Bach - Violinkonzerte (Giuliano Carmignola & Concerto Köln)

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Antworten
Rudolf
Webmaster
Beiträge: 4944
Registriert: 25.12.2007, 08:59
Wohnort: Bergisch Gladbach

Bach - Violinkonzerte (Giuliano Carmignola & Concerto Köln)

Beitrag von Rudolf »

Liebe Freunde des gepflegten Barock,

Bachs Violinkonzerte sind schon fast ein Gassenhauer, aber was sie dann doch davon unterscheidet, ist dass sie sich einfach nicht abnutzen. Ich entdecke immer wieder eine neue Nuance, der ich dann gerne bs zum Ende folge. Das trifft in meinen Ohren auf Bach ganz allgemein zu.

Nun hatte ich gestern die Gelegenheit, Giuliano Carmignola und das Barockensemble Concerto Köln in der Kölner Philharmonie erleben zu dürfen, wo sie die erst kürzlich gemeinsam aufgenommenen Violinkonzerte von Bach darboten. Ich war sehr gespannt, zumal Carmignola der Ruf vorausgeht, Bach "italienisch" zu interpretieren. (In diesem Zusammenhang verweise ich gerne nochmals auf die von mir so hoch geschätzten "Concerts avec plusieurs instruments" des Café Zimmermann.)

Wie nun war's?

Das Concerto Köln bildet einen bestens eingespielten Klangkörper mit einem satten "Sound". Die ohne Beteiligung von Carmignola gespielten Stücke von Avison, dall'Abaco und Durante mit Mayumi Hirasaki als erster Violinistin haben mir sehr gut gefallen und trafen exakt meinen Geschmack von einer schnörkelosen Interpretation.

Dann kam der Auftritt des Meisters, der mich etwas zwiegespalten zurück lässt. Ich habe mehrere CDs von Carmignola mit Vivaldi Interpretationen, die mir außerordentlich gut gefallen. Dementsprechend war meine Erwartungshaltung sehr hoch. Zunächst aber war ich irritiert, wie wenig sich der Klang von Carmingnolas Violine gegenüber dem Orchester abheben konnte, war dies doch zuvor Hirasaki spielend gelungen. Carmingnolas Violine klang dagegen vergleichsweise dumpf. Dazu kam das fast Flamenco-hafte Aufstampfen, mit dem der Meister regelmäßig seine Tempowechsel einleitete. Auch ansonsten wirkte Carmignoli etwas zerfahren und fegte gleich zweimal seine Notenblätter vom Ständer, so dass er sein Spiel unterbrechen musste. Seine Interpretation der Violinkonzerte hat mir trotzdem sehr gut gefallen und ich bin mir fast sicher, dass ich von seiner CD begeistert sein werde.

Bild

Hat sie vielleicht schon jemand von euch gehört?

Viele Grüße
Rudolf
Bild
Bernd Peter
Aktiver Hörer
Beiträge: 4005
Registriert: 04.05.2010, 19:37

Beitrag von Bernd Peter »

Hallo Rudolf,
Dazu kam das fast Flamenco-hafte Aufstampfen, mit dem der Meister regelmäßig seine Tempowechsel einleitete.
diese Art von Ausdruck ist uns Deutschen schon sehr befremdlich, aber wenn man sieht, wie die Südländer mit ihren Händen reden, hat es auch schon wieder etwas geradliniges.

Carmignola kenne ich von Vivaldi her, wo er für mich die 4 Jahreszeiten - nicht in deutscher Perfektion (Mutter/Karajan), englischem Barockstil (Pinnok) oder recht wild (Il Giardino Armonico) - sehr authentisch interpretiert.

In diesem tieferen Empfinden für seinen Landsmann Vivaldi sehe ich natürliche Ursachen: wie das Land, so die Leute.

Wie ihm das beim "deutschen" Bach gelingt, interessiert mich auf Grund deines Berichtes nun auch.

Schaun mer mol.

Gruß

Bernd Peter
Bild
Vittorio
Aktiver Hörer
Beiträge: 349
Registriert: 11.01.2011, 00:27
Wohnort: Hamburg

Beitrag von Vittorio »

Hallo zusammen,
Rudolf hat geschrieben:Bild

Hat sie vielleicht schon jemand von euch gehört?
nun bin ich auch in den Genuss der Carmignolas Interpretation gekommen! Danke, Rudolf, fürs Erwähnen, sonst würde die Scheibe an mir, nicht unbedingt ein Barockhörer, unbemerkt vorbei latschen.

