J.S. Bach - Goldberg-Variationen

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
zatopek
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J.S. Bach - Goldberg-Variationen

Beitrag von zatopek »

Hallo Gert,

ich mache mal ein eigenes Thema darüber auf:
Fortepianus hat geschrieben:Du nennest ziemlich zu Beginn die Goldbergvariationen von Bach - da sollte man vielleicht die legendären beiden Einspielungen von Glenn Gould erwähnen. Vor allem nach der zweiten (1980 glaube ich) hat sich ungefähr 20 Jahre keiner mehr so richtig da dran getraut. Für mich ist die von Dir genannte Einspielung von Perahia die erste, die neben Goulds Vermächtnis bestehen kann. Ja, Vermächtnis, diese Aufnahme ist für mich so etwas wie die Quintessenz von Goulds Schaffen. Es ist aber, finde ich zumindest, nicht gerade in die Rubrik "leichte Kost" einzuordnen, was die Nennung am Anfang Deiner sehr schönen Liste suggeriert. Aber dieses Opus kann, trotz seiner Komplexität, durchaus geeignet sein, den einen oder anderen an diese Art Musik heran zu führen. Das ist wunderbar an Bachs Musik: Sie eröffnet, egal, wie tief Du Dich damit beschäftigt hast, immer neue Perspektiven, verschließt sich aber auch nicht dem völligen Laien. Unabhängig vom musikalischen Inhalt: Ich habe die 2. Einspielung der Goldbergvariationen von Gould das erste Mal Anfang der 80er über einen Jecklin Float Kopfhörer gehört - und die damals noch völlig ungewohnte Dynamik der CD, die diese Aufnahme voll ausschöpft, hat mich umgehauen.
Zu Glenn Goulds Einspielung der Goldbergvariationen habe ich ein - zurückhaltend ausgedrückt - zwiespältiges Verhältnis. Die ersten Aufnahmen aus den 50ger Jahren, mit denen er ja berühmt wurde sind für mich eine Art "Micky-Mouse"-Bach: viel zu schnell, keine der von Bach vorgeschriebenen Wiederholungen werden ausgespielt. Für mich ein typischer Fall eines Virtuosen, der sich mit einem solchen Spiel bekannt machen will, nur auf Effekte angelegt. Er spielt nicht Bach, sondern benutzt das Werk, um sich selbst darzustelle. Das entspricht nicht meiner Auffassung über das Verhältnis zwischen Komposition und Interpretation. Ich finde, der Interpret sollte sich zurücknehmen und die Musik wirken lassen. Ich geben gerne zu, dass man dieses Verhältnis mit guten Gründen auch anders sehen kann. Wie gesagt, Gould hatte mit seinen Aufnahmen ja auch in zweierlei Hinsicht Erfolg: zum einen wurde er bekannt, zum anderen - und dafür gebührt ihm Dank - wurde Bach, die Barock-Musik und speziell diese Komposition einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Reaktionen waren ja teilweise enthusiastisch.

Was die spätere Aufnahme aus den 80gern, kurz vor seinem Tod angeht, da rückt er von seiner früheren Auffassung radikal ab. Nun spielt er - immer noch hochvirtuos - die Stücke eher verhalten. Auch scheint er nun einen Sinn in den vom Komponisten vorgeschriebenen Wiederholungen zu sehen. Aber insgesamt find ich das Ednergebnis - auch wenn es wieder von vielen Kritikern begeistert aufgenommen wurde - eher mäßig. Gould nutzt die Möglichkeiten des Klaviers nicht aus. Er spielt es fast so, wie man eine Orgel spielt, also ohne große Variationen im Anschlag. Das Ganze wirkt auf mich eher ermüdend und langweilig.

