Die Chopin-Préludes liegen Pollini offenbar am Herzen: In den letzten Jahren gehören sie zu seinem bevorzugten Konzertprogramm (Youtube Videos auf Japan 2002 und Amsterdam 204) und so wählte er Chopins „Haikus“ auch für seine Jubiläums-CD zum 70. Geburtstag. Der Abstand zur Studio-Aufnahme der DGG sind 38 Jahre – ein halbes Leben! Wie sieht also Pollinis Spätstil aus? Wenn nicht der Schluß von Nr. 24 wäre – Pollini oktaviert den finalen Basshammer und erzeugt damit eine dämonisch-gespenstische Wirkung – so könnte man sagen: absolut unauffällig. Immer flüssig, wahrlich sehr organisch, so, als wolle er jede überflüssige Aufmerksamkeit auf das Einzelne vermeiden. Das klingt wie aus einem Guss – das Werk als Zyklus, wo sich die einzelnen Stücke wie die unzähligen Fenster in einer Glasfassade unauffällig zurücknehmen. Das ist ein volltönender Klavierton mit sattem Pedal, sehr ästhetisch, nie scharf. Keine Kraftanstrengungen, die Kontraste abgemildert. Das Konzept ist der durchgehende „Puls“, eine Bewegung, die nie zum Stillstand kommt. Alles schön und gut. Aber Haikus sind Präziosen, die wollen jede für sich liebevoll behandelt werden. Diese Aufmerksamkeit wird ihnen aber nicht zuteil. Bezeichnend, dass Pollini Chopins Tempovorschriften der einzelnen Nummern, Lento, Largo, Lento assai... sehr moderat angleicht. Der Vergleich mit seiner alten – nach wie vor maßstabsetzenden – Aufnahme ist hier sprechend. Nr. 2 und Nr. 13 sind geradezu signifikant – zweimal Lento. 1974 zeigt sich Pollini in Nr. 2 als ein Feingeist, feinste Abstufungen, eine hintersinnige Expressivität, welche die Phrase „leben“ lässt, die „Atem“ hat. Dagegen ist die neue Einspielung einfach nur großflächlich. Man hat das Gefühl, Pollini folgt im Alter nur noch einem seiner Vorbilder, Artur Rubinstein: das Bemühen um organisches, natürliches Spiel. (Barenboim sagte mal zu Rubinstein: „Bei ihm geht alles durch einen Natürlichkeitsfilter.“). Die Feinheit von ABM dagegen, die man 1974 noch deutlich spürt, sie ist einfach nicht mehr da. In Nr. 13 ist es das Tempo, das alles verändert. Wiederum „Lento“ schreibt Chopin vor, das Pollini 1974 noch spielt – 2012 kann man das Lento wahrlich nicht mehr nennen. Die Phrasierungen sind noch da, aber im viel zu flüssigen Tempo verlieren sie ihre Eindringlichkeit und Nachdrücklichkeit. Und weil es viel zu flüssig ist, geht im „piu lento“ des klangschönen Mittelteils das sostenu verloren, das wirkt fast ein bisschen harsch. In der alten Aufnahme sehr wirkungsvoll der etwas flüssigere Gang in der Wiederholung des A-Teils „Tempo I“ – das hat etwas von einem gelösten lieto fine. Genau diese Wirkung kann es nun 2012 nicht mehr haben, wo es weder ein „Lento“ noch ein „Piu lento“ gibt. Nein, irgendwie rauscht diese Musik an einem vorbei, es fehlt die Versenkung in den Moment, besonders in den letzten Nummern wartet man förmlich auf das Finale, wo alles vorüber ist. Das ist so etwas wie eine große musikalische
Symphonie, aber kein Kaleidoskop musikalischer Miniaturen. Mein Favorit bleibt deshalb die alte Aufnahme!
Sehr schön die Mazurken in ihrem beschwingten, dabei doch zurückhaltenden und trefflich charakterisierenden Vortrag. In den Nocturnes geht dieser Interpretationsansatz des späten Pollini am besten auf: der durchgehende dramatische Puls, der sich nie im Schwelgen des Moments verliert. Das Scherzi b-moll ist wahrlich ein gelungener Abschluss. Hier zeigt Pollini, dass er zu sich selbst gefunden hat. In der Studioaufnahme spürt man noch die Nähe zu ABM in dem Bemühen um Klassizität. Nun klingt dieses Scherzo wie eine Ballade für Klavier, mit dramatischen Zügen. Hier ziehe ich die neue Aufnahme vor!
Eine schöne Platte – aber eigentlich hätte man doch ein bisschen mehr erwartet. Aber das will der altersweise Pollini offenbar nicht: Klavierspiel, das so wenig wie nötig „aufwendig“ sein will in jeder Hinsicht nach dem Motto: Das Nötigste ist das Beste.
Beste Grüße
Holger