Melomane hat geschrieben:
Hans-Martin, wenn von überpräsenten Violinen die Rede ist: Sind die Resultat der Aufnahme oder Abmischung?
Hallo Jochen
Da ich die Originalaufnahme nicht kenne, kann ich das nicht beantworten.
Aber der Einsatz vieler Mikrofone verleitet oder zwingt sogar dazu, sehr nah an die Instrumentengruppe heranzugehen (siehe Sengpiels 1:3 Regel, der Abstand zwischen den Mikrofonen soll das 3-fache dessen betragen, wieweit das Mikro vom Instrument entfernt ist, um Kammfiltereffekte zu vermeiden). Kammfiltereffekte klingen wegen der ausgeprägten Welligkeit des FGs manchmal grausam, schrill (und die invertierte Polarität macht dieses noch lästiger). Die Nähe des Mikrofons zu den Instrumenten hebt deren Obertöne stärker hervor, als der Hörer im Auditorium sie wahrnimmt (und die invertierte Polarität macht dieses noch lästiger).
Tony Faulkner ist ein bekannter selbstständiger Toningenieur in England, der für viele Plattenlabels Aufnahmen macht. Er schrieb mir , dass er ordentliches Material ans Masteringstudio abliefert, was dann dort daran verbogen oder invertiert oder was auch immer gemacht wird, entzieht sich seinem Einfluss. Ich hatte ihn darauf hingewiesen, dass viele seiner Aufnahmen (aber nicht alle), die ich als CD habe, invertiert kommen, abhängig vom Label.
BTW: Gerade bei der DGG schlägt IMHO auch die Ungunst der zeitlichen Umstände zu. Wenn wir nämlich die Mängelrüge nicht an die Aufnahme adressieren, dann kommen mindestens noch folgende Produktionsumstände ins Spiel: In den frühen Stereozeiten der nicht sofort RIAA-konforme Plattenschnitt und die Geschichte um compatible stereo. Mit meinen Komponenten klingen spätere = anders abgemischte Neuauflagen nicht selten besser (= klarer/durchsichtiger) als die Originale. Zur CD-Zeit kann ich nicht soviel sagen - ich habe CDs/Aufnahmen, die klingen in der Tat wie von dir beschrieben, andere sind ohne Probleme goutierbar.
Die Betrachtung von Vinyl erfordert andere Aspekte als die CD. Damals, in den frühen Stereo-Jahren hat man im Massenmarkt Saphirnadeln am Kristalltonabnehmer betrieben, nach 50 Betriebsstunden wurden die abgeschliffenen Nadeln zur Rillenfräse und die Wiedergabe kreischte, die zerspanten Platten war Schrott. Es gab auch Magnetsysteme in den besseren Plattenspielern, die mit spärischer Diamantnadel erheblich besser, schonender mit der Platte umgingen. Für diese Rundnadel wurden bei den Plattenfirmen die vorhersehbare Abtastung vorausentzerrt, sowohl die Hochtonfrequenzgänge als auch die Nadelabrollung in der Rille berücksichtigt. Die Schneidemaschinen hatten eine große Varianz im Schneidwinkel. Richtig abtasten kann man die alten Stereoscheiben demnach nur mit sphärischen Nadeln, mit Elliptisch, Superelliptisch, FineLine, Paroc, MicroRidge,Namiki, vandenHul, und unter den heute üblichen 20° geht das eigentlich gar nicht.
Der Zeitgeist hat sich gewandelt, der Hörer sucht mehr Transparenz, Höhenlastigkeit, übertrieben bis zum Selbstzweck, ich würde sogar sagen, zur
Perversion. Ein realer Konzertbesuch könnte zum Vergleich hilfreich sein, diesen Irrweg zu verlassen.
Kleiner Tipp für die LP-Hörer, die DGGs nicht so mögen: Lautstärkepegel ein wenig hochfahren. DGGs brauchen meiner Erfahrung nach zumeist einen höheren Wiedergabepegel, um ihre Qualitäten zu entfalten. Decca z.B. macht es dem Hörer da in der Regel leichter.
Wenn man zuhause dieselben Pegel hört wie im Studio beim Mastering, werden die Kurven für
gehörrichtige Lautstärke mit etwas Glück weitgehend kompensiert, man hört dann so, wie der MasteringMeister es eingestellt hat.
Ein an dieser Stelle (Schwerpunkt Klassik) leider nicht ganz passendes Beispiel zum Thema Zeitgeist ist das Remaster von Fleetwood Mac Rumors im
Vergleich mit der früheren Version, da sind dann neben Kompression auch 10dB Bass-und 5dB Höhenanhebung erkennbar, das macht Sinn für alle, deren Tinnitus verlangt, dass diese Musik heute 20dB leiser gehört wird, als früher.
Nicht von der Hand zu weisen sind die über die letzten 60 Jahre entwickelten Verbesserungen und Annäherungen, geschaffene Standards und Normen, denen sich die Plattenfirmen unterworfen haben. Das sah vor 50 Jahren schlimm aus, jedes Label hatte seinen eigenenen Schneidwinkel, eventuell auch eigene Verzerrung (
Schneidkennlinie).
Die Freiheit des Aufnahmeingenieurs bezüglich der Mikrofonaufstellung bringt bis heute eine extreme Vielfalt, angefangen beim Blumlein Mikrofon bis hin zur Multiomikrofonaufnahme, die Eberhard
Sengpiel hier beschreibt und begründet.
Grüße Hans-Martin