Die Barten des Wales

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uli.brueggemann
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Die Barten des Wales

Beitrag von uli.brueggemann »

Ausgangspunkt ist eine etwas off-topic-Diskussion in einem Thread über optimale 3 Musikstücke:
Hans-Martin hat geschrieben: 28.10.2020, 23:44
cornoalto hat geschrieben: 28.10.2020, 22:21Wenn ich mir die ungefensterten Acourate-Messungen in Netz ansehe, sehe ich ab 1000 Hz Frequenzgänge, die mich stark an die Barten des danach benannten Wales erinnern. Das sind ja eigentlich alles "Moden" in den oberen vier Oktaven des Hörspektrums. Wenn diese weg wären, wäre es vieleicht natürlicher.....
Hallo Martin,
da OT, kurz gesagt: entweder du sorgst mit angemessener Dämpfung für weniger Reflexionen im Raum, wo du misst, oder du glättest das Messergebnis, oder du hältst deinen Kopf millimetergenau fixiert beim Hören, wo die L und R Ohren die jeweilige Mikrofonposition bestimmt haben.
Deine Ohren haben zusammen mit einer unwillkürlichen Kopfbewegung eine erlernte Ortungsverschärfung und gleichen so manchen Fehler aus, den fixierte Mikrofone zwangsläufig machen. Das Gesetz der ersten Wellenfront ist uns in die Wiege gelegt, beim Mikrofon und Messssystem mit großem Zeitfenster wird es schwierig, wie man die Fensterung für eine Raumkorrektur sinnvoll einsetzt.
Grüße
Hans-Martin
Ich denke, da ist eine Aufklärung nötig.

Der Frequenzgang einer ungefensterten bzw. unbehandelten Pulsantwort aus einer Messung zeigt also die Barten eines Wales. Was lernt man daraus?
Was steckt dahinter?

Dazu ein Versuch. Lade die Pulsantwort und rechne damit in Acourate TD-Functions - Reversion. Die Pulsantwort wird reversiert, also umgedreht. Und zwar im zeitlichen Ablauf. Die erste Wellenfront wird nun die letzte. Und was ändert sich nun bei den Barten des Wales? NICHTS!!

Merke: der Frequenzgang ist das Ergebnis der Fourier-Transformation. Im Frequenzgang ist KEINERLEI zeitlich Information mehr enthalten. Das Ergebnis ist ein rein informatives Ergebnis, welches die Amplitude einer beliebigen Sinusfrequenz, gespielt als Dauerton , anzeigt. Und zwar im eingeschwungenen Zustand. Nachdem der Sinus dann die Raumpulsantwort als Filter durchlaufen hat.

Die Pulsantwort enthält nun dabei aber eben alles was nun zeitlich so stattfindet. Einschwingen, erste Wellenfront, x-te Wellenfront, Ausschwingen, Reflexionen, Diffusanteile des Raums. Alles auch beliebig durcheinander.
Und so ergeben sich eben auch die Barten des Wales im Frequenzgang. Man kann aber nicht wirklich unimttelbar schlussfolgern was denn die Ursache ist. Im übrigen ist die Darstellung üblicherweise "verzerrt", weil logarithmische Frequenzachse. Nicht fürs Ohr, aber fürs Auge.

Klar ist: am Anfang wird das System LS und Raum durch einen Puls (oder einen Sweep oder ein anderes Testsignal) angeregt. Es wird also Energie reingesteckt, letztlich die aus der Steckdose. Und die wabert nach der ersten Antwort = freigelassene Schallwellen - so lange im Raum herum bis dass die Energie in Wärme umgewandelt ist.
Nun, wenn jemand spricht oder einen Ton auf dem Klavier spielt, dann interewssiert uns nicht, was da nach x Sekunden im Raum passiert. Sondern uns interessiert was gesagt oder gespielt wird. Also der Anfang. Unter diesem Aspekt macht dann die erste Wellenfront Sinn. Weil darauf ja die nächsten "ersten" Wellenfronten der Sprache bzw. der Musik passieren. Eigentlich logisch.

Wenn man nun die Pulsantwort fenstert, also den weniger interessierenden Teil der nachfolgenden Wellenfronten herausschneidet passiert dann mit dem hieraus berechneten Frequenzgang eine Veränderung. Die Barten des Wales werden weniger und verschwinden evtl. sogar ganz.
Eine Eigenschaft der FFT ist es also, dass Frequenzgänge glatter werden, je kürzer das Zeitsignal wird. Umgekehrt gilt auch, dass glatte Frequenzgänge in physikalisch kausalen Systemen durch kurze Antwortzeiten bedingt sind.

Eine mögliche Schlussfolgerung ist, dass man in einer Echokammer (reflexionsfreie Zone) am besten hört. Im Prinzip ja. Allerdings sind wir eben nun auch an reale Räume gewöhnt. So, dass wir sie brauchen. Weil eben auch das, was hinter der ersten Wellenfront nachfolgt, eine Information z.B. über Raumgröße und -eigenschaften mitbringt. Was wir brauchen, um uns wohl zu fühlen.

