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Keith Jarrett - Budapest Concert

Verfasst: 13.11.2020, 18:49
von alcedo
Ich schicke mal voraus, dass ich kein großer Keith Jarrett-Anhänger (mehr) bin noch dass ich mit seinen Aufnahmen immer glücklich geworden wäre. Zu groß waren mir doch die Unterschiede. Liegt vielleicht auch daran, dass ich die wunderbaren Live-Konzerte aus den 70ern nicht aus meinem Kopf bekomme ...

Doch das aus seiner Europa-Torunee 2016 herausgebrachte Live-Album "Munich 2016" empfand ich bereits als sehr außergewöhnlich: perfektes Rubato, wunderbar kontrapunktisches Improvisieren und ein nuancierter feinfühliger Anschlag. Keith Jarrett macht es seinem Publikum allerdings nicht leicht - so begann er in den letzten Jahren seine Konzerte (und eben auch die Aufnahmen) meist recht sperrig, dunkel, schwer.

Bild

So auch in dem neu herausgekommenen Live-Doppel-Album "Budapest Concert"- eine Woche VOR dem München-Konzert aufgenommen, also auch aus 2016.

Man höre sich Part I an - für meine Ohren fast 15 Minuten recht schwierige Klangkonstrukte, die mir recht schnell die Lust am Zuhören nahmen. Doch Geduld wird bekanntlich belohnt - und so werden die Melodien immer eingängiger (z.B. Part V oder VII) und machen richtig Spaß. Interessierte werden ihre Freude auch an den bekannten Zugaben haben, wobei ich z.B. das wunderschöne "It´s a Lonesome Old Town" sehr spannend finde, da er genau diese Zugabe eine Woche später in München deutlich anders interpretierte.

Welche besser ist? Findet es selber raus - beide Aufnahmen sind sehr zu empfehlen :wink:

Beste Grüße
Jörg

Verfasst: 20.11.2020, 18:36
von kontrabass
Es ist schon interessant die beiden Versionen von „it‘s a lonesome old town“ zu vergleichen.
Mir scheint die Budapester Aufnahme noch vergleichsweise positiver daher zu kommen, viel mehr Verzierungen, die piano-Stellen eher fast schüchtern zurückgenommen. Die ostinate Bassfigur der linken Hand ist „nur“Gerüst, auf dem sich die Verzierungen der rechten Hand entlangwinden, der Schluss ist eher hymnisch. Ich habe das Gefühl, dass hier ein positiver Ausklang beschrieben werden soll.

Die Münchner Aufnahme ist insgesamt gedeckter, zurückgenommener, keine große Agogik, deutlich weniger verspielt, der Schluss ist ruhiger, transzendenter, gedankenverloren, morbid (?), auf jeden Fall deutlich stiller als in Budapest.
Grund könnte sein, dass Keith Jarrett am 14.6. in Nizza war und unmittelbar das schreckliche Attentat miterlebt hat. Es stand ja überhaupt in Frage, ob er deshalb in München auftritt. Gott sei Dank ist er aufgetreten und hat uns an seiner Nachdenklichkeit und seinem Mitgefühl teilhaben lassen. gerade der Vergleich dieser beiden Titel macht es m.E. augen(ohren)fällig.

Wir hoffen auf weitere Veröffentlichungen aus dem ECM Archiv, denn auftreten wird er nicht mehr.

Michael

Verfasst: 20.11.2020, 18:44
von music is my escape
kontrabass hat geschrieben: 20.11.2020, 18:36 Wir hoffen auf weitere Veröffentlichungen aus dem ECM Archiv, denn auftreten wird er nicht mehr.
Hallo Michael,

Obwohl selber eigentlich kein sonderlich großer Hörer von Jarret möchte ich mich hier gern anschließen.

Grüße,
Thomas
:cheers:

Verfasst: 20.11.2020, 21:06
von alcedo
Hallo Michael,

ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Keith Jarrett nach seinen multiplen Schlaganfällen noch einmal wird spielen können. In einem Interview las ich kürzlich, dass er mit seinem Gehstock gerade mal ums Haus laufen könne.
Wünschen wir ihm eine baldige Genesung ...

Beste Grüße
Jörg

Verfasst: 14.12.2020, 18:23
von musikgeniesser
Liebe Forenten,

da offizielle Ende seiner Karriere hat er inwzischen verkündet, sodass wohl nichts neues mehr kommen wird. Betrüblich, ich höre ihn immer wieder gerne, aber wie Oscar Peterson, eingebunden und gewissermaßen aufgefangen von einem Ensemble, zuletzt einhändig auftrat, wird das als Solo-Instrumentalist deutlich schwieriger. Vor allem aber dürfte Herr Jarretts Empfindlsam- und Empflindlichkeit zu seiner Entscheidung geführt haben.