Meine Ansicht über Glenn Gould hat sich auch geändert: früher war ich von ihm sehr begeistert. Ich kannte die Goldbergvariationen nur in seiner Einspielung. Aber erst nachdem ich solche Aufnahmen wie die auf dem Cembalo von Gustav Leonhard, oder auf dem Klavier von Perahia gehört habe, ging mir auf: hey, die müssen ja gar nicht so langweilig klingen, sondern können richtig spannend sein. Oder hör die mal die Einspielung von Angela Hewitt an: da passiert richtig viel, jede Variation bekommt ihren eigenen, unverkennbaren Charakter, erzählt praktisch eine Geschichte. Dann kann der Schluss, die Wiederholung der Aria, einem auch schon mal einen Schauer über den Rücken jagen. Und das, obwohl man einen Respekt des Künstlers vor der Komposition spürt. Da will sich niemand produzieren oder mit besonders ausgefallen Ideen auffallen.

Mittlerweile gehören die Variationen zu den Werken, von denen ich am meisten Einspielungen besitze und die ich - fast täglich, zumindest ein paar Stücke - höre.

Viele Grüße,

Bernd
Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Hallo Bernd,
zatopek hat geschrieben:Zu Glenn Goulds Einspielung der Goldbergvariationen habe ich ein - zurückhaltend ausgedrückt - zwiespältiges Verhältnis. Die ersten Aufnahmen aus den 50ger Jahren, mit denen er ja berühmt wurde sind für mich eine Art "Micky-Mouse"-Bach: viel zu schnell, keine der von Bach vorgeschriebenen Wiederholung werden ausgespielt. Für mich ein typischer Fall eines Virtuosen, der sich mit einem solchen Spiel bekannt machen will, nur auf Effekte angelegt. Er spielt nicht Bach, sondern benutzt das Werk, um sich selbst darzustelle. Das entspricht nicht meiner Auffassung über das Verhältnis zwischen Komposition und Interpretation. Ich finde, der Interpret sollte sich zurücknehmen und die Musik wirken lassen. Ich geben gerne zu, dass man dieses Verhältnis mit guten Gründen auch anders sehen kann. Wie gesagt, Gould hatte mit seinen Aufnahmen ja auch in zweierlei Hinsicht Erfolg: zum einen wurde er bekannt, zum anderen - und dafür gebührt ihm Dank - wurde Bach, die Barock-Musik und speziell diese Komposition einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Reaktionen waren ja teilweise enthusiastisch.
ja, Gould stellt sich vor Bach statt hinter, sehe ich auch so. Ich war, als ich Anfang 20 war, ein großer Bewunderer Goulds, was sich auch bei mir im Lauf der Jahre relativiert hat.
Was die spätere Aufnahme aus den 80gern, kurz vor seinem Tod angeht, da rückt er von seiner früheren Auffassung radikal ab. Nun spielt er - immer noch hochvirtuos - die Stücke eher verhalten. Auch scheint er nun einen Sinn in den vom Komponisten vorgeschriebenen Wiederholungen zu sehen. Aber insgesamt find ich das Ednergebnis - auch wenn es wieder von vielen Kritikern begeistert aufgenommen wurde - eher mäßig. Gould nutzt die Möglichkeiten des Klaviers nicht aus. Er spielt es fast so, wie man eine Orgel spielt, also ohne große Variationen im Anschlag. Das Ganze wirkt auf mich eher ermüdend und langweilig.
Ganz verkürzt ausgedrückt spielt er den möglichen Klangfarbenreichtum eines modernen Flügels deshalb nicht aus, weil das nach seiner Meinung völlig belanglos für die ungeheure musikalische Struktur dieser Musik ist. Die aber arbeitet er oft grandios heraus. Nimm z. B. gleich zu Beginn die Aria. Im zweiten Teil zweite Hälfte fängt doch plötzlich die Rechte an zu fließen, in Sechzenteln, untermalt von den steten Achteln der Linken. Hast Du je eine Einspielung gehört, die ab dieser Stelle bis zum Schluss der Aria darüber einen derart zwingenden Bogen gezogen hat? Es ist die Einführung in das, was das kommen wird. Du wirst an die Hand genommen und weißt, dass Du nicht mehr loslassen willst. Er elektrisiert. Und das schafft er für mich erst in seinen letzten Jahren. Eine seiner letzten Einspielungen ist die Sonate op. 5 von Richard Strauss. Dieses Frühwerk bringt er so zwingend auf den Punkt, das ist bestechend. Aber zurück zu den Goldbergvariationen. Wenn ich selbst die Aria spiele, kann ich nicht umhin, bei den laufenden Sechzenteln an Gould zu denken. Wobei das Geheimnis für den Bogen in der Linken liegt.
Mittlerweile gehören die Variationen zu den Werken, von denen ich am meisten Einspielungen besitze und die ich - fast täglich, zumindest ein paar Stücke - höre.
Ich habe gerade mal 6 verschiedene Einspielungen, gestehe ich. Wobei ich ein
Aber erst nachdem ich solche Aufnahmen wie die auf dem Cembalo von Gustav Leonhard...
Cembalo zwar als Techniker reizvoll finde, weil es kaum ein Istrument gibt, das die Feindynamik eines Hochtöners mehr fordert, als Pianist finde ich es aber eine Zumutung :mrgreen: . Die Möglichkeit, den Klang zu formen wie beim modernen Flügel gibt es hier schlicht nicht. Was einen andererseits dazu erziehen kann, die musikalische Struktur herauszuarbeiten - in diesem Sinne spielt Gould die Goldbergvariationen auf dem Cembalo, oder, wie Du sagst, auf der Orgel, die zumindest durch ihre Vielzahl an Registern diverse - von Variation zu Variation - schaltbare Farben- und Dynamikabstufungen beherrscht.

