Beethoven: Klaviersonaten 1-32

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
alcedo
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Beethoven: Klaviersonaten 1-32

Beitrag von alcedo »

Hallo, Klassikfreunde

nachdem ich in 2020 mein Projekt "Mozartopern im Vergleich" viewtopic.php?f=17&t=12413&p=197879&hil ... si#p197879 abgeschlossen habe und mir dies viele schöne Stunden bescherte, habe ich mir für 2021 eine neues Projekt auserkoren. Die Corona-Beschränkungen spielten dabei eine gewichtige Rolle, da ich wie viele von euch auch wesentlich mehr Zeit zu Hause verbringe als früher. Mein Vorhaben ist es, alle Klaviersonaten von Beethoven in chronologischer Reihenfolge im Vergleich zu hören.

Das hört sich für den Kenner wohl eher nach martialischem Ansinnen, spinnerter Idee oder akademischem Firlefanz an - und ist es wahrscheinlich auch :lol:
Darüber hinaus fasziniert mich aber diese Idee schon seit vielen Jahren, zumal ich dies bereits vor etwa 35 Jahren schon einmal unternommen habe: damals noch mit Partituren bewaffnet und mit Beckmesserchem Gedankengut unterwegs ;-) Und mit einer deutlich übersichtlicheren Plattenausstattung versehen als heute.

Nun will ich mich verstärkt auf mein Gehör und - ähnlich wie bei den Mozartopern - auf die Interpretationen an sich und was sie bei mir bewirken fokussieren. Begleiten wird mich - wie damals - das angeblich an Musikhochschulen meist "geklauteste" Buch: Joachim Kaisers leicht lesbare (und immer noch sehr lohnenswerte) Einführung "Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten".

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Die Idee wurde übrigens auch durch Gerts stimmungsvollen Bericht zu Igor Levits Neuaufnahme der Sonaten wieder angefacht.
viewtopic.php?f=17&t=11831&p=187415&hil ... te#p187415

Die Idee dahinter:
Nun, da unser Forum offenbar gerade noch einmal vom "Totenbett" gesprungen ist, lohnt sich vielleicht ein eigener Thread zu diesem Thema, in dem ihr eure bisherigen Hörerfahrungen, Ideen, Meinungen zu einzelnen Sonaten kundtun könnt. Auch wenn viele vielleicht nur die "Greatest Hits" der Sonaten (8,14,21 sowie 30-32) kennen, kann ich mir hier einen spannenden Austausch vorstellen. Schaun ma mal ...

PS: eine Entwarnung gleich zu Beginn - ich werde hier nicht über jede einzelne Klaviersonate lamentieren (ich will auch keine Habilitation schreiben ;-) ), sondern lediglich zu einer angeregten Diskussion anstacheln ... und ich würde mich über zahlreiche Empfehlungen hörenswerter Aufnahmen eurerseits sehr freuen :cheers:

Viele Grüße
Jörg
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Boxentroll
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Super!

Beitrag von Boxentroll »

Hallo Jörg,
find ich klasse und bin schon sehr gespannt auf Deine Einschätzungen.
Mit eigenen Empfehlungen halte ich mich erstmal zurück, es ist Dein Thema.
Viele Grüße
Christian
:cheers:
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Christian,

nein, es ist eben nicht "mein" Thema - also wartet bitte nicht ab und haltet euch nicht zurück ... :wink:

Ein Hinweis noch für Interessierte:
Boris Giltburg hat im Januar eine Gesamtaufnahme beim Label NAXOS gestartet. Diese Edition wird von einem Video-Projekt im Internet begleitet, in dem er bis Sylvester 2021 alle 32 Klaviersonaten https://beethoven32.com/ veröffentlicht. Gerade kam die Sonate Nr.26 (Les Adieux) heraus ...