So einen sonnigen, lockeren Bach ist man nicht gewohnt, hört man aber sehr gerne. Auch die Aufnahme überzeugt mich vollkommen — extrem präsent gemastert, aber nicht erdrückend, mit einem großen Farbreichtum.

http://www.prestoclassical.co.uk/r/DG%2 ... 695#listen

Besten Gruß
Vittorio
Bild
Hans-Martin
Aktiver Hörer
Beiträge: 9152
Registriert: 14.06.2009, 15:45

Beitrag von Hans-Martin »

Hallo Ulli
zur Oberwellenmaschine wird das Insrtument doch erst richtig, wenn das Mikrofon zu nah am Instrument positioniert ist, und das Einzelinstrument dann noch zwischen 2 Stereolautsprechern zerrissen wird, wo die Grundtöne an anderer Stelle lokalisiert werden als die Obertöne. Und dann sind die meisten Klassikaufnahmen obendrein noch invertiert, was die Hörangelegenheit noch unnatürlicher macht.
Es gibt gewisse, wenn auch begrenzte technische Gegenmittel gegen 2 der 3 Aspekte, aber wenn der Aufnahmeleiter das Mikrofon zur Erzielung eines optimalen Rauschabstandes sehr nah am Instrument platziert, bekommt man eben auch den Nahbereichsklang des Instruments. Dafür hat der Instrumentenbauer das Instrument aber sicher nicht konstruiert.
Grüße Hans-Martin
Bild
Vittorio
Aktiver Hörer
Beiträge: 349
Registriert: 11.01.2011, 00:27
Wohnort: Hamburg

Beitrag von Vittorio »

modmix hat geschrieben:Tja, so verschieden sind die Geschmäcker...
Habe gleich die 4824-Aufnahme gekauft... ein Fehler...
Carmignola habe ich erst kürzlich live gehört - da hat er ganz sicher ein anderes Instrument gespielt - eine Geige und nicht so eine Oberwellenmaschine...
Und der Klangbrei, vor dem der Star hier herausgehoben spielt, fehlte bei der Aufführung auch - da gab es ein schön durchgezeichnet spielendes Orchester ,-)
Es tut mir schrecklich leid, lieber Ulli! Soll ich eine Flasche Wein auf den Weg bringen, um Dein Klangeindruck zu mildern? ,-)

Aber im Ernst, wenn man eine Violine wirklich genießen will, kauft man so eine Aufnahme natürlich nicht. Da sind unsere Geschmäcker wahrscheinlich ähnlich. Ebenfalls wäre es falsch, eine Live-Anmutung zu erwarten. Das fällt aber beim Probehören sofort auf. Hier geht es um eine Interpretation, die mich angesprochen hat und diese Produktion bringt es wunderbar rüber, inkl. Klangdarstellung. Da bleibe ich bei meiner Meinung, die mir meine Anlage verschafft.

Jede Musikanlage geht mit so einer "extrem präsenten Aufnahme" anderes um. Dafür gibt es allein in unserem Forum 1369 Meinungen. Tendenziell existiert aber zwei Richtungen (unabhängig vom investierten Geld): eine — setzt Akzente auf den Klang, die andere dagegen — auf die Musik. Wenn man weißt, auf welcher Seite man steht, kann man dementsprechend sein Musikwall ziemlich genau treffen.

In der Zukunft werde ich mit den Klangbeschreibungen etwas vorsichtiger umgehen, versprochen und jetzt gehe ich lieber mein Klangbrei genießen. ,-)

Musikalische Grüße
Vittorio
Bild
Vittorio
Aktiver Hörer
Beiträge: 349
Registriert: 11.01.2011, 00:27
Wohnort: Hamburg

Beitrag von Vittorio »

modmix hat geschrieben:Trink bitte ein Glas für mich mit :cheers:
Das mache ich gern! ... bin gerade dabei. :cheers:

Herzliche Grüße
Vittorio
Bild
Hans-Martin
Aktiver Hörer
Beiträge: 9152
Registriert: 14.06.2009, 15:45

Beitrag von Hans-Martin »

Vittorio, für mich bitte auch. Ich habe noch den schönen Abend bei dir in Erinnerung.

Gut gespielt ist für mich auch wichtiger, und wenn die Aufnahme schlecht ist, hilft mir meist, aus dem Nebenzimmer abhören, gelegentlich bei Soloinstrumenten auf Mono mit einem Lautsprecher.

