Die Musik von Südamerika

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Franz
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Beitrag von Franz »

Danke Winfried. Wieder mal hervorragende Musik-Beschreibungen, die ich mit den Augen regelrecht aufsauge. Und vor allem herzlichen Dank dafür, daß du Mercedes Sosa hier ein ehrendes Andenken setzt. Sie ist bei mir eine der ganz großen musikalischen Entdeckungen der letzten Jahre. Als ich ihre Interpretation der Misa Criolla hörte, war ich hin und weg. Was für eine Stimme, welch ein Mensch. Und ihr unbeugsamer Mut gegen die Ungerechtigkeiten in ihrem Land machen sie unsterblich. Ich möchte allen empfehlen, sich diese Aufnahme unbedingt zuzulegen:

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Die Musik von Mercedes Sosa berührt mich, obwohl ich nur ein paar Brocken Spanisch verstehe. Cantar = Singen, Vivir = Leben, Corazón = Herz, Emoción = Gefühl. Um diese Dinge geht es in den Liedern der großen argentinischen Folkloresängerin, die am 4. Oktober diesen Jahres verstorben ist.

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Gruß
Franz

PS. Wunderbarer thread hier, danke! :cheers:
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Höhlenmaler
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Beitrag von Höhlenmaler »

Von Merceds Sosa hab' ich nur eine LP von irgendeinem Flohmarkt.
Todavia Cantamos!
Die Aufnahmen zu dieser Platte sind 1983 und 1984 in Buenos Aires gemacht worden.
Die Platte ist von Tropical Music und aus 1986.

Da fällt mir ein, von Tropical Music ist auch eine Platte mit Steeldrum, Pan-Music, Pantastic World Of Steel-Music Vol.2 - Calypsoes & Socas aus der Karibik. Die könnte auch in den Bereich Südamerika fallen. Die Aufnahmen, obwohl Digitaly Recorded And Mastered, sind leider in der Auflösung ein wenig unterbelichtet.
Es soll schwer sein, ganze Steeldrum Orchestras ordentlich aufzunehmen. Hier die Aufnahmen stammen von einem Pan-Steeldrumfestival in Port Of Spain und sie sind alle Live.

This Is Soca - ist auch eine tolle Platte, eine Doppel LP.


Gruß Ingo

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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Franz, hallo Ingo,

danke für Eure ergänzenden Tips! Die CD "Misa Criolla" habe ich auch, was mir an ihr nicht so recht gefällt, sind zwei Dinge: Der Tieftonbereich ist zu aufdringlich und die Tempi dürften zu langsam sein. Mir liegt eine Philips-LP mit der Misa Criolla (Interpreten: Cantoría del Basílica del Socorro) aus den 60er Jahren vor, die vom Komponisten (Ariél Ramírez) selbst dirigiert wurde - da geht es erheblich flotter zur Sache. Ich vermute, man wollte bei der Decca-CD Mercedes Sosa Gelegenheit geben, ihre Stimme zu entfalten. Keine Negativkritik also!

Gruß: Winfried
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Franz
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Beitrag von Franz »

Hallo Winfried,

mir fehlt da der Vergleich. Ich kann nur sagen, daß sie mir besser gefällt als die Version mit Carreras, die gemeinhin als die wohl beste gilt. Und ja, es ist die Stimme und die Dramaturgie. Ich find sie einfach ergreifender, packender. Aber alles eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Gruß
Franz
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

hier ein weiterer Teil mit Musikempfehlungen, diesmal nur CDs.

Die Musik von Südamerika

Teil 3b: Empfehlenswerte CDs

Mercedes Sosa: „Vivir“
Tropical Music 68.924

Wieder fasziniert die voluminöse und wandelbare Stimme der großen Sängerin. Ich muß mich beschreibungsseitig nicht wiederholen. Auch auf dieser sehr gut aufgenommenen (und gemasterten) CD stehen politische Lieder auf dem Programm, abermals in der typischen Diktion - „Venas Abiertas“ (offene Adern) dürfte ein Musterbeispiel dafür sein, wie man in Südamerika die Diktatur literarisch verarbeitete... Die Tontechnik ist, wie gesagt, sehr gut, steht jedoch der von „Todavía Cantamos“ leicht nach.

Gruppe Pachakuti: „The Returning of the Time“
(kein Labelname)
Diese CD erfordert wahrscheinlich detektivische Arbeit, um ihrer habhaft zu werden: Ein Exemplar erreichte mich vor rund elf Jahren auf verschlungenen Wegen. Die Gruppe „Pachakuti“ besteht unter diesem Namen nicht mehr, später versuchte sie mit der Benennung „Machu Pikchu“ ein Comeback. Aufgenommen wurde die CD Juli 1992 bis Oktober 1993 (offensichtlich also häppchenweise) im „Sesam Tonstudio“ München. Möglicherweise kann man dort weiterhelfen, hier der Link:

http://www.track4.de/

Die über alles gesehen sehr gute Aufnahme bringt tradierte Musik aus den Anden zu Gehör, zudem ein komponiertes Werk, das an Barockmusik erinnert. Pachakuti werte ich als Geheimtip, da die Musiker ebenso begabt wie experimentierfreudig sind bzw. waren; ein Meisterstück stellt Take 5 „Aires de mi Tierra“ dar: Die Melodie läuft im muliza-Takt (4/4, jede Schlagzahl gleich betont) und wechselt nach einem kurzen Zwischenspiel in den wayño-Takt (3/4, Betonung auf Schlagzahl 3) und hält dennoch den stakkatierten muliza-Takt bei! (Zu diesen Dingen später mehr.) Die Suche lohnt sich unbedingt.