Es geht also um die richtige Bewertung. Extrem viele Barten des Wales in einem Frequenzgang deuten auf viel Nachhall hin. Je weniger Nachhall umso weniger Barten.
Da man aber nicht das Wabern des Schalls korrigieren kann, sondern eher das, was die LS-Membran als Direktschall verlässt, werden Pulsantworten generell gefenstert. Man versucht, den direkten vom indirekten Schall zu trennen. Darin liegt denn auch die Kunst.
Eine Verbesserung des indirekten Schalls bedeutet denn räumliche Umbaumassnahmen.

Grüsse
Uli
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wgh52
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Beitrag von wgh52 »

Hallo Uli,

Danke für den verständlichen, erhellenden Beitrag!

Beim Lesen kam mir ein (vielleicht naheliegender) Gedanke: Verschiebt man das Fenster so, dass "die erste Wellenfront" ausgeblendet wird und (mal vereinfacht) nur die zweite (also die erste Reflektion) "durch das Fenster geht", müsste sich damit doch bei geeigneter Interpretation des Ergebnisses Information über z.B. den Frequenzgang dieser gewinnen lassen und möglicherweise Entscheidungen über Diffusion/Dämpfung unterstützbar sein. Bisher habe ich eine solche Anwendung aber noch nicht gesehen... Was meinst Du dazu?

Grüße,
Winfried

5024
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uli.brueggemann
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Beitrag von uli.brueggemann »

Hallo Winfried,

so etwas hast Du schon tonnenweise gesehen ;)
Wenn Du Deinen Gedanken weiter ausformulierst, dann bedeutet dies einen Fensterausschnitt z.B. hinter der ersten Wellenfront.
Also überhaupt einen Fensterausschnitt.
Den kannst Du ja direkt auch mit der ersten Wellenfront verwenden, dann das Fenster ein bisschen weiterschieben und dann nochmal weiter ...
Das Ergebnis ist genau das was Du als Wasserfalldiagramm kennst.
Was dann ja auch üblicherweise jeweils glattere Frequenzgänge sind, allerdings bei niedrigen Frequenzen wesentlich glatter als bei hohen. Was klar sein sollte, denn in ein Fenster passen u.U. nur wenig niedrige Frequenzen aber immer noch viele hohe.

Grüsse
Uli
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Lauscher
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Beitrag von Lauscher »

Danke Uli,

für diese Gedankenanstöße :D

Klasse

Viele Grüße
Jens
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cornoalto
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Beitrag von cornoalto »

Hallo Uli,
uli.brueggemann hat geschrieben: 29.10.2020, 09:51 Man versucht, den direkten vom indirekten Schall zu trennen. Darin liegt denn auch die Kunst.
Eine Verbesserung des indirekten Schalls bedeutet denn räumliche Umbaumassnahmen.

Grüsse
Uli
...oder den halligen Hörraum (fast) so zu lassen wie er ist und dafür bündelnde Lautsprecher zu benutzen.
In meinem Fall wirkt sich die Abstrahlcharkteristik dergestalt aus, daß auf Ohrhöhe+/20 cm es überall im Raum tonal recht ähnlich klingt, darüber und darunter aber total dumpf. Also extreme Bündelung vertikal und recht wenig horizontal. Die Lautsprecher haben viel Platz zur Seite und nach Hinten und auf Ohrhöhe ist der Raum von den Reflexionsflächen her recht diffuss ausgestattet. Insgesamt ist der Raum aber eher wenig bedämpft.
Dann sind die Barten (schon klar, daß das nicht der anfängliche Direktschall alleine ist) jedenfalls ab 1000Hz :
Ab.

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Viele Grüße

Martin
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uli.brueggemann
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Beitrag von uli.brueggemann »

Martin,

nun ja, in einem halligen Raum ist ein bündelnder LS nicht verkehrt, z.B. auch Hörner ;)
IIRC hast Du ja die LS diagonal im Raum aufgestellt, was denn auch Seitenwandreflexionen reduziert.
Das Nachhalldiagramm im Bereich < 0.2 sek zeigt aber auch, dass auch kein Diffusschall rumwabert. So hallig bzw. unbedämpft kann der Raum also nicht sein. Dem Mikro ist es dabei recht egal, von welcher Seite Reflexionen/Nachhall kommen.

Insofern sind die gezogenen Walzähne verständlich :mrgreen:

Grüsse
Uli
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cornoalto
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Beitrag von cornoalto »

Hallo Uli,
uli.brueggemann hat geschrieben: 31.10.2020, 10:21 ...die gezogenen Walzähne... :mrgreen:

Grüsse
Uli
..wobei es sich genau genommen nicht um Zähne handelt sondern um hornartige sich auffasernde Platten, Fischbein genannt, welches früher für Korsette benutzt wurde und wofür unsere Vorfahren die Bartenwale schon fast ausgerottet haben.
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Also besser die Barten vom Frequenzgang ziehen, als die der Bartenwale :D

Viele Grüße und bleib gesund

Martin
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uli.brueggemann
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Beitrag von uli.brueggemann »

Uff, ich hatte doch was vergessen. Jetzt weiss ich es wieder. Ich wollte Wal"zähne" schreiben. :D
:cheers:
Uli

PS: ich bin mir ziemlich sicher, dass man bei Deinen Pulsantworten auch im Zeitbereich erkennen kann, dass der Wal nur einen Kurzbart trägt.
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Tinitus
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Beitrag von Tinitus »

Hallo Uli,

auch von mir herzlichen Dank für diese Beiträge, wie die Angelsachsen sagen "food for thought",

Lieben Gruß

Uwe
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