Gould hat Bach zwar verehrt, im Grunde aber dennoch versucht, sich über ihn hinwegzusetzen. Diese völlig fehlende Demut z. B. eines Alfred Brendels den Komponisten gegenüber macht ihn zwar interessant, aber genau das ist im Grunde sein Handicap. Er versucht nicht, dem Werk auf den Grund zu kommen, sondern sich.

Viele Grüße
Gert
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zatopek
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Beitrag von zatopek »

Hallo Gerd,
Fortepianus hat geschrieben:... Nimm z. B. gleich zu Beginn die Aria. Im zweiten Teil zweite Hälfte fängt doch plötzlich die Rechte an zu fließen, in Sechzenteln, untermalt von den steten Achteln der Linken. Hast Du je eine Einspielung gehört, die ab dieser Stelle bis zum Schluss der Aria darüber einen derart zwingenden Bogen gezogen hat? Es ist die Einführung in das, was das kommen wird. Du wirst an die Hand genommen und weißt, dass Du nicht mehr loslassen willst. Er elektrisiert. Und das schafft er für mich erst in seinen letzten Jahren. Eine seiner letzten Einspielungen ist die Sonate op. 5 von Richard Strauss. Dieses Frühwerk bringt er so zwingend auf den Punkt, das ist bestechend. Aber zurück zu den Goldbergvariationen. Wenn ich selbst die Aria spiele, kann ich nicht umhin, bei den laufenden Sechzenteln an Gould zu denken. Wobei das Geheimnis für den Bogen in der Linken liegt.
Jetzt muss ich mich outen: ich kann weder Klavierspielen, noch Notenlesen. :oops:

Aber: wenn wir dieselbe Stelle meinen, so hast du einen Schlüsselstelle des Werkes erwähnt. Ich sehe es ebenso, dass diese Passage wirklich "zwingend" gespielt werden muss. Obwohl die Wiederholungen dazu verleiten, das Tempo und den Anschlag variieren zu wollen, halte ich das für falsch. Hier ist wirklich ein staccato angebracht, ein in einem einheitlichen Tempo durchgehendes Spiel.

Nun habe ich die Aufnahme von Gould jetzt nicht im Ohr, meine aber, dass er an dieser Stelle das Tempo variiert, wie einige andere auch. Perahia dagegen spielt - obwohl es eigentlich gegen seinen sonst sehr beschwingten, sanglichen Stil geht - hier absolut präzise, gleichbleibend, fast "mechanisch" und das ist richtig so. Im Gegenteil: gerade weil er vorher so bewegt spielt, wirkt der Kontrast zu dem nun sehr einheitlichen Tempo um so besser. Aber - wie gesagt - ich müßte mir die Aufnahmen wirklich noch einmal anhören.