„Folklore der Anden“
Bell Records BLR 89 024, remastered by Tacet

Diverse Gruppen
Ebenfalls ein Sahnestückchen, wenn auch der Klang einen winzigen Hauch „Blech“ enthält. „Bell Audiophile Recording“ hat noch weitere CDs in dieser Reihe produziert, von denen mir zwei vorliegen - sie klingen schlechter als diese hier, die renommierte Firma Tacet hat offensichtlich einige Unstimmigkeiten „ausgebügelt“. In 69:40 Laufzeit kommen folgende Formationen zu Gehör: Ichu, Inti Punchai, Ichumanta und Inti Mujus, von denen mir die Darbietungen der Gruppe Inti Punchai am besten gefallen. Interpretatorisch - und auch mit der berückenden Weiträumigkeit - sind für mich die Titel „Huayra Taki“ („Windlied“), „Pescador“ („der Fischer“), „Punchai“ (müßte eine abweichende Schreibweise von „punchaw“, „Tag“, sein) und „Tema de la Mina“ (muß nicht übersetzt werden) die Höhepunkte dieses Tonträgers, allesamt vorgestellt von Inti Punchai. „Tema de la Mina“ hat mich zu umfänglichen „Forschungsarbeiten“ animiert, denn im ansonsten fachkundig verfaßten Booklet greift der Autor meines Wissens nach heftig daneben, wenn er schreibt, dieses Lied stelle das Leben in der Einsamkeit der Cordillere dar sowie die Freude, wenn Menschen zusammenkommen. Ich halte folgendes für zutreffend: Aus dem Titel geht hervor, daß Leben und Arbeit der „mineros“, der Minenarbeiter (vermutlich im Silberbergwerk Potosí), dargestellt wird. Dies in ständiger Konterkarierung der Besitzer und der Arbeiter, wobei das spanische bzw. europäische (besitzende) Element, die „patrones“, durch eine Gitarre, das indianische dagegen mit Flöten symbolisiert wird, in Dialogform sozusagen. Ein musikalischer Protest wider die Ausbeutung der schlecht bezahlten Mineure, Protest gegen die Entnahme der Erze aus dem Reich der indianischen Erdgöttin Pachamama. Dies belegt der einmal im Hintergrund erschallende, klagende Ruf „es la tierra de la Pachamama!“ Ich bitte, das erstmal so hinzunehmen, denn um das im Detail verstehbar zu machen, müßte ich recht tief in die indianische Götter- und Vorstellungswelt einsteigen... Auf jeden Fall eine CD, die in keiner Südamerika-Sammlung fehlen darf!

„Harpe, Marimba et Guitares Latino-Americaines“
Gruppe Los Calchakis
ARION ARN 64032

Die CDs des Labels ARION mit der Gruppe „Los Calchakis“ wurden allesamt von den analogen Masterbändern gefertigt, die den zuvor veröffentlichten LPs zugrunde lagen, allerdings hat man andere Koppelungen der Titel vorgenommen, wodurch Tracks verschiedener LPs sich nun auf einer CD wiederfinden. Für den auch technisch interessierten Hörer hat dies den Vorzug, die Arbeitsweisen der unterschiedlichen Tonmeister gezielt betrachten zu können. Und für jeden, der die LPs nicht mehr bekommen kann, ist es günstig, auf diese Weise dennoch praktisch alle Titel vorzufinden; dazu muß man natürlich möglichst alle ARION-CDs sammeln. Auf der hier in Rede stehenden finden sich etliche Musikstücke, die auf den im vorherigen Teil genannten LPs zu hören sind, z.B. „La Zandunga“, „La Rielera“ und „La Escala“. Zudem verblüffen die Aufnahmen des Tonmeisters Claude Morel immer wieder mit ihrer enormen Räumlichkeit (besonders Titel 14 „Poncho Verde“).
ARION-CDs bieten natürlich-dynamische Wiedergabe und weisen zudem den heute vergessenen „headroom“ auf; einige sind sogar noch mit Pre-Emphasis aufgezeichnet, wovon ich später auch einige vorstellen werde.

Allgemein
Warum entstanden auffallend viele gute Tonträger mit südamerikanischer Musik in Frankreich? Paris war zu Zeiten der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile „die heimliche Hauptstadt Lateinamerikas“, Los Calchakis lebten dort ebenso wie Inti Illimani. Letztere jedoch machten etliche Schallplatten zusammen mit dem Dortmunder Label „pläne“; als hochpolitische Gruppe zog es sie wohl ins Ruhrgebiet, wo im 19. Jahrhundert (als Folge entsprechender Anwerbungen seitens der Bergwerksgesellschaften) zahlreiche Menschen aus Polen zugezogen waren und sich seinerzeit ein ethnisches Problemgebiet ergeben hatte, das durchaus Vergleiche zu den früheren Vorgängen in Südamerika gestattet.

Gruß: Winfried
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seth
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Beitrag von seth »

Hallo Winfried,

Alcibiades Salazar kenne ich leider nicht. Ich selbst habe von 1997 - 2004 in Lima gelebt und habe noch heute sehr viele gute Freunde dort. Jedes Wochenende gab es übrigens im Restaurant Costa Verde neben dem grössten Buffet der Welt (peruanische Küche ist extrem gut, aber das ist ein anderes Thema) auch Musik mit typischen Tänzen (Marinera Norteña, Vals Criollo etc.) und auch hervorragende Sänger.
Ich habe sogar mit der Belegschaft meiner Firma (einige waren wirklich begnadet) mal zu Werbezwecken eine CD mit der "Familia Rodiguez" aufgenommen. Hüte ich noch heute wie einen Schatz.
Zum Thema Misa Criolla finde ich die Aufnahme mit José Carreras unter aller Kanone. Die Kritiker mögen sie zwar zur Referenz erkoren haben, aber gegen "Los Fronterizos" aus den 60er Jahren lahm und überhaupt nicht mitreisend.
Interessant übrigens auch eine Anekdote zu Yma Sumac, die auch erst vor kurzem im hohen Alter verstorben ist und eine der beeindruckendsten Stimmen hatte die ich je gehört habe. Vor einigen Jahrzehnten sang sie in Italien "Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen" als Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte.
Danach rieten ihr die anwesenden Sänger, sich zukünftig doch besser ausschliesslich der peruanischen Folklore zu widmen. Auf ihre Frage nach dem warum, antworteten sie: "Die Italiener haben den Ruf, die besten Sopranistinen hervorzubringen und sie würde diesen Ruf leider in Kürze zunichte machen."
Vor Perú habe ich übrigens von 1990 - 1995 in Nairobi gelebt (man kommt ein wenig rum) - in Erinnerung ist mir ein Konzert von Miriam Makeba geblieben (leider auch nicht mehr unter uns.)
Sollte es Dich mal nach Spanien treiben, finden wir sicher Gelegenheit gute Musik zu hören und über Perú zu reden. Herzlichst, Carlos
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Carlos,

danke für Deine Zeilen! Der gute Alcibiades hat seinen Sender ungefähr Mitte der 90er verkauft, klar, dann kannst Du ihn nicht kennen. Nairobi, Perú, jetzt Spanien ... da komme ich mir mit meinen paar Wochen Perú als Amateur vor... Na ja, ich war nicht beruflich unterwegs. Und die peruanische Küche ... klar, hier kein Thema, bin aber Fan von ihr!

