscheinlich kam das Bandonéon im Rahmen der Einwanderungswellen nach Uruguay und Argentinien - im letztgenannten Lande entwickelte es sich zu einem der dort beliebtesten Instrumente. Und genau dies demonstriert das Sexteto Mayor, wenn die beiden Bandonéon unter Begleitung der anderen Instrumente duettieren bis „duellieren“; unglaublich, welche Ausdruckskraft und Vielfältigkeit José Libertella und Luís Stazo ihren Konzertinas entlocken...
Der künstlerischen Leistung entspricht die perfekt gelungene Aufnahme ebenso wie das gleichermaßen perfekte Mastering dieser CD. Natürlich und weiträumig, dreidimensional - um es auf drei Stichworte zu beschränken. Die Basisbreite ist geringer als beispielsweise in den Einspielungen von Jean-François Pontefract (siehe Thread „Alte Musik“) oder Claude Morel. Aufnahmen mit Überbreite kann man aus technischen Gründen nicht über den Sender bringen, weshalb Rundfunkanstalten hier gezwungenermaßen eine Grenze ziehen müssen.
Ich könnte endlos weiterreferieren, doch das scheint müßig. Es dürfte hinreichend deutlich geworden sein, daß es sich bei der CD „Sexteto Mayor“ um eine völlig ungewöhnliche Produktion handelt - in jeder Hinsicht! Die tontechnische Leistung des (oder der) ungenannten Tonmeister(s) läßt jeden Hörer den Atem anhalten: Die Silberscheibe versetzt uns in den Großen Sendesaal und bringt die Musik in verblüffender Naturtreue über die Monitore - und sie ist beim 2001-Versand (Frankfurt) noch erhältlich!

Schlußwort zur Musik
Mit den in diesem Thread vorgestellten Tonträgern sowie grundsätzlichen - zugegebenermaßen viel zu kurzen - Erläuterungen der historischen, mythologischen und ethnisch basierten Zusammenhänge hoffe ich, Interesse an der so ungemein vielgestaltigen Musik von Südamerika geweckt zu haben. Erfahrungsgemäß finden passionierte Jazz-Hörer am ehesten Zugang zu den Klängen dieses Weltenteiles, vermutlich, weil auch der Jazz ethnisch basiert und von Schwarzafrikanern geprägt ist, Synkretismen aufweist - wie eben die Musik von Südamerika, welche, wie der Jazz, früher (und zum Teil noch heute), ohne Notenschriften tradiert, von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Doch auch Klassikfreunde dürften Freude an der südamerikanischen Musik gewinnen; atavistische Formen und Klänge kontrastieren mit hochentwickelter Metrik und Rhythmik: von der solistischen kena bis zur Cantata, vom Ayarachi bis zum Tango nuevo...

Schlußwort zur Technik
Etwelche der hier - sowie im Thread „Alte Musik“ - vorgestellten CDs dokumentieren fragezeichenfrei, daß jegliche Diskussion, ob denn die CD systembedingt eingeschränkt sei, sich als obsoleter Streit um des Kaisers Bart erweist. Es gibt sehr gute, gute, mittelmäßige und miserable CDs, das aber hat nichts mit dem technischen Prinzip zu tun. (Erinnern wir uns: es gab sehr gute, gute, mittelmäßige und miserable LPs...) Heutzutage durchgeführte Manipulationen darf man nicht der CD als solcher negativ anrechnen; wer „loudness race“ akzeptiert und derart verbogene Tonträger nicht dem Händler zurückgibt (das wäre evt. heilsam!), ist selber schuld, wenn er zu Hause mit miserablen „44,1-Tönen“ zu kämpfen hat. Die CD ist masterbandreproduktionsfähig - die Mehrheit der hier aufgeführten beweist es zweifelsfrei - und wenn das nicht ohrenfällig wird, sollte man am persönlich verwendeten Equipment den Hebel ansetzen. Überspitzt formuliert: Ein D/A-Wandler mit massivgoldener Frontplatte ist noch lange kein Garant für exakte Reproduktion...