Viele Grüße
Jörg
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Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Hallo Jörg,
alcedo hat geschrieben: 04.05.2021, 09:38 nein, es ist eben nicht "mein" Thema - also wartet bitte nicht ab und haltet euch nicht zurück ... :wink:
ok :cheers: .
alcedo hat geschrieben: 03.05.2021, 14:40 Begleiten wird mich - wie damals - das angeblich an Musikhochschulen meist "geklauteste" Buch: Joachim Kaisers leicht lesbare (und immer noch sehr lohnenswerte) Einführung "Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten".
In den 80ern habe ich mit einem Freund zusammen ebenfalls alle Beethovensonaten in verschiedenen Interpretationen durchgekaut, und wir hatten natürlich ebenfalls das Kaiser-Buch dabei. Es erschien allerdings 1975 und er hatte damals so manchen Interpreten, der Maßstäbe setzte, wie z. B. Alfred Brendel, gar nicht richtig auf dem Schirm, obwohl der auch 1975 schon außergewöhnlich gut Klavierspielen konnte.

Eine andere Lektüre haben wir damals noch benutzt: Beethovens Klaviermusik von Jürgen Uhde. Uhde versteht ganz erheblich mehr von der Musik als Kaiser. Uhde war Pianist und Musikprofessor, Kaiser Musikkritiker. Uhde erklärt nach meiner Meinung ganz hervorragend die Zusammenhänge und musikalischen Hintergründe in den Beethovensonaten. Als Student habe ich übrigens Jürgen Uhde einmal selbst in einem Gesprächskonzert die op. 110 und 111 erklären und spielen gehört, das müsste so um das Jahr 1984 herum gewesen sein.

Damals waren für mich herausragende Interpretationen der Beethovensonaten von Brendel und Pollini, und das hat für mich auch heute noch Gültigkeit. Von Arturo Bennetti Michelangeli habe ich außergewöhnliche Konzertmomente in Erinnerung (Nr. 12 As-Dur mit dem Trauermarsch). Igor Levit gefällt mir heute auch sehr gut, wobei mir sein musikalisches Verständnis mehr zusagt als sein politisches.

Ich bin auf Deine Reise durch diesen Kosmos gespannt! Für Pianisten ist es so eine Art "Neues Testament", das Alte Testament wäre in diesem Vergleich das Wohltemperierte Klavier.

Viele Grüße
Gert
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Fortepianus hat geschrieben: 04.05.2021, 11:28 Eine andere Lektüre haben wir damals noch benutzt: Beethovens Klaviermusik von Jürgen Uhde. Uhde versteht ganz erheblich mehr von der Musik als Kaiser. Uhde war Pianist und Musikprofessor, Kaiser Musikkritiker. Uhde erklärt nach meiner Meinung ganz hervorragend die Zusammenhänge und musikalischen Hintergründe in den Beethovensonaten.
Das hast du sicherlich recht, Gert.

Zumindest das Reclam-Buch von Uhde kenne ich auch - und die Bücher/ Aufsätze von Edwin Fischer, Andras Schiff oder Glenn Gould habe ich ebenfalls irgendwann einmal gelesen. Wie gesagt - diesmal will ich mich diesem "Neuen Testament" weniger von den Noten her als vielmehr "emotional" nähern. Was sagen mir die Sonaten noch in unserer heutigen Zeit? Was lösen sie bei mir aus? Und wie gelingt das dem Interpreten? Was ist an dieser oder jener Interpretation spannend oder anders? Solche Fragen beschäftigen mich ...

Bin auch gespannt, wo das hinführen wird ...

Viele Grüße
Jörg
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Horse Tea
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Beitrag von Horse Tea »

Hallo Jörg,,

auch meine Frau hat sich schön länger mit verschiedenen Interpretationen der Klaviersonaten von Beethoven beschäftigt. Sie macht das gerne im telefonischen Austausch mit einem älteren Herrn, den wir 2018 in einem Konzert der Berliner mit Bronfman getroffen hatten und dessen Traum einer Pianistenkarriere an einer Kriegsverletzung scheiterte. In dem Konzert hat Bronfman das 3. Klavierkonzert von LvB interpretiert. Da das hören bei Ihr schon eine Weile her ist, tröpfeln die Informationen bezüglich Favoriten im Moment noch etwas.