Deine Einschätzung zur "Misa Criolla" teile ich gänzlich; übrigens meinte ich die selbe LP: "Los Fronterizos y Cantoría de la Basílica del Socorro".

Beste Grüße: Winfried
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Fortepianus
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Beitrag von Fortepianus »

Hallo Winfried,

Deine Musikbesprechungen sind sehr gut geeignet, wahrscheinlich nicht nur meinen musikalischen Horizont erheblich zu erweitern. Vielen Dank für die Mühe, die Du Dir machst! Ich werde mir sicher die eine oder andere Anregung auf den Gabentisch wünschen. Da ich aber bei südamerikanischer Musik (bisher?) gänzlich unbeleckt bin, möchte ich Deine wirklich Appetit machenden Ausführungen nicht weiter stören.

Viele Grüße
Gert
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Gert,

danke für Deine positive Bewertung! Die südamerikanische Musik ist unheimlich interessant, und weil sie für mich ein wichtiges Anliegen ist, mache ich mir gerne die Arbeit, an dieser Stelle etwas darüber zu schreiben. Und gleich geht's weiter!

Gruß: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

im Folgenden gibt es wieder was zum Lesen und späteren Hören:

Die Musik von Südamerika

Teil 3d: Weitere Tonträger

Auch in diesem Kapitel stelle ich ausschließlich CDs vor. Doch zuvor wäre zu erwähnen, daß es sich bei allen - wie auch den zuvor genannten Tonträgern - um Studioaufnahmen handelt, die zuweilen mit leichtem Naserümpfen angesehen werden. Solches ist völlig unbegründet, denn die Musiker spielen ihre Titel gewissermaßen live und nicht, wie ich selbst als Gast bei einer Klassikaufnahme erlebte, mit Vorgabe von Schnitten. Hinzu kommt: Außerhalb der kontrollierten Studioakustik (oder einer sonstigen geeigneten Räumlichkeit) entstandene Aufzeichnungen südamerikanischer Musik vermögen den hiesigen anspruchsvollen Hörer klangtechnisch kaum zufriedenzustellen. Anno 1983 mußte ich einen erstklassigen Interpreten, Antonio Sulca Lozano, der eine große arpa (siehe „Instrumente“) spielte, im Rohbau seines Hauses aufnehmen! Das hätte in einem Barocksaal (oder halt in Studioakustik) gewiß besser geklungen... So ist es „nur“ ein wertvolles Dokument mit reduziertem Hörgenuß geworden. Auffällig ist des weiteren, daß namhafte Label äußerst sorgfältig arbeiteten. Der Live-Eindruck der guten Studioproduktionen mag auch im „Eigensinn“ der Musiker begründet sein: Wenn sie keine rechte Lust haben zu musizieren, dann wird’s nichts rechtes, endloses Wiederholen von Takes machen die nicht mit, dies ist zumindest meine persönliche Erfahrung, was sowohl für die Aufnahmen in Perú als auch die zahlreichen hier in Bonn entstandenen gilt. Bonn? Ja - damals noch Bundeshauptstadt, residierten neben anderen natürlich auch die Botschaften von Bolivien und Perú in Bonn. Und die waren in Sachen Musikkultur in den achtziger Jahren sehr rührig, holten zuweilen (allerdings selten, Kostenfrage) Musikgruppen ins Land und ermunterten hier lebende Peruaner bzw. Bolivianer stets, ihre musikalischen Gebräuche zu pflegen. Dadurch entstanden mehrere Ensembles, die recht häufig auftraten, u.a. im Kammermusiksaal der Beethovenhalle. Weil die Botschaft von Perú (damals Bonn, Mozartstraße) sich über meine Aktivität in Sachen Quechua-Sprache und Tonaufnahmen andiner Musik freute, machte sie mich mit diesen Musikern bekannt. Solche Aufnahmen waren natürlich wesentlich leichter durchführbar als jene in Südamerika, was für die entstehenden Kosten ebenso galt wie bezüglich sprachlicher Verständigung, denn zumeist wurde auf der urbanen anderen Seite der Welt Spanisch gesprochen - meine diesbezüglichen Kenntnisse sind leider mangelhaft... Im Gegenzug aber verschaffte mir das Quechua „drüben“ wiederum Bonusfaktoren. Wie dem auch sei, es kamen etliche Aufnahmen zustande, die mir ein wenig Einblick verschafften - und das kann ich heute an dieser Stelle praktisch umsetzen. Die o.g. Aufnahmen wurden übrigens privat von zwei Wissenschaftlern begleitet und kommentiert; dafür bin ich noch heute sehr dankbar.

Als Nachtrag zum vorherigen Kapitel sei noch angefügt: Leider vergaß ich zu erwähnen, daß in der CD „Todavía Cantamos“ mit Mercedes Sosa im Titel „Triptíco Mocoví“ eine hatun siku erklingt, die den Hörer, salopp gesagt, fast vom Sessel bläst. Ähnliches gilt für „Folklore der Anden“, Titel „Tema de la Mina“: Dort beschließt die hatun siku gewissermaßen interpunktorisch das Musikstück.

Nun aber zu weiteren Vorstellungen von Tonträgern mit klangschöner (synkretisierter) Musik:

„Magic of the Indian flute“ (Zauber der Andenflöten)
Gruppe Ukamau, Solisten Joël und Cedric Perri
EUCD 1090 (ARC-Musik, Hamburg)

Hier hören wir etliche Instrumente, die ich in meiner Beschreibung aufführte, u.a. den charango de quirquincho, kena, tarka sowie (nicht beschrieben) die pinkillu, eine kleine Bambusflöte mit Mundstück. Die sehr gut aufgenommene Scheibe macht rundum Freude, vermittelt urmusikalische Spielfreude, reizt zum berühmten Taktmitklopfen. Ich habe zwei Lieblingstitel, die hier gleich als Anspieltip gelten können: Nr. 10 „Leyenda del Mitayo“, ein von Pablo Cárcamo arrangiertes rezentes Werk sowie Nr. 12 „Huichu Pampa“, gleichfalls ein traditionelles Stück, von der Gruppe Ukamau arrangiert - in mit Rücksicht auf europäische Ohren leicht „angehübschter“ Weise erklingt eine mythologische (ständig repetierende) Melodie, in der neben siku das Muschelhorn erklingt: „Die Rufung des Regens“, von Tonmeister Ingo Schütte perfekt mit sukzessive einsetzenden Gewittergeräuschen unterlegt. Wenn ich beim Hören dieses Stückes Bilder der Cordillere, dieser größten zusammenhängenden Gebirgskette der Welt, ins „Kopfkino“ projiziere, ist Gänsehaut gewiß...