Übrigens ist das der einzige Makel, den ich an Perahias Aufnahme finden kann: in der Reprise der Aria wiederholt er diese Stelle nicht, obwohl das wohl so vorgesehen ist.
Fortepianus hat geschrieben:...Die Möglichkeit, den Klang zu formen wie beim modernen Flügel gibt es hier schlicht nicht. ..
Sagen wir mal so: es gibt andere Möglichkeiten. Tempovariationen z.B. und - ganz wesentlich - Cembalisten können selbst kleinere Verzierungen und improvisierte Variationen einbauen. Und das wäre auch wieder vollkommen legitim, weil im Barock solche interpretatorischen Freiheit schon fast zwingend waren. Komponisten wie Bach, Händel, selbst Mozart haben dem Musiker längst nich so genaue Vorgaben gemacht, wie dies seit Beethoven und in der Romantik dann üblich wurde.
Fortepianus hat geschrieben:Gould hat Bach zwar verehrt, im Grunde aber dennoch versucht, sich über ihn hinwegzusetzen. Diese völlig fehlende Demut z. B. eines Alfred Brendels den Komponisten gegenüber macht ihn zwar interessant, aber genau das ist im Grunde sein Handicap. Er versucht nicht, dem Werk auf den Grund zu kommen, sondern sich.
:cheers:

Da gebe ich dir vollkommen Recht ! Ich habe kein Problem damit, wenn jemand sagt, ihm gefalle die Art, wie Gould spielt, solange er sich bewußt ist, dass das mit Bach wenig zu tun hat. Ich selber mag sein Spielweise eben nicht.

Viele Grüße,

Bernd
zatopek
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Beitrag von zatopek »

Gerade eben habe ich eine Einspielung der Goldberg-Variationen gehört, die mir ausgesprochen gut gefallen hat

Zhu Xiao-Mei:

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Die chinesische Pianistin war mir bis dato völlig unbekannt. Sie stammt aus Shanghai, verließ 1979 China und lebt seit 1985 in Frankreich. Hier hat sie u.a. mit Alexandre Tharaud zusammengearbeitet. Ein paar - leider eher dürftige - Informationen findet man hier: [url]http://www.bach-cantatas.com/Bio/Xiao-Mei-Zhu.htm/url]. Sie hat auch eine Autobiographie geschrieben unter dem Titel "Von Mao zu Bach - Wie ich die Kulturrevolution überlebte".

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Sie spielt die Variationen sehr romantisch, mit viel Gefühl, verzichtet aber - leider - auf einige der Wiederholungen. Dafür gelingt ihr der Bogen von der Aria zur Aria da capo sehr schön. Ganz ausgezeichnet kann sie die polyphone Struktur der einzelnen Variationen vorstellen. Technisch scheint mir das alles absolut perfekt, auch die Aufnahmequalität ist hervorragend.

Eine ganz dicke Empfehlung !

Viele Grüße,

Bernd
analog+
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Beitrag von analog+ »

Ja, die Goldberg-Variationen...
Auch bei mir begann meine Klassikreise mit der 1955 er Einspielung von Glenn Gould.
Toll fand ich seinerzeit seine fast jazzige Art der Interpretation – so hatte ich Bach bis dato noch nie gehört, von Jaques Loussier und solchen Sachen mal abgesehen.
Später änderte sich das - relativ dazu gefällt mir die 82 er Einspielung auch viel besser, GG spielt hier fast kontemplativ. Und in der Tat: Immer spielt er sich selbst – aber welcher Musiker macht denn das nicht?
Übrigens verraten die Coverfotos der Platten viel über seine Interpretationen – die Bilder hat jemand sehr geschickt ausgewählt.