Brendel und Levit decken sich mit Gerts Erinnerung, neu ist Perahia. Bei Levit betont sie, dass erst die letzten vier Sonaten richtig gut gespielt sind. Ich werfe auch noch für Gelber und Trifonov den Hut in den Ring. Meine Frau wollte deren Interpretationen aber lieber noch einmal nachhören. Sie hat auch schon kurz! in den Giltburg (der Name war mir bis dato unbekannt) hineingehört und diese Interpretation auch für hörenswert begutachtet.

So weit von uns fürs erste.

Viele Grüße
Horst-Dieter
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Melomane
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Beitrag von Melomane »

Hallo,

neulich wurde in einer vergleichenden Besprechung der Sonaten die Ausgabe mit Wilhelm Backhaus sehr gelobt. Ich nehme an, es handelt sich um diese Neuauflage:

https://www.qobuz.com/de-de/album/beeth ... m5opsxck9a

Ob der Download verkostet wurde oder die CDs, habe ich nicht in Erinnerung. Und ich kenne die Einspielung auch nicht. Aber vielleicht mögt ihr, die ihr euch mit den Sonaten beschäftigt habt, etwas dazu schreiben oder mal reinhören.

Ich habe früher gern die Mondscheinsonate mit Claudio Arrau gehört. Aber die auch schon ewig nicht mehr auf dem Plattenteller gehabt. Auch so eine Jugenderinnerung.

Es handelt sich um diese Platte:

https://www.discogs.com/de/Beethoven-Cl ... se/2076427

Edit: Korrekte Platte ermittelt. ;)

Viele Grüße

Jochen
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Horse Tea hat geschrieben: 04.05.2021, 14:51 Brendel und Levit decken sich mit Gerts Erinnerung, neu ist Perahia. Bei Levit betont sie, dass erst die letzten vier Sonaten richtig gut gespielt sind. Ich werfe auch noch für Gelber und Trifonov den Hut in den Ring.... in den Giltburg (der Name war mir bis dato unbekannt) hineingehört und diese Interpretation auch für hörenswert begutachtet.
Hallo, Horst-Dieter
ich war mal ein echter "Brendel-Fan" (darum besitze ich wohl auch alle 3 Gesamteinspielungen mit ihm) und an den Levit taste ich mich so langsam heran. Ist auf jeden Fall eine sehr interessante Spielweise. Trifonov - da muss ich zugeben, habe ich nur 1-2 Sonaten mal in Youtube o.ä. gesehen. Hat er auch ein Album herausgebracht? Kenne ich jedenfalls noch nicht.
Perahia höre ich gerade sein Album mit op.2 - gefällt mir schon richtig gut.

Giltburg halte ich für einen sehr interessanten Pianisten. In Moskau geboren, in Israel groß geworden, hat er vor ca. 2 Jahren eine (für meine Ohren) famose Einspielung von Rachmaninows 2. Klavierkonzert veröffentlicht.

Und ja, Jochen - Backhaus ist natürlich einer der alten "Haudegen", die für ihre Beethoven-Interpretationen berühmt sind. Wie auch Kempff, Schnabel, Arrau, Solomon und - nicht ganz so alt 8) - Pollini und Gulda. Diese gehören auch - zusammen mit Brendel, Levit, Barenboim, Lewis, Schiff und Korstick - zu meiner "Grundausstattung".

Danke euch schon mal für eure Tipps.

Beste Grüße
Jörg
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Marbello
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Beitrag von Marbello »

In dem Zusammenhang ist vielleicht auch der Podcast von Levit interessant.

https://www.br-klassik.de/themen/beetho ... i-100.html

Von älteren Aufnahmen scheinen mir noch die von Annie Fischer und Ives Nat bemerkenswert.