„Sur les Ailes du Condor“ (Unter den Schwingen des Kondor)
Gruppe Los Calchakis
ARION ARN 64060

Auch dieser Tonträger enthält, typisch für ARIONs Umschnitte von analogen Mastern auf CD, Programmteile zuvor veröffentlichter Schallplatten; ich sagte bereits, daß man mit dem Sammeln der CDs über kurz oder lang den Inhalt aller Schallplatten digital vorliegen hat. Nebenbei bietet auch diese hier abermals die Möglichkeit, die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Tonmeister hörend zu betrachten - wofern einen die Musik nicht so gefangennimmt, daß derlei Vorgehensweisen schlicht vergessen werden... Und wiederum finden wir (diesmal 21) Musikstücke aus diversen südamerikanischen Ländern, was reizvolle Vergleiche ebenso ermöglicht wie das Erkennen grundsätzlicher Formen. Neben „traditionals“ erklingen komponierte Werke, wie z.B. „La Perigrinacion“ aus „Navidád Nuestra“ von Ariél Ramírez, in einem superben Arrangement der fünfköpfigen argentinischen Formation „Los Calchakis“. Die CD enthält weiters einige tontechnische Gustostücke: Take 2 „Llama del Altiplano“ und Nr. 2 „La Perigrinacion“. Der Titel 2 stammt aus Argentinien, ist u.a. besetzt mit charango und kena und wurde von Tonmeister Claude Morel aufgezeichnet - ein frappierendes Meisterstück, an dem ich bei jedem Hören herumrätsele und mich frage, wie er das wohl gemacht hat: Die kena erklingt rechts vom rechten Monitor in realer Mannshöhe, der charango - ebenso wie weitere im Sitzen intonierte Instrumente - in Sitzhöhe. Gut, das gibt’s anderswo ebenfalls. Nur diese Oben-Ortung außerhalb der Basis (vergleichbar der unter „Alte Musik“ vorgestellten Hungaroton-CD) gibt mir die erwähnten Rätsel auf. Die Musik spielt, die kena führt die rhythmische Melodie - und dann zeigt der Künstler mehrfach, was man mit dieser kleinen Kerbflöte alles anstellen kann: Er treibt sie in heftigem Affettuoso in schneidend-scharfe Höhen bei gleichzeitiger enormer Lautstärkesteigerung, läßt anschließend Höhen und Lautheit im Retardando abklingen wie ein „fade-out“. Faszination pur! Titel 6 schließlich verblüfft wiederum mit dezidierter O/U- und V/H-Ortung sowie weiter Überbreite; diesmal stehen zwei melodieführende Flöten (kena und wahrscheinlich tarka) mittig, erklingen in Mannshöhe und die leistungsfähigen Aktivmonitore zeigen deutlich, daß der eine Musiker etwas größer ist als der andere...! Musik und Technik in selten zu hörender Symbiose - und dies gilt speziell für Claude Morels Aufnahmen. Die beteiligten Tonmeister und die von ihnen aufgezeichneten Titel sind, wie bei ARION üblich, auf den Booklets gelistet. (Daß die geschilderten Ortungen natürlich bei geschlossenen Augen am besten rüberkommen, ist logisch: Der Mensch ist ein „Augentier“, weshalb die Ausschaltung des Visualprimates erstaunliche Steigerungen des Hörsinns ergibt.) Es bleibt nur eine Schlußfolgerung: Muß man haben!
Überhaupt rate ich, auf die Suche nach der gesamten ARION-Serie zu gehen, denn alle CDs erfüllen hohe bis höchste Ansprüche, musikalische ebenso wie tontechnische; richtige Ausreißer sind nicht darunter, wohl aber unvermeidlicherweise ein leichtes Auf und Ab des Qualitätsniveaus.
Abraten würde ich lediglich von ARN 64050 „Misa Criolla...“: Interpretatorisch sehr gut, doch wurden die Aufnahmen in einem viel zu kleinen Raum gefertigt und mit künstlichem Hall auf „Kathedralklang“ getrimmt.

„The Best Of“
Gruppe Inti Illimani
Warner Music 8573 83885-2

Bitte nicht von dem mehr als drögen Titel abschrecken lassen! Diese CD enthält 19 Musikstücke, die in der Summe einen ausgezeichneten Überblick hinsichtlich des Schaffens der vorzüglichen chilenischen Gruppe Inti Illimani bieten. (Über diese, sowie die chilenische Formation Quilapayun, werde ich später noch einiges schreiben.) Die ersten acht Titel sind der LP „Inti Illimani 2“ entnommen, einer Produktion der frühen Siebziger. Die Schallplatte liegt mir vor und beim vergleichenden Hören fällt auf, daß das alte Masterband etwas „aufgefrischt“ wurde, soll heißen, man hat die Höhen geringfügig „gezogen“. Ich habe am Mischpult ein wenig experimentiert und komme zu folgendem Schluß: Höhenanhebung ca. +2 dB bei 14 kHz - das verleiht dem Klangbild einige Prozentpunkte mehr Durchsetzungsvermögen, führt jedoch auch zu einer ganz leichten Härte, die aber dezent ausfällt. Unverzeihlich allerdings: Bei diesen acht Titeln wurden rechter und linker Kanal vertauscht...! Die folgenden Stücke sind neueren Datums und wahrscheinlich digital aufgezeichnet - das soll keine negative Anmerkung sein! Diese Werke dokumentieren die Entwicklung der Gruppe, die in den frühen Siebzigern mit Protestliedern angefangen und sich rasch einen Namen gemacht hatte: Wohl jeder meiner Generation kennt jenen für Südamerika ungewöhnlich klar, scharf und punktgenau formulierten Song, in dem es heißt „¡pueblo unido jamás será vencido!“ („Ein einiges Volk wird siegen“ [@ Carlos: ist das richtig übersetzt?] - damit wandte Inti Illimani sich vehement gegen die Militärdiktatur.) Die Diktatur fand ihr verdientes Ende und die Gruppe konnte sich der Entwicklung ihrer Kunst zuwenden, was mehr als beeindruckend gelungen ist: Wer wissen will, was „musikalischer Synkretismus“ wirklich bedeutet, der höre diese CD, deren letzter Titel, „Bailando, Bailando“, andine Formen und Instrumente mit Jazz und rockiger Attitüde verbindet, ein melodieführendes Saxophon mit andinen Klängen kombiniert...!