Der ganze Hype um HighResolution (24Bit, ggf. 96 oder 192kHz) bleibt bei mir aber hinter der korrekten Polarität und einer guten Aufnahmesituation zurück, zumindest bei Stereo. Beim Abhören mit einem Lautsprecher ist das invertierte Signal lostgelöster als bei korrekter/positiver Polarität.
Ich habe andere Carmignola Aufnahmen als die oben zitierte, deshalb enthalte ich mich einer Bewertung.
Aber was ich bisher von ihm gehört habe, hat mich sehr bewegt und nachhaltig beeindruckt.
Grüße an alle Streithähne und Weintrinker
Hans-Martin
Bild
Hans-Martin
Aktiver Hörer
Beiträge: 9152
Registriert: 14.06.2009, 15:45

Beitrag von Hans-Martin »

Rudolf hat geschrieben:Das Concerto Köln bildet einen bestens eingespielten Klangkörper mit einem satten "Sound".
Dieser Live-Eindruck macht Lust auf mehr, aber dem stehen beim genannten Tonträger diese Empfindungen entgegen:
Vittorio hat geschrieben:extrem präsent gemastert, aber nicht erdrückend, mit einem großen Farbreichtum.
modmix hat geschrieben:so eine Oberwellenmaschine...
Und der Klangbrei, vor dem der Star hier herausgehoben spielt
Ich fürchte, ohne Equalizer-Einsatz bleibt die Aufnahme übertransprarent, zu hell, zu schlank im Bass, ich bin geneigt, sie gläsern zu nennen. Alles kommt sehr nach vorn. Da hat mMn entweder das Mastering versagt oder folgt einem abstrusen Klangideal fernab des Live-Eindrucks.

Meine Carmignola Einspielung mit Locatelli L'Arte Del Violino

Bild

tönt hingegen warm und räumlich zugleich. Da macht das Hören Spaß. Vielleicht gelingt es mir, anhand einer Spektralanalyse beider Aufnahme auch die ArchivProduktion nachträglich auf eine ähnliche Klangbalance zu trimmen. Die Unterschiede oberhalb 1kHz sind schon beachlich, größer als 3dB. Unterhalb 40Hz ist bei der Archiv Produktion bei -70dB alles sauber wegrasiert, bei der Locatelli-Einspielung sind untenrum noch Nebengeräusche.

Ich werde alle am Thread beteiligten auf dem Laufenden halten... ;-)

Grüße Hans-Martin
Bild
Melomane
Aktiver Hörer
Beiträge: 3134
Registriert: 14.10.2011, 18:30

Beitrag von Melomane »

Hallo,

überpräsent, gläsern: Das ist ja wohl in der Tat eine Frage von "Frequenzverteilung". Aber
Klangbrei: Da hat wohl jemand bei der Aufnahme (ich vermute Live? ) die Mikrophone ungünstig positioniert. Oder tatsächlich einem Klangbild von Liveaufnahmen der Mitte des letzten Jahrhunderts nachgetrauert.

Bin gespannt, was du daraus machst, Hans-Martin. ;)

Gruß

Jochen
Bild
Melomane
Aktiver Hörer
Beiträge: 3134
Registriert: 14.10.2011, 18:30

Beitrag von Melomane »

Hm, was soll ich sagen? Ich glaube/fürchte, dass die Abmischung für mediokre Anlagen und Ohren wie meine ausgelegt ist. Ich höre im Moment per Quobuz-Stream die in Beitrag #1 angesprochene Aufnahme (allerdings nur mp3). Gut, man kann nicht jedem Instrumentalisten auf die Finger sehen, aber unter Klangbrei hätte ich mir schlimmere Sünden vorgestellt (so etwa K-Tel auf alten Platten). Und der Bass ist hier vor Ort auch nicht unterrepräsentiert, wenn auch schlank im Sinne moderner Aufführungspraxis und nicht romantisch fett.

Vielleicht ist ja in diesem Fall weniger (Highend-Anlage) mehr?

Gruß

Jochen
Bild
Melomane
Aktiver Hörer
Beiträge: 3134
Registriert: 14.10.2011, 18:30

Beitrag von Melomane »

Nachtrag: Für mich klingt die Produktion wie der in die Gegenwart übernommene DGG-Klang vieler alter Schallplatten dieser Firma: relativ hell, nicht der fette Klang von z.B. von Decca, auch nicht auf völlige Transparenz des Orchesterklangs ausgelegt. So gesehen bin ich fast ein wenig erstaunt, dass dieses Klangbild in der Zeit ausgelagerter Aufnahmeteams noch anzutreffen ist. Zusätzlich gibt es hier noch eine gewisse Sprödigkeit, die vermutlich dem derzeitigen Interpretationsideal für alte Musik geschuldet ist.

Vielleicht ist aber auch alles nur Zufall. ;)

Disclaimer: Meine Ohren und Anlage.
Bild
Antworten