Gruß Friedrich
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alcedo
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Die Klaviersonaten Nr.1-3 (opus 2)

Beitrag von alcedo »

Hallo Klavier-Interessierte,

da ich schon einige Anfragen erhalten habe, möchte ich eine kleine Anmerkung vorausschicken: mein Bestreben war es NICHT, hier irgendeine Referenzliste à la „best of“ zu erstellen. Auch ein Vergleich mit der Partitur interessierte mich nicht – die habe ich hier zwar liegen, habe sie aber kaum benutzt. Mich interessieren viel mehr die Umsetzungen (Lösungen) der Künstler aus einer bestimmten Perspektive / Fragestellung heraus. Es ist also eine rein subjektive, durchaus fragwürdige Vorgehensweise :lol:

Beginnen wir mit opus 2 – den ersten 3 Klaviersonaten von Beethoven. Das war die Visitenkarte des jungen Beethoven für Wien - als Komponist. Denn als Klaviervirtuose war er bereits in Bonn bekannt. Dort besuchte ihn schon Haydn, der in Wien nun auch sein Lehrer wurde – was man den Sonaten natürlich anmerkt und dem sie auch gewidmet sind. Dennoch gelingt es Beethoven, bereits in seinen ersten Werken (zuvor hatte er als opus 1 drei Klaviertrios herausgebracht) seine neuartigen Ideen zu verwirklichen.

Wie also startet ein so selbstbewusster und ehrgeiziger Mensch wie Ludwig van Beethoven im Alter von 25 Jahren seine Komponistenkarriere in Wien, der damals wichtigsten Musikmetropole? Igor Levit bezeichnete es mal „mit 6 Ausrufezeichen!“. Ein junger Wilder will auf sich aufmerksam machen, provozieren, aufhorchen lassen – so zumindest ist meine Vorstellung 8)

Was sagen die Interpretationen dazu?

Diese 27 Gesamtaufnahmen habe ich mir angehört:

Beethoven: Klaviersonate 1-3; Brautigam (Fortepiano) 2005
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Gulda 1954
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Gould 1980
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Kempff 1965
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Kodama 2008
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Oppitz 2009
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Perahia 1995
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Arrau 1964
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Giltburg 2021
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Badura-Skoda 1969
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Badura-Skoda auf historischen Instrumenten 1989
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Say 2019
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Buchbinder 1984
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Buchbinder 2010
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Scherbakov 2019
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Backhaus 1969
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Barenboim 1966
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Brendel 1962
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Brendel 1970
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Brendel 1995
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Gulda 1968
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Korstick 2005
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Levit 2020
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Lewis 2008
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Pollini 2006
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Schiff 2005
Beethoven: Klaviersonate 1-3; Schnabel 1934

Ergänzt um folgende 16 Einzelaufnahmen:

Beethoven: Klaviersonate 1; Nat ca.1955
Beethoven: Klaviersonate 1; Arrau 1988
Beethoven: Klaviersonate 1; Gelber ca. 1985
Beethoven: Klaviersonate 2; Gilels 1984
Beethoven: Klaviersonate 2; Kempff 1951
Beethoven: Klaviersonate 2; Arrau 1990
Beethoven: Klaviersonate 2; Casadesus 1952
Beethoven: Klaviersonate 3; Gilels 1981
Beethoven: Klaviersonate 3; Lang Lang 2010
Beethoven: Klaviersonate 3; Sokolov 2020
Beethoven: Klaviersonate 3; S. Richter 1975
Beethoven: Klaviersonate 3; Hewitt 2007
Beethoven: Klaviersonate 3; Michelangeli ca. 1950
Beethoven: Klaviersonate 3; Michelangeli (Vatikankonzert) 1987
Beethoven: Klaviersonate 3; Rubinstein 1963
Beethoven: Klaviersonate 3; Solomon 1956

Interpretationen, die den Zeitraum von 1934 bis heute abdecken – und dennoch nur einen Ausschnitt aus dem unübersichtlichen Kosmos der existierenden Aufnahmen darstellen. Es fehlen mindestens noch die Aufnahmen von Annie Fischer, Edwin Fischer, Louis Lortie oder Abdel Rahman El Bacha.