Alles hat seine Zeit, wie es bereits in der Bibel heißt. Herr Jarretts Zeit ist abgelaufen, was es zu akzeptieren gilt: er ist der Welt gegenüber zu nichts verpflichtet. Seine letzte Konzerte kenne ich nicht, aber was ich darüber gehört habe, klang tendenziell positiv, als habe sich Herr Jarrett noch einmal zu großem aufgeschwungen. Vielleicht werde ich mir die CDs zulegen und damit das Thema auch für mich zu einem würdigen Abschluss bringen.

Danke für Euer Interesse

Peter

Keith Jarrett

Verfasst: 14.12.2020, 23:22
von Hubert_t
Hi,
ich bin etwas traurig über den schlechten Gesundheitszustand von Keith Jarrett zu lesen. Hatte ich leider nicht mitbekommen.
Ich bin ein großer Bewunderer von Keith Jarrett, obwohl ich nicht alles von ihm mag.
Am 10. Juli 2012 habe ich ihn mit seinem Trio im Festspielhaus in Baden Baden gehört. Die Karte hat 175 € gekostet und war jeden Euro
wert.
Seine vielen Solo-Improvisationen (außer dem Köln Konzert) sagen mir nicht immer zu. Ich liebe eben Balladen und Jazz Standards.
Von dem Konzert in Munich, das oben ebenfalls genannt wird, gefallen mir hauptsächlich die drei Zugaben (Standards).

Wem es ebenso geht, dem kann ich die LP / CD Yesterdays empfehlen (eine meiner 10 Lieblings LPs). Die Aufnahmequalität von CD und LP ist sehr gut. Die LP Pressung ist manchmal etwas fehlerbehaftet.

LG Hubert

Verfasst: 15.12.2020, 12:08
von musikgeniesser
Liebe Forenten,

zunächst war ich auch etwas traurig, aber dann -- bei allem Mitgefühl für den Menschen, dass wir uns richtig verstehen -- wurde mir recht schnell klar, dass das eine falsche Betrachtungsweise ist: wir sollten uns über die von Herrn Jarrett geschaffenen Werke freuen, statt uns darüber zu beklagen, dass nun nichts mehr hinzukommen werde. Und als einer, der knapp 4.000 CDs hat, sage ich, dass es nicht darauf ankommt, ob man nun 20 oder 30 CDs von ihm hat. Eine Plattensammlung ist nie vollständig und das zu akzeptieren ist die eigentliche Herausforderung.

Auch ich habe davon erst Notiz genommen, als ich einen Bericht im DLF Kultur über das neu erschienene Doppelalbum des Budapester Konzerts gehört habe. Noch ist er abruf- und auch herunterladbar.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ke ... _id=486796

Wie dort zu hören ist, werden aus dem reichen Fundus von Konzertmitschnitten wohl noch einige Veröffentlichungen folgen, also umgekehrt, gibt es viel mehr Konzertmitschnitte als Veröffentlichungen und ECM kann sich vorstellen, davon Gebrauch zu machen. Insofern wirkt sich die Erkrankung Herrn Jarretts auf den Tonträgermarkt noch gar nicht unmittelbar aus. Für diejenigen unter uns, die doch noch Lücken in ihren Sammlungen ausgemacht zu haben meinen.

Danke für Euer Interesse

Peter

Verfasst: 15.12.2020, 12:44
von alcedo
Hallo Peter,

bei so großen Sammlungen ("knapp 4.000 CDs" - und viele werden zusätzlich oder alternativ sicher auch noch Streamen bzw. ihre Vinylschätze pflegen) ist meine Herausforderung eher, den Überblick zu behalten ;-)
Deshalb habe ich mir (wie vermutlich die meisten anderen hier auch) schon von Anfang an ein für mich (sehr Klassik-affin) passendes Tagging-System "zurechtdefiniert", was ich seit Jahren konsequent beibehalten habe. Roon findet zwar alles - irgendwo und irgendwie. Ich nutze für gezieltes Suchen dennoch viel lieber JRiver mit "meinen" ID-Tags.

Was die Veröffentlichung von Archiv-Schätzen angeht, so werden wir dies m.M.n. sicherlich in Zukunft noch viel häufiger sehen (siehe z.B. hier die Empfehlung von Oliver (bajano) von gestern: viewtopic.php?p=192836#p192836
Zumal immer mehr Künstler bis hin zu großen Orchestern die großen Labels verlassen und in die Eigenvermarktung einsteigen (London SO, Berliner Philharmoniker, ...). Wie du schon sagtest: gut
musikgeniesser hat geschrieben: 15.12.2020, 12:08 Für diejenigen unter uns, die doch noch Lücken in ihren Sammlungen ausgemacht zu haben meinen.
:cheers:

Aber unabhängig von solchen Randthemen: viel lieber wäre mir, wenn Keith Jarrett wieder gesund werden würde. Völlig wurscht, ob er wieder spielen kann/mag oder nicht. Zu wünschen wäre es ihm.

Beste Grüße,
Jörg