Soweit für heute. Im nächsten Text, der noch ein bißchen Zeit beanspruchen wird (ich muß noch etliche Scheiben durchhören und einige Recherchen anstellen), betrachten wir mehrere typische Rhythmen, erfahren einige Begebenheiten, die „live“ nun mal passieren und nehmen zum Abschluß einen Zick-Zack-Kurs durch Südamerika, auf dessem Weg noch so manch Ungewöhnliches wartet.

Gruß: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

es hat ein bißchen gedauert, doch nun kann ich weitere interessante Dinge vorstellen:


Die Musik von Südamerika

Teil 4: Vor Ort, Erkenntnisse und Begebenheiten, einige Anmerkungen zu Musikformen

Es war ein Abenteuer mittlerer Größe, diese vielwöchige Expedition anno 1983 durch das zentrale und südliche Hochland von Perú, die darin eingebundenen Musikaufnahmen, durchgeführt (besser: durchgezogen) in teilweise gleichermaßen abenteuerlichen Räumlichkeiten. Die im Teil 2 angesprochene Aufzeichnung mit der Gruppe „Los Signos del Perú“: Durch Verbindungen („man muß einen kennen, der einen kennt“, wie man in Bayern sagt) stellte uns (meinen Teamkollegen und mir) der Rundfunksender Sonorama Radio in Huancayo sein Aufnahmestudio zur Verfügung. Ich schwelgte in Vorfreude: Das Studio eines Senders...! Meine (ausgeliehene) NAGRA IV-S würde adäquate Umgebung finden - denkste! Perú ist kein reiches Land, vieles muß mehr oder weniger improvisiert werden ... langer Rede kurzer Sinn: Das Rundfunkstudio maß ca. 18 - 20 m², besaß einen gestampften Lehmfußboden und Schaumstoffplatten an Wänden und Decken. Dennoch erwies es sich als akustisch erstaunlich gut; der Aufnahme stand nichts mehr im Wege, zumal der Senderinhaber und die Musiker freundliche und nette Menschen waren. Das bedeutet dort auch, daß Aktivitäten entsprechend „geölt“ werden müssen, auf Deutsch: Jeder erfolgreich eingespielte Take erforderte einen guten Schluck - und im Vorhinein auf den nächsten ebenfalls wieder... Auf diese Weise machte ich Bekanntschaft mit dem einheimischen, aus Trauben hergestellten, dreifach destillierten Brandy namens Pisco, 42 - 44 „Umdrehungen“, unheimlich lecker. Dieses Göttergetränk wurde in fast randvollen Wassergläsern serviert - ¡salud! - oder upyarisun, wie’s auf Quechua heißt. Am Ende der Aufnahmesitzung wußte ich nicht so recht, welche der zwei bis drei NAGRAs ich ausschalten sollte ... und der Kopf am nächsten Morgen... Glücklicherweise ging der Aufnahmetätigkeit ein Gespräch über Musik und Texte voraus, das ich im vollen Besitz des Verstandes stichwortartig notieren konnte, was auch für die komplett aufgeschriebenen Liedertexte gilt. Die vier Musiker spielten zudem die Titel vor der Aufnahme an, was ich zum Einpegeln der Bandmaschine nutzte - dadurch hatte der vorerwähnte andere „Pegel“ keine negativen Auswirkungen hinsichtlich der Aussteuerung.
Hier, ebenso wie bei den späteren Aufzeichnungen, lernte ich in praxi die ersten grundlegenden Rhythmen der andinen Musik kennen: wayño und muliza.
Der wayño (in Nordperú und Ecuador heißt er wayno, die Tilde über dem /n/ bedeutet, daß es wie /nj/ zu sprechen ist) ist ein energisch zupackender Dreivierteltakt mit Betonung der Schlagzahl 3: eins-zwei-drei, eins-zwei-drei. Dieser Rhythmus zeigt sich weit verbreitet und liegt sehr vielen andinen Musikstücken zugrunde.
Die muliza entstammt dem Musik- und Liedgut der „arrieros“, das waren Mauleseltreiber, die auf den Rücken ihrer Tiere zumeist Erze aus den Minen des Landes zu den Aufkäufern transportierten und sich während der Ruhepausen mit eben ihrer eigenen Musik das harte Leben ein wenig schöner zu gestalten versuchten. Die muliza spielt man stets im Viervierteltakt, wobei jede Schlagzahl gleich betont und akzentuiert wird. Daraus entsteht ein vorwärtstreibender Duktus: eins-zwei-drei-vier, eins-zwei-drei-vier, der den Trott der Maulesel (mules > Name „muliza“) symbolisiert.

In den genannten - und in den später noch zu erwähnenden - Rhythmen werden Instrumentalstücke ebenso intoniert wie Lieder, deren Texte, wie überall auf der Welt, von Dingen des Lebens und natürlich von der Liebe handeln. Die tradierten andinen Texte zeigen sich dabei oftmals in jener volkstümlichen Poesie, die auf dem Naturverständnis der indianischen Ethnien basiert: Menschen, Tiere und Pflanzen sind gleichberechtigt.
Die arrieros dagegen waren notwendigerweise harte Burschen, die die Welt sehr real sehen mußten - und das äußert sich im Text der muliza, die ich in Huancayo aufzeichnete, und der in der Erkenntnis mündet: „... wie gut, daß ich zweie liebe, falls eine mir davonläuft ...“

Auf der Gleichberechtigung indianischer Sichtweise basieren Liederthemen, die recht ungewöhnlich sind, da wird die „liebe kleine Erbsenpflanze“ („albirhonischay“, ein quechuaisierter spanischer Begriff) ebenso besungen wie der Flamingo („parionitay“) und natürlich das Land, welches dem Indianer so nahesteht wie ein Familienmitglied. Den für unsere Begriffswelt ungewöhnlichsten Titel lieferten „Los Signos...“ ebenfalls: „qori chuspicha“ - „kleine goldene Fliege“, hier der Text, welcher mehrfach wiederholt bzw. in Teilen repetiert und musikalisch variierend umspielt wird:

cristal botella ukuchanpi qori chuspicha uywachakusqay | pacha pasaptin ala wiñaptin pawayta munachkan |

Im Inneren einer gläsernen Flasche habe ich eine kleine goldene Fliege aufgezogen. Als die Zeit vergangen und ihre Flügel gewachsen waren, wollte sie fortfliegen.