Einige Aufnahmen dieses grandiosen Werks Bachs könnte ich noch zum Hören empfehlen; steigt man mal tiefer in diese Musik ein, wird es eine lange Reise.
Da die Variationen natürlich für Cembalo oder Clavicord komponiert wurden, sollte man Aufnahmen auf diesem Instrument nicht ausklammern.
Und in der Tat ist das Cembalo der Härtetest für einen HiFi-Anlage.
Es klingt nämlich keineswegs dünn und eindimensional, es hat trotz des begrenzten Tonumfanges eine große Dynamik, es klingt nicht fahl und gläsern, es hat einen beeindruckenden Reichtum an Klangfarben. Und bietet die Wiedergabekette ein hohes Maß an Feindynamik (ich meine hier die „innere Dynamik“ der Tonbildung) beeindruckt die Nuanciertheit der Töne.
Das alles bleibt m.E. auch dann richtig, wenn manche alte Aufnahme (s.u.) mit dem heutigen Standard nicht mithalten kann

Über Wanda Landowska braucht man wohl wenig zu sagen, sie spielte sozusagen die Blaupause für die klassische Interpretation der Goldberg-Variationen am Cembalo ein. Nachdem sie 1911 einen „Wettkampf“ zwischen Cembalo und Klavier mit den Variationen gewonnen hatte - das Cembalo wurde damals gerade wieder entdeckt – erhielt sie in Berlin an der Hochschule für Musik eine Professur für dieses Instrument.
Auf RCA-Victor wurde Ende der Fünfziger eine Aufnahme von ihr aus dem Jahre 1933 neu veröffentlicht, trotz des Alters hörenswert!

Ihr Schüler Ralph Kirkpatrick spielte 1950 ebenfalls die Variationen, der Vergleich ist sehr reizvoll (Archiv-Produktion).

Die Schweizerin Christiane Jaccotet veröffentlichte 1965 ihre Interpretation dieses Werkes, ebenfalls auf dem Cembalo. Sehr beeindruckend ihre Musikalität, ihre Virtuosität und ihr ausgefeiltes Registerspiel (SMS-2531).

Eine Interpretation der am Flügel gespielten Variationen liebe ich sehr und möchte ich allen Liebhabern dieses Werkes ans Herz legen:
Die von Maria Tipo, aufgenommen 1986 im Pariser Salle Wagram.
Auch dazu sind tolle Worte überflüssig, nur soviel: Grandios! Anhören! (EMI –Pathe Marconi).
(-> „Fortepianus“ ?).


Viele Grüße
Roland
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Mit Bernd haben wir natürlich schon oft über Goulds Bach diskutiert! :D Wie immer man darüber denken will, die meisten - gerade auch die Pianistenkollegen - sind sich einig, daß sein Bach-Spiel einen ganz neuen Standard gesetzt hat. Selbst ein Vladimir Ashkenazy hat sich so geäußert. Bestreiten kann man wohl nicht, daß wohl kaum jemand ein so angeborenes Gespür für die polyphone Struktur von Bachs Musik hat. Das liegt auch an seiner Spieltechnik, die er vom Orgelspiel auf das Klavier übertragen hat: Er sitzt extrem tief am Instrument und seine Fingerunabhängigkeit ist erstaunlich. Gould ist ein "Exzentriker", klar! Aber sein Spiel hat eine geistige Dimension - gerägt vom Puritanismus - große Wahrhaftigkeit.

Bei Bach gebe ich immer zu bedenken: Der Notentext - man muß sich das wirklich ansehen! - enthält wirklich nichts außer den nackten Noten, keine Bögen, keine dynamischen Bezeichnungen, keine Akzente, keine Tempi! Rein gar nichts! Einem Interpreten beweisen zu wollen, daß er etwas eindeutig falsch macht, ist vom Notentext her also eigentlich gar nicht möglich. Zu Bachs Zeiten gab es eine lebendige Aufführungstradition. Jeder Spieler wußte, wie man das spielt. Deshalb hat man es nicht für nötig gehalten, solche Dinge zu notieren. Schon Czerny, der Beethoven-Schüler, der die Bach-Werke im 19. Jhd. herausgab, kannte diese Tradition nicht mehr. Das ist ein gewisses Dilemma. Wie man Bach "richtig" spielt ist deshalb nicht nur eine Interpretations-, sondern fast schon so etwas wie eine Weltanschauungsfrage. :D

