Wolfgang Rihm - Gesungene Zeit (Klassik)

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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realperfekt
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Wolfgang Rihm - Gesungene Zeit (Klassik)

Beitrag von realperfekt »

„... den Faden spinnen, bis er ausgesponnen ...“
(Richard Wagner in einem Brief an Franz Liszt)

Gesungene Zeit ist Wolfgang Rihms zweite Musik für Violine und Orchester (27 Spieler). Er hat das circa 25minütige Stück 1991/92 komponiert und es Anne-Sophie Mutter gewidmet. Die Komposition ist Ausdruck seines Versuchs, in einen sich selbst perpetuierenden musikalischen Fluss zu kommen, sich ganz dem Strömen des Melos zu überantworten. So erscheint die Musik wie aus einem Guss und strömt, bis sie an ihrem natürlichen Ende angelangt ist, bis der Faden „ausgesponnen“ ist.

Violine und Orchester agieren in diesem Stück nicht separat, sondern sind Bestandteil desselben Flusses und untrennbar miteinander verbunden. „Eigentlich ist dies einstimmige Musik. Und immer Gesang, auch dort, wo Schlag und Puls den Atem kurz fassen, ihn bedrängen“ (Rihm, 397). So geht Rihm bei der Behandlung der Geigenstimme ganz von der Gesanglichkeit des Instruments aus, die musikalische Linie ist „gesungen, also nicht ’gespielt’“ (Rihm, 396). Das Orchester hingegen liefert die Farbigkeit des Musikstroms – mal in zartem Farbauftrag, mal dick gespachtelt - und setzt immer wieder Interpunktionszeichen, von leichten Akzenten bis hin zu energetischen Klanghieben.

In Gesungene Zeit ist sowohl Ferruccio Busonis Ideal einer freien, nur ihrer Eigengesetzlichkeit verpflichteten Tonkunst präsent als auch Ernst Kurths energetisches Modell. So kann das allumfassende Melos als eine energetische Linie aufgefasst werden, bei der die kinetische Energie eines Tons den jeweils nächsten generiert. Es sind nicht die einzelnen Töne, die die Musik ausmachen, sondern die Spannungsverhältnisse, die zwischen ihnen wirken.

Johannes Voit

Als CD der Deutschen Grammophon erhältlich unter:

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Violinkonzert / Gesungene Zeit

von Anne-Sophie Mutter (Künstler), James Levine (Künstler), Cso (Künstler), Alban Berg (Komponist), Wolfgang Rihm (Komponist)


... und für alle, denen Essen am 26.10. nicht zu weit ist:
http://www.kulturkurier.de/veranstaltung_145892.html

soviel aus bayrischer Sicht
Peter
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Peter,

die CD besitze ich! Ich bin überrascht und höchst erfreut, daß es heute noch kluge Menschen gibt, für die Ernst Kurth ein Begriff ist! Ich habe mich ausführlich mit seiner formdynamischen Analyse beschäftigt! Die Verbindung zwischen Kurths dynamischer Betrachtung und der Neuen Musik habe ich hergestellt in meinem Aufsatz "Decomposition of the Sound Continuum", der in Perspectives of New Music, Washington D.C. erschienen ist. Dort versuche ich Adorno zu korrigieren, der behauptet, daß die Neue Musik die Musik entdynamisiert bzw. keine originäre dynamische Entwicklung kennt.

Ein sehr schöner Kommentar von Johannes Voit, der hoffentlich hier einige Menschen dazu anregt, ihre Berührungsängste vor diese Musik zu verlieren! :D

Beste Grüße
Holger
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