Die Quechua-Spanisch-Verbindung ist typisch für Lieder, die im urbanen Umfeld intoniert werden. Gar mancher wird ob des Textes den Kopf schütteln - tatsächlich ermöglicht er Einblicke in das Lebensverständnis der dortigen Menschen. Wer käme hierzulande auf den Gedanken, einer Fliege einen freundlichen Song zu widmen? Dem liegen in Perú möglicherweise die „Mythen von Huarochirí“ zugrunde, was aber erklärungsseitig an dieser Stelle zu weit führen würde.

Ein in Südamerika weit verbreitetes und oft intoniertes Liebeslied ist, um ein Beispiel zu nennen, das aus dem Nordwesten Argentiniens stammende „Papel de Plata“ - „Papier aus Silber“. Es dürfte keine Musikgruppe geben, die dieses sehr romantische Lied nicht im Repertoire hätte. Ein Mann denkt an seine vergangene Liebe: „Ich brauchte Papier aus Silber und eine kleine Feder aus Gold, um einen Brief zu schreiben an die Frau, die ich am meisten liebe. Ach, meine Taube, ach, mein Herz, wie lange muß ich leiden.“
Inti Illimani brillieren mit der beeindruckendsten Interpretation, da sie die Textzeilen zunächst in üblicher Weise und anschließend im Kanon singen; zu hören auf LP „Canto De Pueblos Andinos 1“, pläne GP-0288 (produziert 1978).

Nicht nur andin...
Anläßlich der bereits erwähnten Aufnahme mit Susana Baca (1986, Schloßtheater Moers) lernte ich mir bis dato unbekannte Musikformen kennen. Susanas Lieder zählen zur „Musica Criolla“ und innerhalb dieser zum „Nueva Canción Populár“, wie eine bei der Aufzeichnung anwesende Musikwissenschaftlerin, durch deren Initiative diese zustande kam, mir erklärte.
Die Sängerin stellte gemeinsam mit den Musikern ihrer Gruppe Lieder des Schwarzen Perú vor, schilderte in ihnen das Leben aus der Zeit des Sklavenhandels bis zum Jahr der Befreiung (1854). Exemplarisch hierfür das anklagende Lied „De España nos llegó Cristo“ (aus Spanien kam Christus zu uns), dessen zweite Zeile lautet: „pero también el patron“ - aber auch der Herr. Weiteres Zitat: „Und der Herr kreuzigte den Neger, wie er Christus gekreuzigt hatte...“
Das Perú unserer Tage zeigte sie mit Texten großer südamerikanischer Dichter - Namen wie Cesár Vallejo, Alejandro Romualdo, Cesár Calvo, Juan Gonzales Rosse und Javier Heraud seien stellvertretend für viele genannt - und natürlich mit den Rhythmen ihres Heimatlandes. Unvergeßlich für mich, wie Susana die kleinen Hände zu Fäusten ballte, ihre Stimme von freundlicher Sanftheit in packende, vibrierende Härte überging und heftige Emotionen weckte, als sie im Lied „Color de Rosa“ (sanft einleitend) vortrug: „... si pintaras mi país color de rosa, serías un gran pintor para ellos...“ (Wenn du meine Heimat mit rosa Farbe anmaltest, wärest du ein großer Maler für die [da oben]), dann (hart und heftig) von „color de furia“, „color de combate“, „color de esperanza“ (Farbe der Wut, Farbe des Kampfes, Farbe der Hoffnung) sang.
Nationale Grenzen bedeuten nicht künstlerische Grenze: Wie praktisch alle großen Künstler des südamerikanischen Kontinents zeigt auch Susana Baca ihr Einssein mit allen anderen lateinamerikanischen Völkern, indem sie vertonte Poesie von z.B. Mario Benedetti, Pablo Neruda, Nicolás Guillén und Rubén Darío in den typischen Rhythmen zahlreicher Länder zu Gehör bringt.

Bis hierhin haben wir gesehen, daß die Musik von Südamerika ungemein vielgestaltig ist, ihre Spannweite von tradierten bis hin zu synkretisierten Formen reicht, wovon letztere zum Teil völlig neue Melodien, Texte und ihnen zugrunde liegendes Gedankengut enthalten. Die von Susana Baca dargebotenen Werke bilden dazu ebenso ein Beispiel wie die Arrangements der Gruppe Inti Illimani.
Im nächsten Teil möchte ich drei „Cantatas“ vorstellen. Mit diesem Begriff bezeichnet man komponierte Werke, die teilweise Tradiertes enthalten, allerdings mit neuen Stil- und Ausdrucksformen bestimmte Themen aufgreifen und gewissermaßen wie eine Geschichte erzählen und des weiteren das unterstreichen, was ich oben andeutete: Nationale Grenzen bedeuten niemals künstlerische Grenzen.

Gruß: Winfried
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Kienberg
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Beitrag von Kienberg »

Hallo Winfried,

allerbesten Dank für Deinen spannenden "Schnellehrgang" zur nativen Musik Südamerikas, wovon ich bisher keine Ahnung hatte (...ausser, den wohl nicht zu dieser Spezies gehörenden, Tango. Samba, Rumba, BossaNova, etc. :mrgreen: ).
Besonders die Vorstellung der verwendeten Instrumente fand ich sehr interessant und es verwundert mich, dass da wohl keine Blechblasinstrumente enthalten sind (gibt's dafür einen Grund, Fertigungsprobleme können es ja nicht sein, diese Kulturen waren ja Meister in der Metallverarbeitung, zumindest wenn es sich um Gold handelte ) ?

Gibt es vom Tonmeister Claude Morel, dessen Können Du ja besonders hervorhobst, auch eine Aufnahme, die auf CD veröffentlich wurde (ich betreibe seit 18 Jahren keine "Plattenfräse" mehr :mrgreen: ) ?