Ich mag beide Aufnahmen der Goldbergvariationen: die alte hat einen ungeheuren "Zug". Die spätere - auf einem Yamaha-Flügel von Gould gespielt wegen der Mechanik, der Klang war ihm eher nebensächlich! - hat sicher mehr geistige Tiefe. Da Gould das Bach-Spiel dominiert - da würde ich Bernd recht geben - empfiehlt es sich wirklich, die Alternativen zu hören. Beispiel: Claudio Arrau. Unglaublich, wie er das Thema spielt! Da wirkt Gould im Vergleich ziemlich vage und oberflächlich.

Das mit den Wiederholungen ist so eine Sache. Selbst in der Musikwissenschaft herrscht ziemliche Verwirrung bis Ratlosigkeit über ihren Sinn. Ist das nur eine Konvention oder haben sie wirklich musikalische Bedeutung? Insofern bin ich da mit den Interpreten gnädig. Wenn schon die Wissenschaftler und Lehrer an den Hochschulen keine eindeutige Meinung haben, woran sollen sie sich also halten?

:cheers:

Beste Grüße
Holger
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Guenni
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Beitrag von Guenni »

schöner Beitrag hier; und in vielem kann ich beipflichten.
Gould mochte ich von Anfang an sehr. Wobei ich erst später die Faszination der alten Aufnahme verinnerlichte. Mich hat das Mitsummen Goulds und knartzen des Schemels nie gestört (zumal gute Boxen das wie das Rauschen auf anderen Platten auch räumlich vom eigentlichen Signal trennen)
Schön ist das so ein Leben ähnlich diesem Werk auch einen großen Bogen spannen kann.
Seine Karriere begann (natürlich gab es vorher auch schon andere Einspielungen aber mit diesem Zyklus trat er in die breite Öffentlichkeit) mit dieser Aufnahme und endete mit diesem Werk. Interessanterweise sind die Temporelationen der beiden Einspielungen ganz ähnlich - eben nur langsamer gewählt.

Ich habe glaube ich wegen der besonderen Liebe zu gerade diesem Stück bestimmt mehr als 15 verschiedene Interpretationen. Früher Arrau, Solomon, Gavrilov, Kempff etc .. natürlich auch Schnabel und und und...

was ich aber immer an Bachscher Musik faszinierend finde ist, dass man die auch auf dem Kamm blasen könnte und es bliebe immer noch perfekte Musik ohne große Inhaltliche Verschiebungen!
Habe hier Transkriptionen für Harfe, Cello, Guitarre, Accordeon, Orgel, Violine etc. pp. immer so das es zwar nicht an das "originale" herankommt aber doch so, dass man versteht welch überwältigendes Werk hier vor einem steht. - Dies alles in direktem Gegensatz zum Beispiel zu Beethovenschen Kompositionen.
(Mein absoluter Liebling den ich auch Tag und Nacht hören könnte. - Halt ein Bonner :lol: )
Alles so speziell für die Instrumente geschrieben (Klangfarben, Fingersätze etc) das eine Transkription den Inhalt verändert. (Schönes Beispiel ist das Violinkonzert Beethoven, dass er selbst als op. 61a für Klavier umschrieb - und selbst da ist inhaltlich eine extreme Verschiebung festzustellen.

