Anne-Sophie Mutter - Bach Meets Gubaidulina (Klassik)

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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JOE
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Anne-Sophie Mutter - Bach Meets Gubaidulina (Klassik)

Beitrag von JOE »

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Schon die - soeben bei DG (477 7948) herausgekommene - Interpretation A.-S. Mutters von J. S. Bachs beiden Violinkonzerten (BWV 1041 und 1042) lohnte die Anschaffung (London Symphony Orchestra unter der Leitung von V. Gergiev); es ist aber die Entdeckung des Werkes In tempus praesens von Sofia Gubaidulina (* 1931) aus dem Jahre 2006/07, die mich zu dieser Empfehlung veranlasst.

Ich hebe hier nur einen Aspekt besonders hervor: den Kontrast und die sich damit ergebende besondere Dialogqualität zwischen Solistin und Orchester, die dadurch entsteht, dass in der Orchesterbesetzung die Violinen fehlen; dadurch dieser Part allein der Violine Mutters vorbehalten bleibt.

Meine Frau und ich haben nach Verklingen des letzten Tons noch minutenlang schweigend dagesessen - und hätten am liebsten das für den Abend anstehende Klassikkonzert sausen lassen, weil so viel intensives Musikerleben völlig für einen Tag reicht.

Ich möchte aber noch zwei kleine Hinweise geben: Zum einen ist es wohl besser, sich die beiden Komponisten nicht direkt hintereinander anzuhören; zum anderen ist zeitgenössische klassische Musik nach unserer regelmäßigen Konzerterfahrung (leider) nicht Sache jeden Klassikliebhabers.

Der sichere Türöffner "Mutter + Bach" ist m. E. aber ein legitimes Mittel, zu einer so herausragenden wie einem breiteren Publikum nicht so bekannten Komponistin S. Gubaidulina hinzuführen, wenngleich so mancher Käufer mit dem modernen Werk nicht so viel wird anfangen können; doch das ist nicht problematisch, wenn dafür eine so aufregende neue Erfahrung gemacht werden kann, die sonst vielen möglicherweise entgangen wäre.

Schön auch, dass mit der "Limited Deluxe Edition" eine adäquate Präsentation angeboten wird, die ich also ebenfalls empfehlen kann.

Gruß
Joe
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Joe,

das Gubaudulina-Konzert finde ich auch ungemein beeindruckend, das muß man sich wirklich mehrfach anhören! Schlüssel zum Verständnis in einer ersten Annäherung sind für mich die Wiederholungsstrukturen: Violine alleine und im Ensemble, von ihm geradezu bedrängt und umstellt (das Individuum und die Welt), die wiederkehrenden Schläge des Tamtams (Tod) und die Apotheose des Tamtams am Schluß (Tod und Verklärung)

Mit Mutters Interpretation des Bach habe ich so meine Schwierigkeiten. Der Protestant J.S. Bach gespielt mit überfeinerter Fin de siecle Sinnlichkeit, sozusagen als Decadent, das ist für mich schwer erträglich!

Beste Grüße
Holger
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JOE
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Beitrag von JOE »

Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:Mit Mutters Interpretation des Bach habe ich so meine Schwierigkeiten. Der Protestant J.S. Bach gespielt mit überfeinerter Fin de siecle Sinnlichkeit, sozusagen als Decadent, das ist für mich schwer erträglich!
Holger, klar, bei meiner Empfehlung ging es mir vor allem um die Komposition der Gubaidulina.

Bei den Bach-Interpretationen spielte für mich nicht nur eine Rolle, dass ich Agnostiker bin, und der bei Bach ja immer gegebene religiöse Aspekt von mir lediglich mitgedacht, aber nicht mit entsprechendem Gefühl begleitet wird; sondern ich die temperamentvolle Dynamik schätzen konnte, die auf andere Weise mir eine besondere Intensität vermitteln konnte. Dieses Temperament habe ich so stark empfunden, dass sich mir kein Eindruck von "Dekadenz" einstellte. Ich denke, ich kann nachvollziehen, dass es Dir - anders - geht.

(Ist anekdotisch interessant, dass das auch vom Timing so perfekt zu dem passt, was ich gerade zu "Wie uns das Ohr übers Ohr haut" angemerkt habe.)

Gruß
Joe
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Joe,

die Violinkonzerte gehören ja eigentlich zu Bachs weltlichen Kompositionen - damals trennte man ja strikt zwischen geistlich-weltlich. In der Romantik hat sich das dann bekanntlich geändert durch die Idee der Kunstreligion, da bekommen auch die weltlichen Kompositionen einen religiös-metaphysischen Sinn (weswegen man deshalb auch Messen von Haydn, Mozart, Bruckner usw. im Konzertsaal aufführt!). Mit der Kombination habe ich weniger Probleme, warum soll man nicht weltlichen Bach mit der religiösen Komposition von Gubaidulina zusammenbringen? Die Frische gefällt mir bei Mutters Bach ebenfalls (auch das Orchester ist sehr gut!), auch gibt es durchaus Bezüge von Bach zur Spätromantik, wenn man an die Chromatik denkt (die Linie Bach, Wagner, Liszt, Busoni), aber eigentlich nicht in den Violinkonzerten - das ist letztlich eine Frage des Stilempfindens des Interpreten! Mir ist diese Phrasierung von ihr zu affektiert, zu wenig innerlich. Ein bischen mehr Schlichtheit wäre für meinen Geschmack angemessen gewesen! Aber solche Diskussionen machen letztlich das Schöne an der klassischen Musik aus - das Abenteuer Interpretation! :lol:

Beste Grüße
Holger
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JOE
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Beitrag von JOE »

Dr. Holger Kaletha hat geschrieben:... die Violinkonzerte gehören ja eigentlich zu Bachs weltlichen Kompositionen - damals trennte man ja strikt zwischen geistlich-weltlich. (...) Mir ist diese Phrasierung von ihr zu affektiert, zu wenig >innerlich<. Ein bischen mehr Schlichtheit wäre für meinen Geschmack angemessen gewesen!
Das stimmt schon, Holger; was ich meinte, war, dass Bach m. W. von seiner Religiosität, seinem Protestantismus so durchdrungen war, dass das auf sein gesamtes musikalisches Schaffen ausgestrahlt hat.

Insofern kann ich gut damit was anfangen, wie Du die Phrasierung aus Deiner Sicht kritisierst. Für mich steht das Ganze eben in einem anderen subjektiven Kontext.

Die Kombination war mir nur insofern ein Problem, als ich neben dem Gubaidulina-Opus "Raum brauchte", um es in mir ausreichend (nach)wirken zu lassen. Deshalb hätte ich das Abendkonzert auch lieber an einem anderen Tag gehabt.

Schade, dass schriftliche Kommunikation gegenüber der direkten verbalen doch so schwerfällig ist; denn es ist bereichernd durch den anderen neue Facetten vorgestellt zu bekommen.

Danke
Joe
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

JOE hat geschrieben:Schade, dass schriftliche Kommunikation gegenüber der direkten verbalen doch so schwerfällig ist; denn es ist bereichernd durch den anderen neue Facetten vorgestellt zu bekommen.
So ist es leider! Aber es kann bei anderer Gelegenheit ja vielleicht lockerer werden! :cheers:

Beste Grüße
Holger
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