So – bis hierhin erstmal.
Brauche nun eine Tasse Tee – dann geht es weiter.

Gruß Jörg
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

… und weiter geht’s

Starten wir mit der 1. Sonate. Und da geht es gleich stürmisch los mit einer Mannheimer Rakete – „eine schnelle, aufsteigende Tonfolge in der Melodiestimme … Sie fungiert als eine Art energetischer Impulsgeber, eine Initialzündung des Stückes und zählt zu den Mannheimer Manieren. Der Begriff leitet sich einerseits bildlich her von der schnell aufsteigenden Rakete, andererseits von der sogenannten Mannheimer Schule (Stamitz, Cannabich u.a.), welche die Mannheimer Rakete besonders gern verwendete. Der Begriff wurde im 19. Jahrhundert vom Musikwissenschaftler Hugo Riemann geprägt“ (wikipedia).

Und wie unterschiedlich man diese wenigen Takte spielen kann! Eine nette Animation dazu findet sich übrigens hier: http://www.lehrklaenge.de/PHP/Formenleh ... xposition), in der dieser 1. Satz recht nett und anschaulich analysiert wird.

Bei vielen Interpretation habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie in ihrer Herangehensweise an diese ersten 3 Sonaten immer schon den „ganzen“ Beethoven im Kopf haben, will sagen: vom Spätwerk her begreifen. Das ist nicht falsch (und jeder kennt natürlich bereits die Klaviersonaten 29-32). Dennoch faszinieren mich derzeit Aufnahmen mehr, die den Eindruck des Neuen in mir entfachen … Und obwohl von den dreien die Nr.3 sicherlich die berühmteste (weil anspruchsvollste?) Sonate ist, habe ich mich in die Nr.1 vernarrt. Schon das spritzige Allegro ist famos, gefolgt von einem wundervollen Adagio …

Die Sonate Nr.1 spielen nun viele (Backhaus, Kempff, Barenboim, Gulda, usw.) „historisierend“ (Vorklassik) auf einem modernen Instrument – was mir recht gut gefällt. Schnabels Interpretation ist für mich immer noch der Meilenstein schlechthin bei allen Interpretationen (egal wie stark sie rauscht - und von seinen Schallplatten werde ich mich wohl nie trennen) – volles Risiko im Tempo, ausdrucksstark und farbig. Die „Sturm und Drang“-Zeit im 1. Satz vermittelte mir dennoch keine Aufnahme so plastisch und farbenfroh wie die von Brautigam auf einem Fortepiano! Da ist richtig Feuer drin. Badura-Skoda hat 1989 die Sonaten ebenfalls auf historischen Instrumenten eingespielt – vollkommen anders im Klang und in der Wirkung.

Exkurs: Badura-Skoda spielt auf einem eigenen Original-Fortepiano von Johann Schautz (1790) mit vollem Risiko, da diese Instrumente schwieriger zu spielen (Restauration, Konservierung, …) als Nachbauten. Brautigam dagegen spielt auf einem (für meine Ohren herrlichen) Walther & Son Nachbau (1802), hergestellt von Paul McNulty 2001. Beide sind mit Wiener Hammermechanik ausgestattet, die einen leiseren, dafür aber klareren, sensibleren Ton ermöglicht.

Für mich gelungen spielen den 1. Satz auch noch Gould, der sichtlich (und wie immer mitsingend hörbar) mit Freude diese 3 Sonaten kurz vor seinem Tod etwas provokant und gegen den Strich gebürstet eingespielt hat sowie Korstick mit rasantem Tempo – so könnte ich mir auch einen jungen Beethoven vorstellen ;-)

Den 2. Satz spielt Perahia klangschön, ausgewogen und brillant. Das Menuett dagegen spielen Gould, Gulda (1968) und auch Lewis herrlich. Letzteren (ein Schüler von Brendel) hatte ich schon lange nicht mehr gehört und über die Vergleiche hier wieder sehr schätzen gelernt!
Auch den letzten Satz spielt Lewis wunderbar – neben Scherbakov (eine Entdeckung für mich!), Badura-Skoda (1969) und Perahia.