Schlußwort zur Geschichte
Die zur Hauptsache wirtschaftlich und missionarisch motivierten „überseeischen Unternehmungen“ führten dazu, daß Europa auf diese Weise mit bis dahin fremden Völkern und Kulturen bekannt oder auch konfrontiert wurde. Bezogen auf unser Thema, die Musik, entstanden durch die Kontakte der europäischen (arabisch/maurisch und persisch/farsisch basierten) Musik und deren Instrumenten mit südamerikanischer Musik und deren Instrumenten und Formen ungewöhnlich reiche Synkretismen, die durch schwarzafrikanische Einflüsse zusätzlich an Vielfalt gewannen. Es darf, so denke ich, ohne weiteres gesagt werden, daß die heutige Musik von Südamerika einen Facettenreichtum besitzt, der wohl kaum zu übertreffen ist. Auch ein Grund, sich damit zu beschäftigen: Wohl jeder findet hier „seine“ Musik, Melodien, Klänge und Rhythmen, die ihn ganz besonders ansprechen.
Doch bevor es zu menschlichen (das meint durchaus auch kriegerischen) Kontakten kommen konnte, mußte der nahezu unermeßlich riesige Doppelkontinent namens Amerika erst einmal entdeckt werden, ein Kontinent, der von den nord- bis zu den südpolaren Regionen reicht. Es dürfte leicht einsichtig sein, daß man aufgrund der geographischen Dimensionen keinesfalls von „dem“ Entdecker Amerikas sprechen kann - gleichwohl wird als solcher (auch in den Schulen) immer nur „Christoph Kolumbus“ (Cristóval Colón) genannt. Das ist falsch und unsinnig. Colón entdeckte einige Karibikinseln und glaubte zeitlebens, in Indien (gewesen) zu sein. Wie gesagt, „den“ Entdecker Amerikas gibt es nicht und kann es auch nicht geben, bzw. gegeben haben; angesichts der Größe des Kontinents muß man diversifizieren und bestimmte Entdecker (oder Erstbetreter) den von ihnen erstmalig aufgefundenen Gebieten zuordnen. Von Nord nach Süd wären als wichtigste Entdecker aufzuführen:
Giovanni Caboto (John Cabot), Italiener im Dienste der englischen Krone, 24.6.1497 Neufundland;
Juan Ponce de Leon, 1512 Florida;
Vasco Nuez de Balboa, 29.9.1513 Pazifik bei Panama;
Cristóval Colon, mehrere Reisen (siehe Einleitung), Karibik;
Hernando Cortéz, 1521 Mexico;
Francisco Pizarro, 1531/32 Perú - dabei darf der Kapitän seines Schiffes nicht vergessen werden: Bartolomé Ruiz; Eroberung des Inka-Reiches durch die Schlacht von Cajamarca am 16.11.1532.
Die Kugelgestalt der Erde schließlich wurde systematisch erforscht und bewiesen durch Fernão de Magalhães, Portugiese im Dienste der spanischen Krone, er begann mit fünf Schiffen am 20.9.1519 seine Weltumsegelung, entdeckte die Philippinen und wurde dort am 27.4.1521 von Eingeborenen getötet. Als einziges Schiff blieb die „Victoria“ übrig, die am 6.9.1521 nach Spanien zurückkehrte.

Gruß: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

soeben habe ich nochmal die CD "Sexteto Mayor" durchgehört. Da sie noch erhältlich ist (angesichts des Preises von 6,90 € dürfte es die Urversion sein), empfehle ich, die live im Großen Sendesaal aufgezeichneten Stücke (Titel 9 - 18) zu hören und anschließend auf einen der im Studio entstandenen zu gehen, nämlich Nr. 1 bis 8. Man erkennt sofort, daß diese Takes in einem deutlich kleineren und niedrigeren Raum aufgenommen sind. Beim Wechsel auf einen der Live-Titel befindet man sich wieder im Sendesaal: Hoher, sehr weiter Raum mit vorzüglicher Akustik. Für mich jedesmal frappierend, da ich den Saal sowohl als Konzertbesucher, als auch durch Mitarbeit bei gewissen elektroakustischen Versuchen (80er Jahre) kenne. Die zweifelsfreie Reproduktion solch komplexer Vorgänge spricht für die CD - dies unterstreicht, was ich im "Technischen Schlußwort" zur CD gesagt habe. Und jeder kann das für ein paar Euro nachvollziehen.