Gruss
Sigi
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Sigi,

danke für Deine freundlichen Zeilen! Zu Deiner Frage:

Auf den meisten ARION-CDs mit der Gruppe "Los Calchakis" findest Du Aufnahmen von Claude Morel. Die CDs wurden von analogen Mastern gefertigt, die zuvor als LP erschienen waren. Im Zuge der CD-Produktion hat die Produzentin, Ariane Ségal, andere Koppelungen verwendet und damit "Themen-CDs" herausgegeben. Als Beispiel die CD "flûtes des terres incas", ARN 64002: Die Titel 1 - 9 sowie 14, 18 und 20 sind Aufnahmen von Morel, Chaubaroux zeichnet für Take 11 verantwortlich, Jean-Pierre Pelissier (auch ein As!) für 4, 10, 15, 17 und Gilles Roussel für 12, 13, 16 und 19. Die erste "Serie" der ARIONs besaß eine gelbe Booklet-Rückseite, auf der unter "prise de son" die Tonmeister mit den jeweiligen Titelangaben genannt sind. In der "Reissue-Serie" wurde eine optisch schönere Booklet-Rückseite eingeführt; öffnet man das Jewel-Case, kommt das alte Schwarz-auf-Gelb-Design wieder zum Zuge - und dort sind, wie bei der ersten Serie, die Tonmeister aufgeführt. Übrigens ist die hier in Rede stehende CD mit Pre-Emphasis aufgenommen, was - ich mag halt ein bißchen "Lichtspieltheater" - am A/D-D/A-Wandler die LED "De" (De-Emphasis) aufleuchten läßt. Klanglich kann PE u.U. vorteilhaft sein, muß es aber nicht.

Bei ARION sind zudem CDs mit dem "Haus-Ensemble" Los Calchakis erschienen, die im Studio "Family Sound" (Paris) eingespielt wurden. Auch diese sind sehr gut, doch wenn ich mich recht entsinne, ist auch ein Ausreißer darunter (muß ich nochmal nachprüfen).

Zu Tango und Tango nuevo werde ich ebenfalls noch was sagen; überhaupt harren noch einige Anmerkungen zu argentinischer Musik der Niederschrift.

In der Tat gibt es in der tradierten Musik Südamerikas keine Blechblasinstrumente, was seine Ursache wohl weniger in Fragen der Metallbearbeitung hat, denn die Inka waren gute Metallhandwerker, die bereits in der Lage waren, Kupfer mit Gold zu verschweißen und die Kunst des "Gusses in verlorener Form" beherrschten, eher dürften abermals mythologische Hintergründe dafür verantwortlich sein.

Ich möchte nochmals betonen, daß meine Auflistung der Musikinstrumente wirklich nur eine Kurzübersicht ist; gerade die Flötenbauarten sind derart zahlreich, daß eine Gesamtlistung fast schon eine Doktorarbeit wäre... Nicht erwähnt habe ich die Querflöten (mahoceño und Varietäten), da ich sie nicht selbst gesehen und gehört habe.

Gruß: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Sigi,

zu Deiner Frage nach Blechblasinstrumenten fällt mir gerade noch folgendes ein: Ihr Fehlen in der rezenten bzw. tradierten andinen Musik kann, wie gesagt, mythologische Gründe haben. Denkbar aber auch, daß die Inka-Völker (und ihre Vorfahren) schlicht und ergreifend gar nicht auf die Idee gekommen sind, aus Metallen Flöten u.a. Instrumente zu verfertigen. Manchmal hat's ja banale Ursachen...

Gruß: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

hier nun die angekündigten drei Cantatas. Ich hoffe, daß das Lesen Spaß macht und zur Suche nach den Tonträgern inspiriert.


Die Musik von Südamerika

Teil 5: Kompositionen

Es gibt in Südamerika selbstverständlich nicht nur tradierte und aus eben solchen Melodien und Takten entwickelte Musik, sondern auch komponierte Werke - hier sollen ad exemplum drei Cantatas genannt werden -, welche gänzlich eigenständige Formensprachen aufweisen; stets jedoch spielen historische und kulturelle Motive eine wichtige Rolle.
Als einer der führenden Komponisten des Kontinents darf der Argentinier Ariél Ramírez (geb. am 4. September 1921 in Santa Fé) gelten, der mit seinen Werken unverwechselbare Musik geschaffen hat. Ramírez, der bereits in jungen Jahren als Pianist mit enormem Repertoire auf sich aufmerksam machte, vertonte zudem etliche Libretti des (gleichfalls argentinischen) Dichters Félix Luna (geb. in Buenos Aires am 30. September 1925 und dort am 5. November 2009 verstorben). So entstanden Werke, die nach wie vor Maßstäbe setzen und bei aller Eigenständigkeit gleichwohl ihre Herkunft weder verleugnen können noch wollen. Ariél Ramírez erforschte die rezente Musik des südamerikanischen Kontinents, um sie in seine Kompositionen zu integrieren, dies jedoch auf eine Art und Weise, welche die oben angesprochene Eigenständigkeit seiner Notationen gewährleistet.