Doch nun mal ein wenig weg von den Interpretationen.
Wenn ihr euch mal die Autographe zu Bachschen Kompositionen anschaut fällt doch sehr auf, dass zwar immer vorbildlich die Noten zu lesen sind, aber teilweise bei höherem Tempo Bach dazu neigt schneller die Notation voranzutreiben. (immernoch so leserlich dass es eigentlich keine Kopisten brauchte um Bachsche Partituren zu übertragen - entgegen einem Beethoven). Sodass man schon in etwa Temporelationen anhand der Notationsschrift ableiten kann. Zieht sich quasi mit natülich vorhandenen Ausnahmen durch das gesamte Bachsche Oevre. So gesehen sind Metronom-Angaben auch fast nicht nötig.
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B. Albert
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Beitrag von B. Albert »

Tach,

eine sehr interessante Aufnahme der Goldbergvariationen hat der junge amerikanische Pianist Dan Tepfer vorgelegt:

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Er verzichtet auf die Wiederholungen, hat dafür aber jeder Variationen eine eigene Improvisation an die Seite gestellt. Und die sind wirklich richtig gut.

Bei jpc.de gibt es Schnipsel:

http://www.jpc.de/jpcng/jazz/detail/-/a ... um/1377900

Und eine eigene Website hat er - natürlich - auch: http://dantepfer.com/

VG Bernd
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Siriuslux
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Beitrag von Siriuslux »

Liebe Mitforenten,

ich bin der Empfehlung von Gert und Bernd gefolgt und habe mir die Interpretation der Goldberg-Variationen von Murray Perahia geladen.
Ich hatte seither zwar lediglich die Gelegenheit, diese im Auto anzuhören, aber was soll ich sagen?
Die Interpretation ist einfach schön anzuhören, es macht richtig Spass und es geht einem das Herz auf dabei. Ganz anders ist die späte Interpretation von Glenn Gould, die ich sonst anhörte, bei dieser ist das Zuhören im Vergleich anstrengend.

Gruss, Jörg
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Sire
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Beitrag von Sire »

Hallo,

die Interpretation der Goldberg-Variationen von Murray Perahia hat durchaus was Mitreißendes. Ganz anders kommt diese Aufnahme daher:

http://www.discogs.com/Johann-Sebastian ... se/4099292

Rosalyn Tureck war schon 85 Jahre alt, als sie diese Interpretation eingespielt hat. Da hört man aber nicht. Zufällig habe ich diese Aufnahme vor einiger Zeit in unserer Stadtbibliothek entdeckt und seither gehört sie zu meinen bevorzugten Goldberg-Aufnahmen. Dezent eingespielt ohne langweilig zu werden. Da ich in klanglichen Beschreibungen eher ungeübt bin, erlaube ich mir eine treffende Kritik zu zitieren:
"Ihr Spiel gleicht der Quadratur des Kreises. Sie kann es fließen lassen, ohne die Genauigkeit der Notenwerte zu verfehlen. Sie schmiegt sich dem historischen Kontext an, ist aber zugleich ungeheuer modern. Sie ist intellektuell beherrscht, aber auch spontan. Bei Rosalyn Tureck funktionieren Dinge gleichzeitig, die man im Kopf nicht zusammenkriegt, und so ist es kein Wunder, dass gerade sie den kontrapunktischen Zauberer aus Eisenach für den modernen Konzert- und Plattenbetrieb zu neuem Leben erweckte." (klassikakzente.de)

Wer sich für das Notenwerk interessiert, der könnte vielleicht auch Gefallen an diesem Video finden:
https://youtu.be/15ezpwCHtJs (gespielt von Kimiko Ishizaka)

Viele Grüße

Klaus
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B. Albert
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Beitrag von B. Albert »

Tach zusammen,

eine sehr schöne neue Einspielung der Goldbergvariationen hat der französische Pianist Alexandre Tharaud vorgelegt.

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https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail ... um/8274406

Und das schöne ist, es gibt sie auch in Vinyl.

Vielleicht kennt die schon jemand ?

Hier gibt es die Aria bei Youtube:

https://youtu.be/pnKduXJA8XY

Die komplette Aufnahme wurde bei arte.tv ausgestrahlt, ist aber leider nicht mehr in der Mediathek verfügbar. Der CD-Ausgabe liegt sie als DVD bei.