Neben den genannten würde ich u.a. noch die Aufnahmen von Brendel (insbesondere die äußerst gelungene von 1996) dem Interessierten empfehlen.

So – ich merke schon, die Texte werden viel zu lang.
Die beiden anderen Sonaten handle ich schneller ab – versprochen :cheers:

Viele Grüße, Jörg
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Guten Abend,

bevor ich die nächsten beiden Sonaten anspreche, möchte ich noch einen Hinweis zur Aufnahme von Giltburg geben: seine Gesamtaufnahme gibt es auf CD oder als Stream (teilweise in HiRes) sowie als Video. Boris Giltburg hat die 32 Sonaten komplett in 2020 eingespielt und sich dabei von „Fly On The Wall“ filmen lassen als eine Kombination aus Live- und Studio-Atmosphäre (so der Booklet-Text): Live, da jeder Satz einem einzelnen, ungeschnittenen Take entspricht.
Man kann sich die Videos übrigens unter https://beethoven32.com/ kostenlos anschauen. Bis Ende 2021 erscheinen nach und nach alle 32 Sonaten (aktuell: Nr.27)

Kommen wir also zur zweiten und dritten Sonate.
Die zweite ist durchweg glanzvoller und witzig-heiterer als die leidenschaftliche 1. Sonate. War die 1. noch der „Paukenhieb ins Leben“, ist die 2. das Imponierstück von Beethoven.
Dies gelingt für meine Ohren im 1. Satz am plausibelsten wieder mal Gould (mit allen bekannten Begleiterscheinungen), Scherbakov, Korstick, Badura-Skoda (ich mag wohl auch den Bösendorfer-Klang ;-)), Lewis, Levit, Schnabel und – Schiff! Ich bin normalerweise kein Schiff-Fan, aber die 2. Klaviersonate spielt er in allen Sätzen durchweg himmlisch! Hier werde ich nun doch Fan ;-)
Der 2. Satz (dieses hymnische Largo, das sich so leicht anhört) mit dem choralartigen Hauptthema gelingen Gilels, Badura-Skoda, Levit und Schiff herausragend, während der 3. Satz (nun kein Menuett mehr, sondern ein Scherzo) für mich durch Arrau (1990) und Schiff am schönsten eingefangen wurde. Das abschließende Rondo gefällt vor allem bei Gould, Gilels, Badura-Skoda und Gulda sowie Levit und Schiff.

Übrigens: Levit erzählt in seinem Podcast, dass er die 2. Klaviersonate seit seiner Jugend als „Dauerübungsstück“ spielen musste und sich intensiv mit ihr auseinandergesetzt hat – das hört man auch.
Als Anekdote: Wer Igor Levit mal erleben will, wie er als noch Studierender 2005 diese Sonate Nr.2 im Arthur Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv spielte, schaue sich das hier an: https://www.youtube.com/watch?v=iuCep0d2Z7c
Mal ehrlich: wer hätte ihn erkannt? ;-)

Die Sonate Nr.3 – das Virtuosenstück.
Ich will es kurz machen: die stimmigsten Einspielungen gelingen Gould (mit Abstrichen im 2. Satz), Gilels (wunderbarer 2. und 3. Satz), Scherbakov, Solomon und Rubinstein sowie Brendel (1996), Barenboim, Gulda und Korstick. Lewis gebührt das Verdienst, die für mich klangschönste Einspielung vorgelegt zu haben – einfach rundum gelungen.
Wer den 4. Satz mal in einem aberwitzigen Tempo hören möchte, dem seien die Aufnahmen von Barenboim, Gulda oder Michelangeli (ca. 1950) ans Herz gelegt.
Viele Interpreten habe ich hier unerwähnt gelassen – zwei will ich am Schluss noch herausheben: Claudio Arrau hat das Largo oft wunderbar gespielt – so auch in seiner Gesamtaufnahme von 1964. Und Badura-Skoda gelingt auf seinem Fortepiano ein unglaublich farbenprächtiger 3. Satz.