In den von Ramírez vertonten Texten des Félix Luna ist immer wieder die Rede von einem vereinten Lateinamerika, einer staatenübergreifenden Gemeinsamkeit, die mit packenden Worten erhofft bis gefordert und in ihrer Wirkung durch Ariéls Musik unterstrichen und transparent wird - teilweise mit psychisch regelrecht zufassender Wirkung.
Die lateinamerikanische Union - bis heute Utopie - war bereits der beherrschende Traum von Simon Bolívar (geb. 24. Juli 1783 in Caracas [Venezuela], gest. 17. Dezember 1830). Bolívar ist noch heute der größte und am meisten verehrte Held in Südamerika, da er die Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanische Kolonialherrschaft führte und somit der Befreier Venezuelas, Kolumbiens, Panamas, Perús und Boliviens wurde. Das vormalige „Alto Perú“ wählte als Staatsbenennung sogar seinen Namen und heißt daher heute Bolivien.
Simon Bolívars Vision einer pansüdamerikanischen Union wurde Jahrzehnte später von Augusto César Sandino (geb. 18. Mai 1895 in Niquinohomo [Nicaragua], gest. 21. Februar 1934 in Managua) aufgegriffen. Sandino entwickelte sich zum Guerillaführer und Kopf des nicaraguanischen Widerstandes gegen die damalige US-Besatzung des Landes. Auch Sandino genießt in Mittel- und Südamerika noch heute höchstes Ansehen, welches dazu führte, daß einerseits die späteren Widerständler gegen das System des Diktators Somoza sich „Sandinistas“ nannten (und den Namen noch heute in ihrer Parteibezeichnung führen), andererseits die chilenische Gruppe Quilapayun ihm mit ihrer Cantata „Sandino“ ein klingendes Denkmal setzte. Weder Bolívar noch Sandino erreichten ihre politischen Ziele, schufen jedoch basisdemokratisches Bewußtsein - und ihr Wirken zeugt von jenem Denken, das auch Susana Baca verinnerlichte: nationale Grenzen sind keine kulturellen Grenzen. Un pueblo unido...
Wieder einmal habe ich die Schilderungen historischer Zusammenhänge und Begebenheiten höchst unzulässig verkürzt - hier geht es schließlich um die komponierte Musik des Kontinents. Doch um sich dieser annähern und sie letztendlich verstehen zu können, schien mir der kurze Exkurs in die Geschichte unvermeidlich.

„Cantata Sudamericana“, LP, Philips 6347 080
Komponist: Ariél Ramírez, Texte: Félix Luna, Solistin: Mercedes Sosa

Um dieses Werk stilgerecht verfassen zu können, studierte der Komponist die Reste der fast vergessenen Musikformen der Toba und band diverse genuine Instrumente mit ein, wie die Holztrommel pin-pin, die Tontrommel aluákataki und die entegueté; letztere wird aus Wildschweinklauen hergestellt und dürfte ein Pendant zum andinen chakchas sein. Doch auch die kena findet Verwendung, im harmonischen Miteinander von Spinett, Orgel und weiteren Instrumenten...
Die Texte sind durchdrungen vom Geist des Simon Bolívar, besingen die ethischen, ästhetischen und geistigen Eigenständigkeiten Südamerikas immer unter dem alles beherrschenden Gedanken der Einheit, der friedlichen Emanzipation des Kontinents.
Mercedes Sosa nimmt den Zuhörer gewissermaßen bei der Hand und führt ihn durch Kultur und Geschichte ... es überläuft mich jedesmal, wenn sie in „Oración al Sol“ (Gebet an die Sonne) ihre unglaublich wandlungsfähige Stimme von zartestem Hauch zu jener Mächtigkeit anschwellen läßt, die einen fast zum Niederknien zwingt, dann wieder zärtlich und sanft wird.
Diese Cantata erzählt nicht durchgängig eine Geschichte, sondern besteht aus acht „Sätzen“, deren jeder ein spezielles Thema behandelt (wie Retrospektiven zu alten Kulturen). In der Summe führen Félix Lunas Texte, von Mercedes Sosa unnachahmlich gesungen, durch die südamerikanische Gesamtheit, wenn sie von den „kleinen Leuten wie du und ich“ erzählen, mahnen, das kostbarste Gut, die Freiheit, zu erhalten, das Heimweh jener schildern, die ihre Länder verlassen haben, und endet mit „Alcen las Banderas“ (Hißt die Fahnen) in einem ebenso mitreißenden wie mutigen Aufruf an die Völker des Kontinents, den Aufbruch in ein neues (besseres) Leben zu beginnen.
Auf dem Cover sind weder die Instrumentalisten, der Tonmeister noch die Produktionsdaten genannt. Da „Cantata Sudamericana“ nach 1969 geschrieben wurde, kann man die frühen siebziger Jahre als Entstehungszeitraum annehmen. Die Tontechnik ist gut, zeigt sich in der räumlichen Höhe etwas eingegrenzt, doch achtet wohl jeder ohnedies nur auf „la voz“, die Stimme, die Stimme der unvergeßlichen Mercedes Sosa...

„Sandino“ LP, pläne 88339
Gruppe Quilapayun

Diese Cantata thematisiert Leben und Werk des Revolutionärs Augusto César Sandino und setzt dessen Gedanken in Bezug zu jenen des vorbildgebenden Simon Bolívar. Nicht nötig, hier in Aufzählung endloser Einzelheiten zu verfallen: Musik und Texte sprechen eine deutliche Sprache und rühren auch den an, der des Spanischen nicht oder (wie ich) nur arg begrenzt mächtig ist (bei „problemas con vocabulos“ bietet der Langenscheidt wertvolle Hilfe).
Aufnahme- und preßtechnisch eine der besten LPs meiner Sammlung: „Unendlich“ weiter Raum, ausgeprägte V/H- und O/U-Ortung, überdurchschnittliche Dynamik und weiter Frequenzgang machen das Hören auch zu einem audiophilen Erlebnis!

„Eldorado“, CD, ARION ARN 64204, Tonmeister: Marcel Merino
Gruppe Los Calchakis

Die CD beginnt mit acht Instrumentalstücken, teils komponierte, teils arrangierte „Traditionals“; allen ist wundervolle Darbietung ebenso gemeinsam wie die sehr gute und weiträumig zeichnende Tontechnik mit durchweg dreidimensionaler Abbildung und hoher, unkomprimierter Dynamik, bei allerdings passagenweise grenzwertiger Aussteuerung von +6 dB ohne Headroom - man ist „in die Vollen“ gegangen, ohne jedoch das Klangbild zu tangieren.
Dies gilt auch für die an die Instrumentaltitel anschließende „Cantata Eldorado“, in welcher Los Calchakis mit eigenen Texten und Komposition die Entdeckung des Kontinents erzählen und neuerlich ihre gesanglichen und instrumentalen Qualitäten unter Beweis stellen. Sie berichten von Cristóval Colóns erster Reise, dessen Entdeckung der Karibik (für die man ihn noch heute fälschlicherweise als „Entdecker Amerikas“ feiert) und die politischen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen. Für die im Grunde eher unpolitische Formation eine erstaunlich „angriffige“ und kritische Bewertung der historischen Vorgänge.
Die Texte liegen komplett in Spanisch, Französisch und Englisch bei und erleichtern das Verstehen auch in übertragenem Sinne wesentlich. Fazit: Eine CD, die jede „Südamerika-Sammlung“ bestens ergänzt und daher nicht fehlen sollte.

Gruß: Winfried
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