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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo nochmal,

eben hatte ich etwas vergessen: Neben der beschriebenen Raumabbildung faszinieren des weiteren Details wie z.B. die fühlbaren Klavieranschläge, die Violine von warm-sonor bis "ätzend" scharf, die Tonbildung des Basses und dessen Korpusklang, Klangfeinheiten der Bandonéons sowie einige Publikumsgeräusche, etwa der Huster in einer der hinteren Reihen, weit abgesetzt vom musikalischen Geschehen... Geht alles mit 44,1 kHz und 16 Bit...

Gruß: Winfried
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Kienberg
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Beitrag von Kienberg »

Hallo Winfried,

besten Dank für diese beiden Hinweise, genau solche Details machen mir auf einer Einspielung grossen Spass. Bin nun etwas verunsichert, ob ich die richtige Version von Quejas De Bandoneon bestelle, denn bei jpc gibt es eine Einspielung für 17,99€, siehe hier, ist das die "bessere" Version und trifft für die auch Deine interessante Beschreibung zu ?
Winfried Dunkel hat geschrieben:Da sie noch erhältlich ist (angesichts des Preises von 6,90 € dürfte es die Urversion sein), empfehle ich, die live im Großen Sendesaal aufgezeichneten Stücke (Titel 9 - 18) zu hören und anschließend auf einen der im Studio entstandenen zu gehen, nämlich Nr. 1 bis 8. Man erkennt sofort, daß diese Takes in einem deutlich kleineren und niedrigeren Raum aufgenommen sind.
Danke

Gruss Sigi
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tinnitus
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Beitrag von tinnitus »

Hallo Sigi,

schaust Du bei http://www.zweitausendeins.de und suchst dann nach sexteto mayor, dort gibt s die Scheibe für schlappe 6,99 + hintragen. :mrgreen:

Gruß Roland
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Sigi,

das Booklet-Bild entspricht der Original-CD. Warum die allerdings über 17 Euronen kostet, weiß ich nicht. Hoffentlich ist es kein "Reissue" mit zeitgemäßer loudness-race-Behandlung...! Ganz privat gesagt, und mich "Tinnitus" anschließend, würde ich bei 2001 bestellen - sicherheitshalber.

Gruß: Winfried
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Kienberg
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Beitrag von Kienberg »

Besten Dank, Roland und Winfried,

für den Hinweis bzw. die Warnung vor einem möglicherweise kaputtgemasterten "Reissue", gehe also via 2001 nach "Südamerika".

Gruss Sigi
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Sigi,

wenn Du die CD "Sexteto Mayor" gehört hast, schreib' doch bitte hier mal Deine Erfahrungen auf.

Gruß: Winfried
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Kienberg
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Beitrag von Kienberg »

Hallo Winfried,

mache ich gerne, komme aber erst ab kommenden Donnerstag dazu, da ich die nächsten Tage vier Liveevents in Wien "Vorhören/Nachhören" und dokumentieren muss.

Gruss Sigi
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Franz
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Beitrag von Franz »

Bin zwar nicht Sigi :mrgreen: , aber diese CD von denen habe ich schon ein paarmal gehört:

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Das ist der Mitschnitt eines Radiokonzertes. Sie spielen darauf Tango im traditionellen Spiel, also mit zwei Bandoneons, zwei Violinen, Piano und Kontrabass. Im ersten Teil des Konzertes widmen sich die Musiker mit einer Auswahl von Tangos, Milongas und Walzern der Zeit vor Piazzolla. Der zweite Teil des Konzertes ist ganz dem großen Tango-Erneuerer selbst gewidmet. Weltberühmte Klassiker wie "Libertango" und komplexere Meisterwerke wie "Fuga Y Mysterio/Tangata" stehen dabei Seite an Seite. Ein furioses Feuerwerk in konzertantem Rahmen - geprägt von unmittelbarer Sinnlichkeit und einer lebensnahen Aura. Ja, was soll ich sagen? Diese Musik geht in´s Blut, unmittelbar. Virtuose Darbietung, gefällt mir sehr.

Gruß
Franz
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