VG Bernd
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Hironimus_23
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Beitrag von Hironimus_23 »

Pavel Kolesnikov - Goldberg Variations

Hallo Zusammen,

hier eine neue Interpretation von Bachs Goldberg-Variationen vom noch relativ jungen Pianisten Pavel Kolesnikov. Sie sind recht leise und sanft gespielt, was einen fast mystischen Charakter hat. Gefällt mir ausgesprochen gut.

Da ich das Album über die klassischen Streaminganbieter nicht hören konnte, habe ich gleich den Download in 192kHz/24bit bei hyperion-records gekauft. Ein Reinhören lohnt sich.

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Freundliche Grüße,
Hironimus
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RainerD
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Beitrag von RainerD »

Wunderbarer Thread, vielen Dank an Alle.
Lange war ich als Gould Head ein absoluter Liebhaber der späteren Aufnahme. Die 55er ist mir als zu schnell nicht verständlich.
Qobuz sei Dank habe ich mir nun einige der neuen Vorschläge hier in die Bibliothek geschoben.
Mit Perahia kann ich spontan wenig anfangen.
Zhu Xiao-Mei ist grandios! Wobei in Qobuz zwei Aufnahmen der GV angeboten sind. Die Sony Aufnahme aus 1990 ist wesentlich langsamer und diese trifft meinen Nerv exakt.
Das Buch habe ich auch gekauft und fast schon komplett verschlungen. Sehr empfehlenswert.

Beste Grüße,
Rainer
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

RainerD hat geschrieben: 05.04.2021, 15:37 Zhu Xiao-Mei ist grandios! Wobei in Qobuz zwei Aufnahmen der GV angeboten sind. Die Sony Aufnahme aus 1990 ist wesentlich langsamer und diese trifft meinen Nerv exakt.
Hallo Rainer

habe deinen Post erst jetzt gelesen - und sehe es bzgl. Xiao-Mei recht ähnlich. Wie Rosalyn Tureck hat auch sie sich ihr Leben lang immer wieder mit diesen Variationen beschäftigt. Die Sony-Aufnahme 1990 kenne ich nicht. Ich besitze die sog. "New Recording"-Ausgabe von 2016 vom Accentus-Label, auf dem sie einen Steinway D274 spielt. Auf mich wirkt ihre Interpretation wie ein tief-emotional nachempfundenes Spielen mit meditativen Zügen. Hier spielt sie auch alle Wiederholungen (was sie früher nicht gemacht hat). Wunderbar!
Auch gut fand ich ihre vorherige Aufnahme aus 2000 (Mirare-Label): Zen-artig meditativ, spannend, ruhig-fließend (leider mit einigem Rauschen versehen).

Anmerkung: wer sich "geführt" durch verschiedene Goldberg-Variationen leiten lassen will, hat in der aktuellen Ausgabe der "Blindverkostungen" des RBB dazu Gelegenheit: "https://www.rbb-online.de/content/rbb/r ... stung.html"

Viele Grüße
Jörg
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beltane
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Beitrag von beltane »

Hironimus_23 hat geschrieben: 03.04.2021, 17:52 Pavel Kolesnikov - Goldberg Variations

Hallo Zusammen,

hier eine neue Interpretation von Bachs Goldberg-Variationen vom noch relativ jungen Pianisten Pavel Kolesnikov. Sie sind recht leise und sanft gespielt, was einen fast mystischen Charakter hat. Gefällt mir ausgesprochen gut.

Da ich das Album über die klassischen Streaminganbieter nicht hören konnte, habe ich gleich den Download in 192kHz/24bit bei hyperion-records gekauft. Ein Reinhören lohnt sich.

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Freundliche Grüße,
Hironimus
Hallo Hironimus,

vielen Dank für diese Download Empfehlung. Habe ich mir vorhin gekauft und mit sehr viel Freude angehört.

Deine Beschreibung paßt sehr gut - ich finde, es handelt sich um eine sehr unaufgeregte Interpretation, die mit sehr viel Gefühl und Hingabe gespielt worden ist. Sie hebt sich damit von anderen Aufnahmen in meinen Augen ab.

Viele Grüße

Frank
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