Eine Anmerkung:
Es wurde für mich auch jetzt wieder gut nachvollziehbar, wie intensiv sich Profi-Pianisten mit diesen Werken auseinandersetzen müssen, um tief in die komplexen Strukturen einzutauchen und um ihre Erkenntnisse und Deutungen ein Leben lang zu hinterfragen. Nicht jeder Star-Pianist nimmt alle Sonaten auf: manche konzentrieren sich auf einige wenige (Richter, Sokolov, …), andere ändern ihre einmal für gut befundenen Interpretationen nicht mehr und fügen auch bei Gesamtausgaben ältere („gültige“) Interpretationen mit bei (Pollini, Korstick, …) und andere wiederum nehmen sie alle 10-15 Jahre erneut auf (Brendel). Und andere wie Boris Giltburg trauen es sich zu, diese Sonaten innerhalb nur eines Jahres einzustudieren, obgleich sie zuvor lediglich 9 der Sonaten überhaupt erst gespielt haben.

Und noch eine Nachbemerkung:
Meine Idee war ursprünglich, alle 32 Sonaten in diesem Sommer in chronologischer Reihenfolge zu vergleichen. Den Zeitaufwand dafür habe ich allerdings massiv unterschätzt – Beruf, Literaturrecherchen, Vergleichshören, … Also wird es hier – wenn überhaupt – nur sporadisch von meiner Seite weitergehen. Aber der Thread steht ja allen offen und so bin ich gespannt, welche Hörerfahrungen ihr mit den Sonaten gesammelt habt ;-)

Viele Grüße,
Jörg
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Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Hallo Jörg,

großartig, hab ganz vielen Dank für die Mühe, die Du Dir machst mit den Beethoven-Sonaten und dass Du uns daran teilhaben lässt. Ich habe von den drei ersten nur die erste in f-moll gespielt mit der Mannheimer Rakete. Ich erinnere mich gut, dass ich die schon als Schüler im Gymnasium mal im Musikunterricht vorgespielt habe und der Lehrer mich nach der Exposition unterbrach. Er erklärte dann dem Auditorium (sprich den nur mittelmäßig interessierten Restschülern meiner Klasse) die Sonatenhauptsatzform und ich durfte dann immer auf Zuruf einzelne Sequenzen spielen, erstes Thema, das "männliche", wie das meine Klavierlehrerin immer nannte, zweites Thema, das "weibliche", etc. usw., immer in Häppchen bis zum Schluss des Satzes, immer mit den Erklärungen des Herrn Lehrers garniert und manches mehrfach, und ehrlich gesagt hatte ich mir das Vorspiel ein bisschen anders vorgestellt. Zu den anderen Sätzen, insbesondere dem letzten, den ich eigentlich so richtig sauschnell drauf hatte, kam es nicht mehr, weil die Stunde zu Ende war.

Ich gehe jetzt animiert von Deinen Ausführungen in den Hörraum und schaue mal, was von Deinen empfohlenen Interpretationen ich auf meiner Festplatte und bei Qobuz finden kann.

Viele Grüße
Gert
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Hallo Gert,

ich kann mir dein Vorspielen am Gymnasium gut vorstellen.
Und vermutlich hätte ich damals auch zu den "... mittelmäßig interessierten Restschülern meiner Klasse" gehört. Meine Klassikbegeisterung setzte erst recht spät ein :lol:

Beste Grüße
Jörg
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grobian.gans
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Beitrag von grobian.gans »

Hallo Jörg,

vielen Dank für die interessanten Gedanken.

Mit dem Vergleich der restlichen 29 Sonaten hast Du Dir ganz schön was vorgenommen. Alleine der Gedanke, den dritten Satz der Hammerklavier-Sonate ca. 30 mal anzuhören lässt mich schaudern :mrgreen:

Weiterhin viel Freude und Durchhaltevermögen für diese Herkules-Aufgabe :cheers:

Grüße

Hartmut
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